Rot-grün besiegelt Ende des Sozialstaats

Der 19. Dezember 2003 wird als der Tag in die Nachkriegsgeschichte eingehen, an dem eine rot-grüne Bundesregierung im Einvernehmen mit den Oppositionsparteien CDU/CSU und FDP das Ende des deutschen Sozialstaats besiegelt hat.

Von den insgesamt 15 Gesetzen, die an diesem Tag im Bundestag verabschiedet wurden, beschneiden mindestens zehn direkt oder indirekt die sozialen Ansprüche der arbeitenden Bevölkerung.

Selbst in der Weimarer Republik hatte es keine Regierung gewagt, an der bestehenden Sozialgesetzgebung dermaßen unverantwortlich die Axt anzulegen. Die Unterwürfigkeit sämtlicher SPD- und Grünen-Politiker samt ihres linken Flügels gegenüber den Wirtschaftsverbänden und dem Drängen der Konservativen hat obszöne Formen angenommen. Millionen Menschen, vor allem Arbeitslose, Jugendliche und Rentner, werden durch die beschlossenen "Reformen" ins soziale Abseits gestellt.

Selbst die Behauptungen von Regierung und Opposition, die Steuerreform sei ein erster wichtiger Schritt gegen die Arbeitslosigkeit und entlaste vor allem diejenigen mit geringerem Einkommen, entpuppen sich als reine Augenwischerei.

Zwar werden auch die Steuersätze der unteren und mittleren Einkommen gesenkt, der Eingangssteuersatz dabei von 19,9 auf 16 Prozent. Doch gleichzeitig fressen die steigenden Ausgaben, verursacht durch die Gesundheits- und Rentenreform sowie viele andere Kürzungsmaßnahmen, das wenige mehr im Geldbeutel rasch wieder auf.

Um nur einige neue Belastungen für Arbeitnehmer zu nennen: Der Sparerfreibetrag wird gesenkt, ebenso die Arbeitnehmersparzulage. Die Pendlerpauschale und Eigenheimzulage wird reduziert, die Tabaksteuer wird drastisch angehoben.

Die Reichen und Vermögenden profitieren dagegen erneut durch die Absenkung des Spitzensteuersatzes von 48,5 auf 45 Prozent und eine ganze Reihe weiterer Vergünstigungen. Versicherungskonzerne erhalten z.B. Steuergeschenke, weil sie ihre Verluste aus Aktiengeschäften und Beteiligungsgesellschaften steuermindernd absetzen können.

Millionäre, die in den vergangen Jahren ihr Geld vor dem Fiskus im Ausland versteckt hatten, werden amnestiert. Sie kommen straffrei davon, wenn sie bis Ende 2004 ihr Schwarzgeld mit dem ermäßigten Steuersatz von 25 Prozent nachversteuern. Wirtschaftskrimineller, was willst du mehr?

Noch nicht einmal eine moderate Vermögens- oder Erbschaftssteuer wagte die Regierung in Erwägung zu ziehen. Bundeskanzler Gerhard Schröder stellte im Laufe der Debatte über die Reformen, die er im März 2003 mit seiner Agenda 2010 einleitete, mehrmals klar, dass seine Regierung ausschließlich den Interessen der Wirtschaft verpflichtet sei. Jeder Hauch von Opposition innerhalb des Regierungslagers wurde im Ansatz erstickt. Dies bedurfte allerdings keines nennenswerten Aufwands. Einige Rücktrittsdrohungen des Kanzlers reichten aus, um vereinzelte Bedenkenträger in der SPD-Fraktion und in den Gewerkschaften ruhig zu stellen.

Die regierungsfreundliche Wochenzeitung Die Zeit frohlockte unter der Überschrift "Deutschland kennt keine Parteien mehr - und setzt sich in Bewegung": "Das Vermittlungsdrama im Bundesrat war tatsächlich eine Zäsur". Sie suggerierte dann, es habe ein "kollektiver Bewusstseinswandel" in Deutschland stattgefunden, der solche "einschneidende Maßnahmen" als "unabweisbar" anerkannt hätte.

Des Weiteren bescheinigt Die Zeit der Sozialdemokratie ihre unersetzliche Rolle bei der Durchsetzung dieses rücksichtslosen Sozialabbaus, der gerne als "Reformprojekt" verkauft wird. Sie macht dazu folgende treffende Bemerkung: "Nicht in jedem Detail, wohl aber in der Richtung entspricht das verabschiedete Paket ohnehin den Vorstellungen der Union... Doch wie seinerzeit die Grünen in der Frage militärischer Intervention, so ist es nun die SPD, die mit ihren öffentlichen Konflikten den Mentalitätswandel vorantreibt."

Die Maßnahmen im einzelnen

Die gravierendsten Folgen werden die Reformen am Arbeitsmarkt haben.

An erster Stelle steht dabei die Verschärfung der Zumutbarkeitsregelung für Arbeitslose. Langzeitarbeitslose müssen ab 2005 jeden legalen Job annehmen. Der Lohn kann dann weit unter Tarif liegen, auch Stundenlöhne von 1 oder 2 Euro sind erlaubt. Diese Regelung zielt bewusst darauf ab, der Wirtschaft massenhaft Billiglohnarbeiter zur Verfügung zu stellen. Unternehmen erhalten so die legale Möglichkeit, bestehende tarifgebundene Arbeitsplätze in unterbezahlte Jobs umzuwandeln. Um dies noch zu beschleunigen, wurde auch der Kündigungsschutz gelockert. Er gilt nur noch für Betriebe mit mindestens zehn Beschäftigten.

Auf verlangen der Union verzichtete die Regierungskoalition sogar darauf, zumindest einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen, wie er in vielen Ländern existiert. Gut ausgebildete Fachkräfte werden sich also demnächst mit arbeitslosen Akademikern um schlecht bezahlte McDonald-Jobs schlagen müssen.

Noch vor wenigen Monaten hatten sich die Spitzenpolitiker von SPD und Grünen in Lippenbekenntnissen geübt, man wolle keinesfalls amerikanische Verhältnisse schaffen. Doch genau dies wurde im Parlament beschlossen. Lohndumping und Lohndrückerei werden Tür und Tor geöffnet. Die noch bestehenden Flächentarifverträge, die über Jahrzehnte für ein einigermaßen stabiles Lohngefüge sorgten, haben ausgedient.

Neben der Zumutbarkeitsregelung wurden auch die Voraussetzungen für den Bezug von Arbeitslosengeld drastisch verschärft.

Ab 2005 wird die Bezugsdauer generell auf zwölf Monate beschränkt. Danach erhält der Arbeitslose das neue Arbeitslosengeld II. Es handelt sich um eine Zusammenlegung der ursprünglichen Arbeitslosenhilfe mit der Sozialhilfe. Der Regelsatz liegt dann auf Sozialhilfeniveau und beträgt 345 Euro in West- und 331 Euro in Ostdeutschland. Wer länger als zwölf Monate arbeitslos ist, gilt als Langzeitarbeitsloser und muss grundsätzlich jede Arbeit annehmen, auch Minijobs, Hilfs- oder Teilzeitarbeiten. Wer dies ablehnt, bekommt kurzerhand seine Leistung gekürzt oder ganz gestrichen - wie es für Jugendliche generell vorgesehen ist.

Rentner erhalten dieses Jahr erstmalig seit Bestehen der Bundesrepublik keine Erhöhung ihrer Bezüge. Für Neurentner wird die monatlich Rentenauszahlung auf Ende des Monats umgestellt. Neurentner, die Direktversicherungen abgeschlossen oder in private Pensionskassen einbezahlt haben - also das befolgt haben, was jahrelang propagiert wurde - müssen mit fünfstelligen Einbußen rechnen, weil sie bei künftigen Einmalauszahlungen für Sozialbeiträge herangezogen werden.

Weiterer Sozialabbau

Kaum waren diese Angriffe auf soziale Errungenschaften und Rechte von über 96 Prozent der Bundestagsabgeordneten beschlossen, sprachen alle Spitzenpolitiker von einem "guten Tag für Deutschland". Jetzt sei der Bann gebrochen und man könne endlich weitere Entlastungen für die Wirtschaft durchsetzen. Oder, wie Gesundheitsministerin Ulla Schmidt, bekannt für ihre desaströse Gesundheitspolitik, sogleich beschwor: "Nach der Reform ist vor der Reform."

Eine besonders feige und widerwärtige Rolle bei der Umsetzung der"Agenda 2010" spielten die Gewerkschaften. Im Frühjahr 2003 hatten einzelne Gewerkschaftsführer noch Widerstand angekündigt, in der Hoffnung, sie könnten "ihren Gerhard" dazu bewegen, nicht alles auf einmal abzuschaffen. Als sie dann feststellen mussten, dass die rot-grüne Regierung zu keinerlei Zugeständnissen bereit war, krochen sie zu Kreuze und bliesen alle Proteste ab.

Insbesondere die als links stehend geltenden Gewerkschaftsfunktionäre - wie der grüne Verdi-Vorsitzende Frank Bsirske - die die "Agenda 2010" gelegentlich als "sozial unausgewogen" angeprangert hatten, zogen es vor, mit der Regierung in einen "konstruktiven Dialog" zu treten. Eine bundesweite Demonstration gegen den Sozialabbau am 1. November in Berlin wurde von sämtlichen DGB-Gewerkschaften boykottiert. Das trotzdem über 100.000 daran teilnahmen, ist ein deutliches Anzeichen für eine wachsende soziale Bewegung gegen die herrschende Politik.

Die rot-grüne Regierung lässt sich von der konservativen Opposition, den Wirtschaftseliten und den ihnen ergebenen Medien vor sich hertreiben. Dieses Phänomen ist nicht auf Deutschland beschränkt, sondern hat weltweit alle sozialdemokratischen Regierungen ereilt. Die Ursache dafür ist in der tiefen Krise der kapitalistischen Weltordnung zu suchen, die keinen Platz mehr für eine Politik des sozialen Ausgleichs lässt.

Eine wirksame Politik zur Verteidigung der sozialen und demokratische Rechte erfordert eine grundlegende Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums. Die Interessen der breiten Bevölkerung in jedem Land können nur auf der Grundlage einer Neuordnung des Wirtschaftslebens bewahrt werden. Diese Politik setzt eine breite politische Bewegung von unten voraus und den Aufbau einer neuen Arbeiterpartei.

Siehe auch:
Eine politische Antwort auf Sozialabbau und Krieg
(31. Oktober 2003)
Die politischen Aufgaben im Kampf gegen die Agenda 2010
( 16. Mai 2003)
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