Soll man de Sade feiern?

Quills - Macht der Besessenheit, ein Film von Philip Kaufman und Doug Wright

Quills - Macht der Besessenheit ist eine fiktionale Darstellung der letzten Tage des berüchtigten Marquis de Sade (1740-1814), des französischen Schriftstellers und Philosophen. Während seiner letzten Lebensjahre wurde de Sade in Charenton, einer Anstalt für Geisteskranke, gefangen gehalten. Der Film entwirft ein Drama, in dem zwei Figuren in Konflikt über de Sades Schicksal geraten: der Abbé Coulmier, eine zarte Seele und jemand, der an die menschliche Behandlung von geistig Gestörten glaubt, und Dr. Royer-Collard, ein Arzt, der von Napoleons Regime geschickt wurde, um de Sade zu "heilen" oder zum Schweigen zu bringen. Eine weitere Figur ist eine junge Wäscherin, Madeleine, die sich von der Erotik und dem finsteren Charme des Marquis angezogen fühlt.

Der Regisseur Philip Kaufman und der Autor des Drehbuchs und Stückes Doug Wright präsentieren de Sade als einen Wüstling und Pornographen, der für sein Recht kämpft, dass seine Werke erscheinen können. Als er entgegen den Anordnungen und mit Hilfe von Madeleine weiterhin seine Schriften aus der Anstalt schmuggelt, nimmt ihm der Abbé Papier und Stifte fort. De Sade verzweifelt. Aber ihm kommt die Idee, mit Wein auf Bettlaken und mit Blut auf seiner Kleidung zu schreiben. Schließlich, nachdem ihm seine Zunge herausgeschnitten wurde, schreibt er mit seinen Exkrementen auf der Wand. Der Kampf mit der Autorität bringt ihn um. Dies ist eine Geschichte über die Ununterdrückbarkeit von Kunst und Leidenschaft, die gleichgesetzt werden. Madeleine wird beiläufig geopfert, sie wird das Opfer der Leidenschaften, die de Sades Geschichten in einem Verrückten wecken. Royer-Collard bezahlt für seine Tyrannei, als seine junge Frau ihn wegen eines gutaussehenden Architekten verlässt. Der Abbé, der seine Gefühle für Madeleine unterdrückt hatte, wird über ihren Tod verrückt und ersetzt am Ende de Sade als Künstler und Geschichtenerzähler der Irrenanstalt.

Als erstes sollten wir fragen, ob es etwas ausmacht oder ausmachen sollte, dass der Film vom historischen Standpunkt grotesk und absurd ist, dass er in aller Ruhe die elementaren Tatsachen des Lebens und Charakters von de Sade verfälscht.

De Sade starb nicht im Kampf mit der Autorität, nachdem ihm die Zunge rausgeschnitten wurde - um mit dem lächerlichsten aller "dramatischen" Kniffe zu beginnen. (Es scheint unwahrscheinlich, dass dies eine geläufige Praxis im napoleonischen Frankreich war!) Folgendermaßen beschreibt Simone de Beauvoir in ihrem bekannten Essay "Soll man de Sade verbrennen?" seine letzten Tage: "Die Tatsache, dass Sade von nun an in der schriftstellerischen Arbeit den Sinn seines Lebens sieht, ist zweifellos die Ursache seines Wunsches, ein friedliches Alltagsleben zu führen. [...] Er übernimmt es, ein Stehgreifstück zu verfassen, dass anlässlich des Besuchs des Erzbischofs von Paris [in Charenton 1812] aufgeführt wird. Zu Ostern reicht er das geweihte Brot und sammelt in der Pfarrkirche Almosen. Wohl beweist sein Testament, dass er seinen Überzeugungen niemals abgeschworen hat, aber er war des Kampfes müde. "Er war höflich bis zur Unterwürfigkeit", schreibt [Charles] Nodier, "so liebenswürdig, dass es schon salbungsvoll wirkte, und er sprach achtungsvoll von Allem, was Achtung genießt. [...] Und doch starb er ruhig; am 2. Dezember 1814 raffte ihn "eine Lungenkongestion in Form von Asthma" dahin." (Er war außerdem zu diesem Zeitpunkt von gewaltiger Fettleibigkeit.)

Noch bedeutsamer ist, dass de Sade in Quills ein relativ leichtherziger Lustmolch und Pornograph ist, dem es nach drallen Wäscherinnen gelüstet und so weiter. Was immer man aus de Sade zu machen gedenkt, war er doch nicht so trivial oder, was das anbetrifft, in erster Linie "normalen" heterosexuellen Praktiken ergeben. Es ist fraglich, ob er so schrecklich an Sexualität als solcher interessiert war. Der französische Autor Georges Bataille beobachtet etwas melodramatisch, dass de "Sade, der sich von der Menschheit ausschloss, [...] in seinem langen Leben nur eine Beschäftigung (kannte), die ihn wirklich fesselte, nämlich bis zur Erschöpfung die Möglichkeiten aufzuzählen, Menschen zu zerstören, sie zu zerstören und den Gedanken an ihren Tod und ihr Leiden zu genießen." Wir werden auf diese Frage zurückkommen.

Wrights Methode, zu der die geringe Beachtung historischer und gesellschaftlicher Gegebenheiten gehört, ist zu einem gewissen Grad der postmodernistischen Verspieltheit geschuldet. Er beschreibt sie folgendermaßen: "Und bei der gegebenen Extremität seiner Prosa stellt Sade unvermeidbare und notwendige Fragen über das Wesen der Kunst selbst. Was ist ihre wahre Funktion in einer Kultur? Die Grundsätze der Gesellschaft aufrecht zu erhalten oder sie in Frage zu stellen? Zu vergewissern oder zu agitieren? Die Institutionen, die die Gesellschaft gestalten - die Regierung, die Kirche, zu stützen oder sie zu entlarven? Bringt politische Unterdrückung vielleicht eher provokative Kunst hervor als dass sie sie erstickt? Was passiert, wenn wir unsere Extremisten zum Schweigen bringen? Was passiert, wenn wir ihnen eine Stimme geben? Als ich begann Quills zu schreiben, waren diese Fragen für mich wichtiger als eine literarische, biografische Beschreibung von de Sades Leben. (Das echte Leben hat selten eine erzählerische und thematische Kontinuität, und es kann selten in zwei Stunden zusammengefasst werden. Darüber hinaus würde ich nie behaupten, dass der Sade, den ich beschwöre, ‘akkurat‘ sei. Unvermeidbar ist er ein Durcheinander von gesammelten Tatsachen und meinen eigenen Annahmen.) Also machte ich mir selbst ein Geschenk; das befreiende Konzept, das als ‘dichterische Freiheit‘ bekannt ist."

Wie bequem. Das Wort "akkurat" muss natürlich in Anführungsstriche gesetzt werden, sonst könnten wir zu dem Schluss kommen, dass Wright ein wenig nachlässig war oder einfach der Tatsache nicht gewachsen ist, eine historische Figur in ihrer Tiefe darzustellen.

Ist "dichterische Freiheit" ins Unendliche ausdehnbar? Darf man alles machen? De Sade ist eine historische Figur, die einige Resonanz fand. Wir wissen zum Beispiel, dass er mit dem Charakter im Film wenig gemeinsam hat. Es gibt einen qualitativen Punkt, von dem an die "dichterische Freiheit" Entstellungen und Verdrehungen beinhaltet und darauf Einfluss nimmt, wie die Menschen die Vergangenheit sehen. In Wrights Werk ist die Geschichte reduziert auf eine Sequenz von Zusammenstößen zwischen Individuen (Künstlern) einerseits, die frei zu handeln versuchen, und der Autorität auf der anderen Seite. Seine Sicht auf de Sade ist eine, aus der der revolutionäre und explosive Charakter der Zeit - mit all ihren Leiden und Opfern und Enttäuschungen und utopischen Möglichkeiten - größtenteils entfernt wurde. Diese Annäherung ermutigt nicht zum kritischen Denken; sie bestätigt nur die sexuell und künstlerisch "befreite" Mittelklasse in ihrer Selbstzufriedenheit.

In ihren Marquis de Sade haben Wright und Kaufman eine Figur eingebracht, die die Gegenbewegung gegen die Kultur der 1960-er Jahre repräsentiert. Royer-Collard ist ein Typ von der Sorte des Kenneth Starr, ein kalter und reaktionärer Spielverderber, der oberste Moralwächter. Die Nebenhandlung, die sich auf Royer-Collards Frau bezieht, ist absurd. Der scheinheilige Doktor holt sie aus einem Kloster und in ihrer Hochzeitsnacht tut er ihr brutale Gewalt an. Nachdem sie eines von de Sades Theaterstücken gesehen hat, ersteht sie eines seiner verbotenen Werke und fügt es in ihr Versbuch für Damen ein. Die Lektüre von Justine reicht offensichtlich aus, um sie in einen pochenden Ausbund an Sinnlichkeit zu verwandeln. Wenn solche Verwandlungen so schmerzlos vonstatten gingen, wenn Revolte so leicht zu erreichen wäre, wenn die Konsequenzen der Kunst so unmittelbar und ausschlaggebend wären ...

Die Fragen, von denen Wright sagt, dass er sie sich gestellt hat, sind in jedem Fall gerechtfertigt, wenn auch ein wenig banal, aber sie werden viel zu einfach beantwortet. Tatsächlich kennen wir die Antworten noch bevor wir im Kinosessel Platz genommen haben. Die Funktion der Kunst besteht darin, die Grundsätze der Gesellschaft in Frage zu stellen, zu agitieren, die Institutionen zu entlarven, die die Gesellschaft gestalten. Politische Unterdrückung bringt eher provokative Kunst hervor als dass sie sie erstickt. Wir bezahlen einen Preis, wenn wir unsere Extremisten zum Schweigen bringen; wir bezahlen auch einen Preis, wenn wir ihnen eine Stimme geben. Und so weiter und so fort. Gibt es hier irgendein überraschendes Moment, irgend etwas, dass jemanden überzeugt, der noch nicht überzeugt ist?

Ein Element des Protestes ist hier vorhanden, aber es ist schwach und verwässert. Der Punkt wird mehrmals hervorgehoben, beinahe als Drohung an die Mächtigen, dass, wenn gewalttätige und subversive Gedanken nicht erlaubt sind, sie eine gefährlichere Form annehmen können. Individuen sind gefährlich in ihren Vorstellungen oder ihrer literarischen Arbeit, also sind sie im alltäglichen Leben von dieser Verantwortung entbunden. Es stellt sich heraus, dass die Kunst nicht existierende Institutionen in Frage stellt, sondern ein relativ harmloser Ersatz dafür ist, ein Sicherheitsventil. Dieses Werk überzeugt einen nicht davon, dass die Kunst eine Rolle spielt bei der Umgestaltung der Realität.

Das Drama ist zu schwach. Innerhalb von zehn Minuten wissen wir alles über die Charaktere. De Sade ist ein geistreicher Mensch, ein Lebemann mit einer Spur von Verdorbenheit; Royer-Collard ist unendlich schurkisch; Coulmier ist gequält und unsicher; Madeleine ist unschuldig, aber aufdringlich und schelmisch. Der Film entpuppt sich als eine Reihe von Sequenzen, in denen die Macher die Charaktere manipulieren und sie zu Possen zwingen, um einem im wesentlichen immer gleichbleibenden und vorhersehbaren Werk den Anschein von Lebendigkeit zu geben.

Kaufmans Filmografie ist nicht besonders ermutigend. Konventionelle Actionfilme - Der große Minnesota-Überfall, Die weiße Dämmerung, ein Remake von Die Körperfresser kommen!, eine Adaption von Milan Kunderas Die Unerträgliche Leichtigkeit des Seins, Henry & June(über Henry Miller, seine Frau und Anais Nin) und der antijapanische Film Die Wiege der Sonne. Es ist schwer, ein starkes Thema in den Werken festzustellen, obschon offensichtlich ein Interesse an erotischem und unbestimmt oppositionellem Material vorhanden ist.

Quills beeindruckt nicht durch sein intellektuelles Gewicht. Ein Großteil der Zeit wurde für Kulissen und Kostüme eingesetzt und nicht genug mit dem Nachdenken über historische und moralische Fragen verbracht. Der Radikalismus ist oberflächlich. Er ist einer von der Sorte, dem grundlegend sorgenfreie Leute frönen, die sich über diese oder jene Tat der offiziellen Gesellschaft aufregen, aber nicht genug, um ihr Leben dem Widerstand gegen ihr Funktionieren zu widmen.

Und es stellt sich eine damit verbundene und noch beunruhigendere Frage. Es muss festgehalten werden, dass sowohl Kaufmans Film wie auch Benoît Jacquots jüngster Sade, auch wenn sie sich in Ton und Substanz stark unterscheiden, beide davon ausgehen, es sei "allgemein akzeptiert", dass die Französische Revolution einfach ein Gräuel, eine Katastrophe war. Das Werk von Kaufman/Wright beginnt mit einem ausgedehnten Vorspann, in dem eine junge Frau für die Guillotine vorbereitet wird. Die Leinwand verfärbt sich rot von Blut, der Film beginnt. De Sades Kampf für Freiheit ist rein individuell. Die Massen, die man zu Beginn des Films um die Guillotine herum geifern und brüllen sieht, sind ein erbärmlicher Haufen und eine allgemeinere Befreiung steht völlig außer Frage. Dies ist der Punkt, an dem eine Sorte der "Protestpolitik" angelangt ist.

Peter Weiss‘ Stück Marat/Sade(1964, verfilmt von Peter Brook 1966) nahm einen anderen Standpunkt ein. Es besteht aus einer fortwährenden Debatte zwischen de Sade und dem französischen Revolutionär Jean-Paul Marat. Letzterer spricht vom Terror:

Was jetzt geschieht ist nicht aufzuhalten

was haben sie nicht alles ertragen

ehe sie Rache nehmen

Ihr seht jetzt nur diese Rache

und denkt nicht daran dass ihr sie dazu triebt

Jetzt jammert ihr als verspätete Gerechte

über das Blut das sie vergießen

doch was ist dieses Blut gegen das Blut

das sie für euch vergossen haben

in euren Raubzügen und Tretmühlen

Was sind die Opfer die jetzt gebracht werden

gegen die Opfer die sie brachten

um euch zu ernähren

Was sind ein paar geplünderte Häuser

gegen die Ausplünderung unter der sie verkamen

De Sade antwortet:

Und dieser Tod besteht nur in der Einbildung

und wir stellen ihn uns vor

die Natur kennt ihn nicht

Jeder Tod auch der grausamste

ertrinkt in der Gleichgültigkeit der Natur

Nur wir verleihen unserm Leben irgendeinen Wert

die Natur würde schweigend zusehen

rotteten wir unsere ganze Rasse aus

Und so weiter. Weiss hat vielleicht kein perfektes Theaterstück geschrieben, aber es ist doch hundert Mal ernsthafter als die jüngsten Versuche.

Wright macht aus de Sade einen alternden Lebemann. Er verdreht die Geschichte, um seine ziemlich beschränkten Ansichten unterzubringen.

Aber was ist mit der wirklichen Figur de Sade und der Verblendung von Intellektuellen in seinem Jahrhundert, die, wie wir annehmen, Kaufman und Wright mit ihrer Figur reflektieren, und sei es in einer flachen und relativ respektablen Form?

De Sade wurde im 20. Jahrhundert wieder entdeckt. Sein Hauptwerk, Die 120 Tage von Sodom, wurde erst in den 1930-er Jahren vollständig veröffentlicht. In Frankreich brachte der Dichter Guillaume Apollinaire den Stein ins Rollen, als er de Sade zum "freiesten Geist, der je gelebt hat", ausrief. Die Surrealisten nahmen dies auf und gaben ihm, logischerweise, das Etikett "Surrealist im Sadismus". Als André Breton 1940 einen Auszug aus Juliette in seiner Anthologie des schwarzen Humors veröffentlichte, war er irgendwie noch vorsichtig und beschrieb de Sades Schriften "in psychologischer Hinsicht" als "den echtesten Vorläufer jenes (Werkes) von Freud und der ganzen modernen Psychopathologie". Er und Trotzki hatten bei einer ihrer Diskussionen in Mexiko zur Einschätzung von de Sade Meinungsverschiedenheiten gehabt.

In der Nachkriegsära, unter Bedingungen der Enttäuschung über die großen gesellschaftlichen Projekte, die Massen von Menschen in der ersten Hälfte des Jahrhunderts begeistert hatten, fand de Sade einige seiner ergebensten Verteidiger - Pierre Klossowski, Georges Bataille, Simone de Beauvoir.

Im typischen Stil der französischen Rationalisten findet keiner dieser Autoren ein Mittel, um de Sade richtig einzuordnen. Ein Großteil ihrer Antworten sind Posen, und zwar vorhersehbare. Die Autoritäten sagen A - de Sade sei ein Monster, sein Werk müsse verboten werden; wir sagen B - er ist ein Genie, ein Befreier, ein Märtyrer. Es könnte jedoch der Fall sein, dass man de Sade weder verbrennen noch feiern sollte.

Seine Schriften sind generell abstoßend. In Die 120 Tage von Sodom beispielsweise, das in 37 Tagen in der Bastille geschrieben wurde, verletzen, foltern und ermorden vier Wüstlinge Dutzende ihrer Opfer in einer abgelegenen Festung. Bataille gesteht: "Die Phantasien Sades gehen oft so weit, dass sie die härtesten Fakire abgeschreckt hätten. Es wäre Angeberei, wenn jemand behauptete, er beneide das Leben der Wüstlinge von Sillin [in Die 120 Tage von Sodom]". De Beauvoir, die Existentialistin, schreibt: "Selbst seine Bewunderer geben freimütig zu, dass seine Schriften größtenteils unlesbar sind; zwar sind sie, philosophisch gesehen, nicht eben banal, doch dafür ohne jeden Zusammenhang. Auch seine Laster setzen keineswegs durch ihre Originalität in Erstaunen; in dieser Hinsicht hat Sade nichts erfunden, und in psychologischen Abhandlungen begegnet man zahlreichen mindestens ebenso merkwürdigen Fällen wie dem seinen."

De Sade war offensichtlich beeinflusst vom Materialismus des 18. Jahrhunderts und teilte die Ansichten des französischen Philosophen La Mettrie, der sich den ethischen Dimensionen menschlichen Handelns gegenüber indifferent zeigte: "Wenn wir dem Drang der uns leitenden ursprünglichen Bewegungen folgen", schrieb La Mettrie, "sind wir nicht verbrecherischer, als der Nil es mit seinen Überschwemmungen und das Meer es mit seinen Wogen ist." De Sade behauptete, dass die Natur voller Hass und Zerstörung ist und dass er, wenn er seinen Instinkten folge, sie bloß imitiere. Er verglich sich mit Pflanzen, Tieren und den Elementen: "In den Händen der Natur bin ich nur eine Maschine, die sie nach ihrem Belieben in Bewegung setzt." Die Natur "möchte alle ins Leben gerufenen Geschöpfe vollkommen vernichten, um sich der ihr eigenen Möglichkeit zu erfreuen, neue Geschöpfe entstehen zu lassen." Der Triumph des Starken über den Schwachen sowie die Effektivität und Zwangsläufigkeit brutaler Gewalt sind bloß Ergebnisse der natürlichen Ordnung. Es gibt nichts schrecklich Originelles und erst recht nicht Attraktives in dieser Art der Verteidigung von Grausamkeit und Tyrannei, die sich auf die Natur beruft.

Was also findet de Beauvoir an ihm interessant? Dass de Sade "sich bemüht, sein leibseelisches Schicksal in eine ethische Wahl zu verwandeln." Später schreibt sie: "Stärker als seine Anomalien interessiert uns an ihm die Art und Weise, wie er diese Folgen auf sich genommen hat. Aus seiner Sexualität hat er eine Ethik gemacht, und diese Ethik hat er in einem literarischen Oeuvre dargelegt. Durch diese wohlüberlegte Maßnahme als Erwachsener hat Sade seine eigentliche Originalität gewonnen." De Beauvoir behauptet, nicht der Inhalt von den Ideen de Sades würde sie bewegen, sondern bloß seine "Aufrichtigkeit" und "Eigentlichkeit". Sie assoziiert seinen Namen mit dem Anarchisten-Egoisten Stirner und den deutschen Philosophen Nietzsche und Heidegger. "Sade gehört zu der großen Familie jener Menschen, die jenseits der "Banalität des Alltagslebens" eine dieser Welt immanente Wahrheit finden wollten."

Aber auf einer gewissen Ebene stimmt sie mit ihm überein. Universelle Gesetze wie auch Überlegungen und Versuche jeder Art, die Welt neu zu gestalten, sind betrügerisch und führen in die Katastrophe. "Sicherlich findet er [de Sade] deshalb heute [1951] ein so starkes Echo, da sich der Einzelne als das Opfer weniger der Bosheit als des guten Gewissens seiner Mitmenschen weiß", schreibt de Beauvoir. Das Universum setzt sich zusammen aus vereinzelten Daseins, die voneinander getrennt und isoliert sind. Sie schreibt: "In jedem Augenblick leiden und sterben Tausende von Menschen vergeblich, ungerechterweise, und doch rührt uns das nicht an: Nur um diesen Preis ist unser Dasein überhaupt möglich." Die einzige Wahrheit ist individuell, subjektiv: "Für ihn gelten nur die Wahrheiten, die ihm seine gelebte Erfahrung offenbart." Und dieses Juwel: "Letzten Endes ist der Inhalt der Erfahrung bedeutungslos; was zählt, ist lediglich die Absicht, die der Mensch in diese Erfahrung hineinlegt."

"Bei Sade geht es darum, das Dasein durch eine individuelle Entscheidung wiederzuerlangen", eine Entscheidung, deren Inhalt unwesentlich ist; Aufrichtigkeit; die eigene Obsession zum Prinzip erheben - de Beauvoir könnte irgendwen beschreiben, auch einen faschistischen Denker oder Künstler. Der deutsche militaristisch-nationalistische Autor Ernst Jünger war zweifellos eine sehr aufrichtige Figur.

Die Frage ist nicht, ob de Sades Werk aufrichtig ist, sondern ob es wahr ist. Ist es wahr, dass es "nur eine einzige Wirklichkeit (gibt): den in sich eingeschlossenen Menschen, den Feind eines jeden, der ihm seine Souveränität streitig machen will" (de Beauvoir)? De Sade und de Beauvoir ignorieren die Wirklichkeit, dass menschliche Wesen ihr Leben nicht direkt in der Natur führen, sondern vermittelt durch die Gesellschaft, und dass die Gesellschaft, wie jede Form des Seins, ihre bestimmten, eigenen qualitativen Gesetze hat, die mit niederen Formen des Seins nicht identisch sind. Die Gesellschaft, und auch die französische Gesellschaft des 18. Jahrhunderts, ist nicht ein Spiegel der rohen Natur, sondern eine radikale Transformation derselben, ein Affront gegen die Natur. De Sade entschloss sich aus seinen eigenen Gründen in einer revolutionären Zeit dazu, die Möglichkeiten und Potenziale dieser Revolution größtenteils zu ignorieren. Er wollte so weitermachen wie zuvor. Das empfiehlt ihn uns nicht als Philosophen.

Obwohl er sich nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis im Jahre 1790 der Revolution für kurze Zeit anschloss, stand de Sade der Gleichmacherei und Demokratie im Grunde seines Herzens feindlich gegenüber. Seinem Gefühl nach war eine Gesellschaft, die auf Solidarität und Tugend beruhte, eine Verleugnung der Natur. Er nahm Nietzsche vorweg, als er meinte, dass das Ergebnis nur Stagnation und Trägheit sein könnte. Zweifellos fühlt sich ein bestimmter Typus des Intellektuellen von folgender Behauptung angezogen: "Nichts ist für mich wahr, was nicht in meiner Erfahrung beschlossen ist, und da ihr die eigentliche Gegenwärtigkeit des Anderen entgeht, betrifft mich diese auch nicht" (de Beauvoirs Interpretation) - aber dies ist eine Auffassung, die wir zurückweisen.

De Sade ist eine Figur, die durch Bösartigkeit fasziniert, ein atheistischer Wüstling, ein aristokratischer Materialist, ein Erzähler der schlimmsten Fantasien. Jemand musste all die schrecklichen Gedanken aufschreiben, wozu die Menschheit fähig ist.

De Sade, der Verfluchte, ein Aristokrat zu Beginn des bürgerlichen Zeitalters, der 27 Jahre seines Lebens im Kerker verbrachte (sechs davon in der Bastille), nahm sich dieser Aufgabe an. Als eine Verkörperung der Psychopathologie bleibt er von Interesse. Aber sollte man ein positives Programm aus solchen Albträumen oder ihrer "Aufrichtigkeit" machen? Und dies dann für den höchsten Ausdruck der Freiheit halten? Nein, das bedeutet sich angesichts der Schwierigkeiten unserer Zeit zu leicht geschlagen zu geben.

Literaturangaben:

Simone de Beauvoir: "Soll man de Sade verbrennen?", Hamburg 1983.

Georges Bataille: "Die Literatur und das Böse", München 1987.

Peter Weiss: "Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade", Frankfurt a.M. 1967.

André Breton: "Anthologie des schwarzen Humors", München 1972.

Siehe auch:
Ein Kommentar zu Quills und dem Marquis de Sade
(21. Februar 2001)
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