Staatsbürgerschaft und Verfassungstreue

Ein kritischer Blick auf das neue Staatsbürgerschaftsrecht

Seit Jahresbeginn haben die Medien in ihrer Berichterstattung über die rot-grüne Bundesregierung einen merklich neuen Ton angeschlagen. Vorbei sind die Klagen über "Fehlstart", "Konzeptlosigkeit", "Kompetenzgerangel" und "Führungsschwäche" des SPD-Kanzlers.

Anders in der Bevölkerung. Dort haben die ersten hundert Regierungstage eine nachhaltige Ernüchterung ausgelöst. Angetreten mit dem Anspruch, vor allem die Arbeitslosigkeit abzubauen, reagierten Kanzler und Finanzminister auf das drastische Ansteigen der Arbeitslosigkeit im Januar genauso wie früher die Kohl-Regierung. Sie kündigten Sparmaßnahmen und Kürzungen auch im Sozialbereich an und machten deutlich, daß sie keine anderen Antworten haben als ihre konservativen Vorgänger.

Nicht nur Ernüchterung, sondern regelrechte Empörung rief die uneingeschränkte Unterstützung der Bombardierung des Irak hervor. Viele, die von dem grünen Außenminister Fischer oder einem anderen Spitzenpolitiker der ehemals pazifistischen Organisation Widerstand oder auch nur ein Wort des Protests erwartet hatten, waren von deren krassem Opportunismus angewidert.

Der neue Medienbeifall für die Regierung konzentriert sich gegenwärtig vorwiegend auf den Gesetzentwurf zur Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft. Diese Gesetzesinitiative sieht vor, daß Ausländer bereits nach acht Jahren rechtmäßigen Aufenthalts in Deutschland einen Anspruch auf Einbürgerung haben (bislang erst nach 15 Jahren), Minderjährige schon nach fünf und ausländische Ehepartner schon nach drei Jahren. Ein ausländisches Kind, das hier zur Welt kommt und dessen Vater oder Mutter entweder hier geboren wurde oder bereits als Kind eingewandert ist, soll mit der Geburt deutscher Staatsbürger werden.

Gegenwärtig leben in Deutschland 7,4 Millionen Ausländer, knapp die Hälfte bereits seit über 15 Jahren. Doch die Einbürgerungsrate ist sehr gering, denn wer bisher einen deutschen Paß erhielt, mußte seinen alten abgeben. Das soll sich mit der doppelten Staatsbürgerschaft nun ändern.

Diese Gesetzesinitiative hat eine heftige Kontroverse ausgelöst. Die Oppositionsparteien CDU und CSU laufen Sturm. Sie sammeln Unterschriften, organisieren eine regelrecht hysterische Propagandakampagne, appellieren an dumpfe Ängste und schüren rassistische Stimmungen. Offen neofaschistische Parteien und Skinheads haben sich dieser reaktionären Kampagne angeschlossen.

Auf der anderen Seite wird der Gesetzesentwurf über den Klee gelobt und als "Jahrhundertwerk" ( Die Zeit) oder "historische Neuorientierung" ( Süddeutsche Zeitung) gefeiert. Der Fraktionschef der Grünen im Bundestag, Rezzo Schlauch, bisher vor allem durch Clownereien und Stuttgarter Stammtischgeschwätz aufgefallen, sprach von einem "absoluten Quantensprung". Die rot-grüne Regierung habe damit in den ersten 100 Tagen einen "Markstein" gesetzt.

Was ist nun wirklich von der Gesetzesinitiative zu halten, die der SPD-Innenminister Otto Schily Mitte der Woche der Öffentlichkeit vorlegte, und die bis zum Sommer im Bundestag verabschiedet werden soll?

Zunächst gilt es festzustellen, daß die Neuregelung eine grundlegende und fortschrittliche Reform des Staatsbürgerrechts auf den Weg bringen könnte. Sie leitet eine Abkehr von dem überkommenen Grundsatz ein, daß Deutsche nur von deutschem Blute sind. Dieses Abstammungsrecht hat hierzulande eine lange Tradition. "Deutschland war vor knapp 200 Jahren ein buntscheckiges Allerlei aus Reichen, Fürstentümern, Klein- und Kleinststaaten. Ein Staatsvolk ließ sich nur herstellen, indem man an die Zugehörigkeit zu einem Volksstamm, dessen Tradition und Kultur anknüpfte," erläutert Die Zeit in einem Dossier ihrer jüngsten Ausgabe.

Während die bürgerlichen Revolutionen in Amerika und Frankreich mit der Erklärung der Menschenrechte schon vor über 200 Jahren das Territorialprinzip einführten und alle im Land geborenen Menschen als Staatsbürger betrachteten, stützte sich das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht von 1913 - das in seinen Grundzügen bis heute Gültigkeit hat - auf das preußische Untertanengesetz von 1842. Darin war ausdrücklich festgelegt, daß nicht der Wohnsitz allein, sondern die Abstammung "die Eigenschaft als Preuße" begründet. Eine Änderung dieser völlig veralteten und reaktionären Rechtsgrundlage wäre sehr zu begrüßen.

Doch weder diese fortschrittliche Seite noch der Widerstand der Rechten darf den Blick auf die weiteren Maßnahmen verstellen, die mit dieser Gesetzesänderung eingeleitet werden. Um sich gegen die Angriffe der Rechten zu verteidigen, betonte Schily, daß die geplante Neuregelung einige Verschärfungen gegenüber den bisherigen Einbürgerungsbestimmungen enthalte. Und das stimmt!

Einbürgerungswillige müssen nicht nur wie bisher Sprachkenntnisse nachweisen, sondern ihre Verfassungstreue unter Beweis stellen. Sie müssen eine Erklärung unterschreiben, daß sie die Verfassung der Bundesrepublik anerkennen. Dieses Papier habe Rechtskraft, betonte der Innenminister. Sollte sich später herausstellen, daß dies nicht der Wahrheit entspreche, sei die Einbürgerung nichtig.

Diese Verknüpfung von Staatsbürgerschaftsrecht und Verfassungstreue wirft grundlegende Fragen auf.

Was ist unter "Verfassungstreue" zu verstehen? Seit der Verabschiedung des Grundgesetzes 1949, das nie einer Volksabstimmung vorgelegt wurde, haben unterschiedliche Regierungen über hundert Änderungen dieses Verfassungstextes durchgeführt. Mit anderen Worten: Verfassungstreue bedeutet im wesentlichen Loyalität gegenüber der jeweiligen Regierung, die ihr Handeln durch die Verfassung legitimiert oder die Verfassung nach ihren Vorstellungen ändert.

Wenn die Regierung mit diesem Gesetz die Frage der Staatsbürgerschaft von der politischen Gesinnung abhängig macht, wo bleibt dann das Grundrecht der Gesinnungsfreiheit? Wie oft haben Sozialdemokraten und Grüne die Worte von Rosa Luxemburg im Munde geführt, wonach Freiheit immer die Freiheit des Andersdenkenden bedeutet?

Als erfahrener Rechtsanwalt weiß Otto Schily, daß derartige Gesetzesgrundlagen weitreichende juristische und politische Konsequenzen haben. Wenn ein Ausländer die Verfassungserklärung unterschreibt und daraufhin die deutsche Staatsbürgerschaft annimmt, später aber - aus welchem Grund auch immer - diese Erklärung als unwahr bezeichnet wird, dann verliert ein deutscher Staatsbürger auf Grund seiner politischen Gesinnung seine Staatsbürgerschaft.

Das ist eine völlig neue Situation. Bisher haben nur Diktaturen die Staatsbürgerrechte von der politischen Loyalität und Regimetreue abhängig gemacht und politischen Opponenten die Staatsbürgerschaft entzogen.

Wer behauptet, die Verfassung stehe über der Gesellschaft und lege die grundlegenden Prinzipien fest, nach denen die Gesellschaft funktioniere, stellt die Dinge auf den Kopf. Nicht die Verfassung bestimmt die gesellschaftliche Realität, sondern umgekehrt. Kaum ein Gesetzestext ist derart abstrakt, allgemein, vieldeutig und realitätsfern, wie das Grundgesetz. So wird in einem der bekanntesten Artikel noch immer die Sozialbindung des Eigentums festgeschrieben, während tagtäglich auf allen Ebenen politische Entscheidungen im Sinne des "Shareholder value" getroffen werden, d.h. ausschließlich vom Standpunkt der Profitmaximierung.

Schilys Forderung nach Überprüfung der Verfassungstreue erinnert fatal an den Radikalenerlaß der frühen siebziger Jahre und geht sogar darüber hinaus. Damals hatte Willy Brandt große soziale und demokratische Reformen angekündigt und die Parole ausgegeben: "Mehr Demokratie wagen!" Gleichzeitig erließ seine Regierung einen Erlaß, wonach alle Beschäftigten im öffentlichen Dienst auf ihre Verfassungstreue überprüft werden mußten. Viele Beamte und Angestellte, darunter viele Lehrer, erhielten damals auf Grund ihrer politischen Überzeugung Berufsverbot.

Woher kommt es, daß die Sozialdemokraten - kaum daß sie an der Macht sind - wieder die alte Gesinnungsschnüffelei anstreben?

In den anderthalb Jahrzehnten der Kohlregierung mußten die Arbeiter und große Teile der Bevölkerung - nicht nur in Deutschland - ständige Rückschläge hinnehmen. Kohl, Rexroth, Waigel & Co. gingen davon aus, daß der Widerstand der Arbeiter eine zu vernachlässigende Größe im politischen Handeln sei. Die Wahlen im vergangenen Herbst und die Tatsache, daß in nahezu allen europäischen Ländern die konservativen Regierungen mit ihren Sparprogrammen gescheitert sind und sozialdemokratische Parteien die Macht übernommen haben, sind ein deutliches Anzeichen dafür, daß sich die Arbeiterklasse in der politischen Arena zurückmeldet. Die Sozialdemokraten fürchten das. Aus ihrer eigenen Geschichte und politischen Erfahrung kennen sie die gesellschaftliche und politische Macht der Arbeiter. Ähnlich wie früher die stalinistischen Regime versuchen sie daher, in den Köpfen herumzuschnüffeln, um jeden oppositionellen Gedanken und Widerstand frühzeitig zu erkennen und zu unterdrücken.

Noch eine weitere Veränderung mit möglicherweise weitreichenden Auswirkungen ist in Schilys Reformpaket versteckt. Wer Sozialhilfe oder Arbeitslosenhilfe bezieht, wird von der Einbürgerung strikt ausgeschlossen. Das ist nicht nur unsozial, sondern wirft erneut Grundsatzfragen auf.

In vielen Bundesländern ist die Arbeitslosigkeit unter Ausländern doppelt so hoch wie unter Deutschen. Das hängt damit zusammen, daß Fremdarbeiter seinerzeit in den alten Industrien angeworben wurden, die in den vergangenen Jahren höchste Entlassungszahlen zu verzeichnen hatten. Auch der Anteil der Sozialhilfeempfänger ist auf Grund der Langzeitarbeitslosigkeit unter Ausländern überdurchschnittlich hoch. Wenn diesen Menschen, die in der Regel ohne eigenes Verschulden auf Sozial- und Arbeitslosenhilfe angewiesen sind und darauf auch einen rechtlichen Anspruch haben, ein grundlegendes demokratisches Recht vorenthalten wird, wie steht es dann mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz?

Unabhängig davon, daß diese Regelung ausschließlich Ausländer beträfe, würde damit zum ersten Mal in einem Gesetz festgeschrieben, daß Sozialhilfeempfänger ihren Anspruch auf demokratische Grundrechte verlieren. Welche Konsequenzen hat das? Wie lange wird es dauern, bis auch deutschen Sozialhilfeempfängern die Bürgerrechte aberkannt werden?

Schon jetzt werden Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger tagtäglich als Bürger zweiter Klasse behandelt. Statt dieser Entwicklung entgegenzuwirken, würde sie durch diese Regelung vertieft und gesetzlich zementiert.

Es ist also nicht alles Gold, was glänzt an Schilys neuem Einwanderungsgesetz. Und es wäre nicht zum ersten Mal, daß hinter der schillernden Fassade einer "großen Reform" unter Beifall und Bravorufen der Medien einige scharfe und weitreichende Angriffe auf demokratische Rechte durchgesetzt werden.

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