Die gestohlene Jugend

Die neue Shell-Jugendstudie 2000

In der vergangenen Woche hat die Präsentation der neuen Shell-Jugendstudie durch mehrere Aspekte für Aufsehen gesorgt. Insbesondere das Ergebnis, dass trotz aller gesellschaftlichen Umbrüche die Jugendlichen in Deutschland in der Mehrzahl ihre persönliche und die gesellschaftliche Zukunft positiv sehen, wurde von den Medien aufgegriffen. Es lohnt sich jedoch, einen genaueren Blick auf die Studie zu werfen.

Seit 1953 finanziert der deutsche Shell-Konzern Jugendforscher, die in ihren Studien - jeweils mit verschiedenen Schwerpunkten - für gewöhnlich in einer seriösen Art und Weise ein detailliertes Bild der Jugendlichen in Deutschland vermitteln. Die jetzt vorgelegte 13. Studie ist wie auch die vier vorhergehenden Expertisen von einem Forscherteam um den Frankfurter Sozialwissenschaftler Arthur Fischer erarbeitet worden. Mitverantwortlich zeichneten außerdem Yvonne Fritzsche, Werner Fuchs-Heinritz und Richard Münchmeier.

Für die aktuelle Studie befragten die Forscher über 4500 junge Menschen im Alter von 16 bis 24 Jahren. Zum ersten Mal befragten die Experten um Fischer diesmal auch ausländische Jugendliche, insgesamt etwa 800. Neben diesem Schwerpunkt - die Lebenssituation ausländischer Jugendlicher in Deutschland - suchten die Experten vor allem Antworten auf folgende Frage: Wie sehen die Lebensplanung, die biografischen Entwürfe, die Zukunftsperspektiven Jugendlicher an der Schwelle zu einem neuen Jahrtausend aus?

In der letzten Studie aus dem Jahre 1997 war die Unsicherheit vor der eigenen und der gesellschaftlichen Zukunft noch weit verbreitet. Nur gut ein Drittel (35 Prozent) sahen optimistisch in die kommende Zeit. Die Arbeitslosigkeit sah jeder zweite Jugendliche als sein persönliches Hauptproblem. Fast alle (92 Prozent) erklärten, die steigende Arbeitslosigkeit sei das wichtigste politisch-gesellschaftliche Problem.

In der aktuellen 13. Studie konstatieren die Wissenschaftler eine optimistischere Haltung der Jugendlichen. Knapp 50 Prozent sehen ihre eigene Zukunft optimistisch, die der Gesellschaft sehen sogar zwei Drittel der Jugendlichen "eher zuversichtlich". Diese Zahlen nahmen zahlreiche Medien zum Anlass, von einer verbesserten Situation Jugendlicher zu sprechen. Doch davon kann keine Rede sein, die Wissenschaftler selbst wollen ihre Ergebnisse auch nicht so verstanden wissen. Geändert habe sich nicht die Situation der Jugendlichen, sondern die Einschätzung der eigenen Chancen.

Zunächst darf man trotz der geschilderten Veränderungen nicht vergessen, dass mehr als die Hälfte der Jugendlichen ihre eigene Zukunft eher nicht zuversichtlich sieht. Hier bestätigt die Shell-Studie einmal mehr einschlägige Studien. Noch immer hängen die tatsächlichen und die subjektiv empfundenen Zukunftschancen in erster Linie vom "sozialen Kapital" oder der "familiären Mitgift" ab. Eine andere wissenschaftliche Untersuchung hat beispielsweise festgestellt, dass die Anzahl der Bücher im Elternhaushalt sowie der Beruf des Vaters verlässliche Größen sind, um die Leistung einer Schulklasse im voraus bestimmen zu können. Je mehr vorhandene Bücher in den Elternhäusern und je höher die berufliche Qualifikation der Väter, desto höher ist der Leistungsstand der Klasse. So verwundert es nicht, dass die Optimisten der Shell-Studie vor allem Jugendliche mit höherem Bildungsstand mit entsprechendem familiären Hintergrund sind. Die Pessimisten sind hingegen tendenziell wenig gebildet, ihre Eltern sind oft arbeitslos. Hier überwiegen Gruppen ostdeutscher, ausländischer, besonders türkischer Jugendlicher.

Das Forscherteam stellt ohnehin zum Teil starke Ost-West-Unterschiede fest. "Jugendliche im Osten erleben ihre Situation im Vergleich zu Westdeutschen als belasteter, zum Teil auch bedrückender." Diese Unterschiede erwachsen allerdings aus den ",objektiv' unterschiedlichen Lebensverhältnissen. Aufs Ganze gesehen sind die ostdeutschen Jugendlichen nämlich einsatzbereiter, höher motiviert und leistungsorientierter als die westdeutschen Jugendlichen."

Dennoch: trotz aller sozialen und regionalen Unterschiede, die auch schon vor drei Jahren festgestellt worden sind, fand eine Veränderung statt. Mehr Jugendliche sehen ihre Zukunft optimistisch. Was ist also in den letzten drei Jahren passiert?

Die Jugendlichen haben nach Arthur Fischer "alles akzeptiert, was ihnen zum Beispiel von der Wirtschaft vorgesetzt wurde: Ihr müsst euer Leben flexibilisieren, ihr müsst ganz anders planen, ihr müsst bereit sein, irgendwann in die Selbständigkeit zu gehen, ihr könnt nicht mehr erwarten, dass ihr ein durchgehendes Leben habt, sondern es sind möglicherweise Phasen von Arbeitslosigkeit drin, aber auch Phasen von höchster beruflicher Beanspruchung, ihr müsst auf irgend eine andere Art und Weise mit eurer Familie umgehen ...". Für die Forscher ist die Mehrheit der jungen Leute "nüchtern und illusionslos" - realistisch.

Gibt es ein traurigeres Urteil über Jugendliche als sie nüchtern, illusionslos, realistisch zu nennen? Wann, wenn nicht in der Jugendzeit, hat man Träume, Hoffnungen und Vorstellungen von einer besseren, einer anderen Welt? Der Jugend wird ihre Zeit als Experimentier-, Findungs-, Sturm und Drangphase genommen. Von einer "revolutionären Utopie" sei bei der jungen Generation heute nichts mehr zu spüren, bilanzieren die Forscher. "Es gibt keinen großen Gegenentwurf bei den Jugendlichen", erläutert Arthur Fischer und fügt hinzu: "Den gibt es bei den Erwachsenen allerdings auch nicht."

Die Gesellschaft, "die Wirtschaft" wie Arthur Fischer sagt, hat es bei einem Großteil der Jugendlichen geschafft, sie ihres Privilegs zu berauben - des Privilegs, sich eben nicht unbedingt festlegen zu müssen, sondern träumen, suchen und finden zu dürfen. "Eine fröhliche und selbstsicher unbefangene Lösung dafür wie Jugendliche heute ihre persönliche Zukunft im Hinblick auf den Wandel in allen Lebensbereichen angehen, haben wir nicht gefunden. Auch die Zuversicht enthält Irritationen, sie wirkt oft angestrengt und bemüht," resümieren die Jugendforscher. Gute Miene zum bösen Spiel, so könnte man die Haltung einer Vielzahl von Jugendlichen auch umschreiben.

Diese Unsicherheit, kaschiert mit aufgesetztem Selbstbewußtsein und Optimismus, ist auch in anderen Themenbereichen festgestellt worden. Auf verschiedene Entwicklungen reagieren Jugendliche mit Nichtbeachtung. So ging der Anteil der Politik-Interessierten im Vergleich zu 1997 von 50 auf 35 Prozent zurück. 1991 waren es noch 57 Prozent. Und dies, so betonen die Forscher, obwohl die aktuelle Befragung noch vor dem CDU-Spendenskandal stattfand.

Dieses steigende Desinteresse an der Politik hat vor allem damit zu tun, dass Politik in erster Linie mit den politischen Parteien identifiziert wird. Und diese haben zum Teil "erdrutschartige Vertrauensverluste" zu verzeichnen. Schon vor drei Jahren hatten die Parteien den geringsten "Vertrauensbonus". Damals war aber zu bemerken, dass zum Beispiel den Grünen noch mit Abstand das meiste Vertrauen unter den Parteien zuerkannt worden war. Heute nehmen die Grünen keine Sonderposition mehr ein. Auch die Organisationen, denen vor drei Jahren noch das meiste Vertrauen entgegengebracht worden war - Amnesty International, Greenpeace, usw. -, sind in der Gunst der Jugendlichen gesunken.

Der Grund dürfte im Gefühl der Ohnmacht und Einflusslosigkeit auf diese Organisationen zu finden sein. Denn insbesondere in der 12. Shell-Studie war aufgezeigt worden, dass Jugendliche nicht unpolitisch im eigentlichen Sinne sind, sondern nur eine ganz andere Vorstellung von Politik haben, als diese in den bürokratischen Parteiapparaten praktiziert wird. Sie organisieren sich nur dann, wenn der Bezug zu ihrem Leben, die Möglichkeit der eigenen Einflussnahme und des Handelns gegeben ist. In den Karriereschmieden der parteipolitischen Jugendorganisationen ist dies kaum der Fall. So sind in der "Jugendorganisation" der SPD - den "Jungsozialisten" - 86.000 Mitglieder gemeldet. Davon haben die meisten ihr 30. Lebensjahr überschritten, sind also im gleichen Alter wie viele Eltern der heutigen Jugendlichen.

Dass Jugendliche nicht eine generelle Abneigung gegen Organisationen und Verbände haben, darauf hat erst im letzten Monat der Deutsche Bundesjugendring hingewiesen. Dieser veröffentlichte Zahlen, nach denen etwa die Hälfte der rund 15,6 Millionen jungen Menschen zwischen 14 und 29 Jahren in Verbänden organisiert sind.

Den selben Grund - die mangelnde Möglichkeit auf die Entwicklung einzuwirken - hat auch die Nichtbeachtung des Themas "Europa". "Erst auf Nachfrage äußerten sie sich überhaupt dazu", berichten die Forscher. Dabei sehen die Jugendlichen hier die Situation relativ klar und bewusst. "Für die Mehrheit bedeutet die Rhetorik von der europäischen Einigung eine ,Fassade', hinter der es um ganz andere Interessen und Einflüsse geht, als sie vordergründig diskutiert werden. Die meisten konstatieren stattdessen eher ein Europa des großen Geldes als ein Europa des kleinen Mannes," fasst die Forschergruppe zusammen.

Doch so sehr sich die Jugendlichen von der offiziellen Politik abwenden, Nichtbeachtung heißt auch, den anderen gewähren zu lassen. Und so scheint es, dass Jugendliche in der Mehrheit sich mit den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen abgefunden haben. Sie, so glauben sie, können ohnehin nichts daran ändern. Aufgrund der Tatsache, dass sich bei ihnen kein "Gegenentwurf" zur jetzigen Gesellschaft findet, sind sie dem ideologischen Druck eben dieser Gesellschaft ausgeliefert.

Diese ideologische Anpassung läßt sich insbesondere an den Ergebnissen der Studie zur Haltung gegenüber Ausländern ablesen. 62 Prozent aller befragten Jugendlichen teilen die Ansicht, in Deutschland lebten zu viele Ausländer. Diese Jugendlichen geben so ein getreues Spiegelbild der offiziellen Politik wieder. Während zahlreiche CDU-Politiker derzeit lauttönend auf Haider-Kurs marschieren, arbeitet die SPD ohne viel Aufsehen zu erregen daran, Deutschland abzuschotten und gleichzeitig rigoros Ausländer abzuschieben.

In einer Mischung aus Angst vor den eigenen Ergebnissen und dem Unverständnis über dieselben, versuchen die Autoren der Shell-Studie, ihr eigenes erschreckendes Resultat zu relativieren. Mit Nachdruck stellten sie die Meldung des Spiegel richtig, der aufgrund falscher methodologischer Schlüsse berichtete, dass 27 Prozent aller deutschen Jugendlichen "hoch ausländerfeindlich" seien.

Ihr Nachweis, dass Ausländerfeindlichkeit in keinem direkten Zusammenhang mit der Begegnung oder dem Zusammenleben mit Ausländern steht (in Ostdeutschland, wo kaum Ausländer leben, ist die Feindlichkeit am größten), sondern vielmehr die selbst erlebte Chancenlosigkeit ursächlich für die Ausländerfeindlichkeit ist, soll ebenso zur Relativierung der festgestellten Ausländerfeindlichkeit beitragen. Doch diese Hinweise tragen zwar dazu bei, den Ursachen des Rassismus näher zu kommen und so eine Gegenstrategie zu entwickeln. Aber am Resultat ändert dies nichts. Auch das Ergebnis, dass das Deutschlandbild der Ausländerfeinde nicht anders ist, als das der anderen Jugendlichen, erklärt nichts. Es besagt nur, dass in der heutigen globalisierten Welt die Bande zwischen Nationalismus und Rassismus aufbrechen.

Die heutigen Jugendlichen werden mit dem Internet groß. Womöglich nährt sich daraus teilweise auch der gewachsene Optimismus. Immerhin sind die Medien gefüllt mit den Geschichten von mittellosen aber dynamischen jungen Menschen, die - unabhängig von ihrem Schulabschluss(!) - in der Informationstechnologie-Branche bereits in jungen Jahren zu Multimillionären werden. Das Internet läßt den amerikanischen Traum "Vom Tellerwäscher zum Millionär" wieder auferstehen. Doch jeder Jugendlicher weiß, dass nicht alle Tellerwäscher zum Millionär werden können. Nur die Besten, Mutigsten, Schnellsten, Risikobereitesten schaffen dies.

So wächst angesichts der Tatsache, dass die offizielle Politik Jugendlichen jede Zukunft versagt, aus dem Mut der Verzweiflung, der in der Studie festgestellte Optimismus auf der Grundlage und im Gleichschritt mit darwinschen Überlegensstrategien und Rassismus.

Siehe auch:
Ist die Jugend unpolitisch?
(23. September 1999)
CDU auf Haiders Spuren
( 22. März 2000)
Die Debatte um die Green Card
( 4. April 2000)
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