Münchner Sicherheitskonferenz

Gegenseitiges Misstrauen in der Nato

Die Konferenz für Sicherheitspolitik, die am vergangenen Wochenende zum 37. Mal in München tagte, ist für Sicherheits- und Außenpolitiker das, was das Weltwirtschaftsforum von Davos für Wirtschaftspolitiker ist. Es handelt sich um keine offizielle Regierungskonferenz, aber alles, was Rang und Namen hat, ist da. Die Diskussionen werden öffentlich geführt, und die diplomatische Etikette spielt eine geringere Rolle als bei offiziellen Begegnungen. Es wird also in der Regel offener und deutlicher gesprochen, als dies sonst bei Gipfeltreffen üblich ist.

Die diesjährige Konferenz wurde mit besonderer Spannung erwartet, da der neue amerikanische Verteidigungsminister Donald Rumsfeld hier erstmals öffentlich in Europa auftrat. Bereits im Vorfeld war heftig darüber spekuliert worden, dass die Bush-Administration verstärkt einen unilateralen, einseitig an amerikanischen Interessen orientierten Kurs fahren und die Interessen der Nato-Verbündeten weniger als bisher berücksichtigen werde. Die Münchener Konferenz hat nun deutlich gemacht, dass die transatlantischen Beziehungen zehn Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges von Spannungen und tiefem Misstrauen geprägt sind.

Beide Seiten, die deutschen Gastgeber wie die amerikanischen Gäste, beschworen zwar den Dialog. Aber allein die Tatsache, dass in dem über fünfzig Jahre alten Bündnis die Notwendigkeit des Dialogs betont werden muss, zeigt, wie gereizt die Beziehungen in Wirklichkeit sind. In der Sache gab es unüberbrückbare Differenzen, die sich auf zwei Fragen konzentrierten: Die amerikanischen Pläne zum Bau eines Raketenabwehrsystems (NMD) und die europäischen Pläne zum Aufbau einer Eingreiftruppe mit eigenen, von der Nato unabhängigen Befehlsstrukturen.

Die amerikanischen NMD-Pläne stoßen in Europa seit langem auf Skepsis oder offene Ablehnung. Begründet wird dies damit, dass die geplante Raketenabwehr die nukleare Abrüstung untergrabe, eine neue Runde des Wettrüstens in Gang setze und die Beziehungen zu Russland belaste.

Rumsfeld hat nun deutlich gemacht, dass der Bau des Raketenschutzschildes beschlossene Sache ist. Die Europäer werden nur noch über das Wann und Wie konsultiert. Der Bau von NMD sei ein "moralischer Imperativ", sagte er, der sich direkt aus der amerikanischen Verfassung ableite. Diese verpflichte den US-Präsidenten, sein Volk vor Bedrohungen zu schützen. An solchen Argumenten prallen die außenpolitischen Vorbehalte der Europäer wirkungslos ab.

Zahlreiche weitere amerikanische Teilnehmer sekundierten Rumsfeld. Einige von ihnen - wie Henry Kissinger, Richard Burt und Richard Perle - hatten wie Rumsfeld selbst bereits im Kalten Krieg eine führende Rolle in der amerikanischen Außenpolitik gespielt. Andere - wie die Senatoren John McCain und Joseph Lieberman - hatten im Wahlkampf zu den innerparteilichen und demokratischen Rivalen von Bush gehört. Lieberman, der demokratische Kandidat für das Amt des Vizepräsidenten, bekräftigte, dass der Bau von NMD außer Frage stehe.

Angesichts der eindeutigen amerikanischen Haltung äußerten die europäischen Vertreter ihre Vorbehalte nur zurückhaltend. Bundeskanzler Gerhard Schröder verlangte mehr Klarheit darüber, was der genaue Inhalt dieser Pläne sei - welchen Bedrohungsszenarien sie gelten, ob sie technisch realisierbar sind, und welche Auswirkungen sie auf Westeuropa, Russland und China hätten. Diese Fragen, forderte er, müssten geklärt werden, anstatt zu "voreiligen Festlegungen" zu kommen. Es müsse darüber einen "intensiven Meinungsaustausch" geben.

Außenminister Joschka Fischer wurde etwas deutlicher. Er warnte, "dass ein Rüstungsprojekt dieser Größe politische Wirkungen entfaltet, schon lange bevor es realisiert ist". Die russischen Argumente gegen NMD müssten "ernsthaft" geprüft werden. Ein neues Wettrüsten dürfe es nicht geben.

Der ebenfalls anwesende Vorsitzende des russischen Sicherheitsrats, Sergej Iwanow, wandte sich vehement gegen die amerikanischen Raketenabwehrpläne. Der Bau von NMD mache den ABM-Vertrag von 1972 sinnlos und unterminiere das "Fundament globaler Stabilität", sagte er. Er wandte sich auch gegen die Osterweiterung der Nato und bot eine weitere Halbierung der strategischen Nuklearwaffen an, falls der ABM-Vertrag intakt bleibe.

Die amerikanischen Konferenzteilnehmer übten ihrerseits heftige Kritik an der europäischen Eingreiftruppe, mit der sich die Europäische Union erstmals ein eigenes militärisches Instrument schafft. Die endgültigen Pläne dazu waren im Dezember 2000 auf dem EU-Gipfel in Nizza verabschiedet worden. Bis zum Jahr 2003 sollen 60.000 Mann für weltweite Einsätze bereitstehen.

Verteidigungsminister Rumsfeld warnte vor einer "verwirrenden Doppelstruktur" und einer "Störung des transatlantischen Verhältnisses". Er betonte, dass "die Nato das Herzstück der Verteidigung Europas" sei. Außerdem forderte er, dass auch die Türkei, die zur Zeit alle Hebel in Bewegung setzt, um ihre Entstehung zu verhindern, Zugang zur EU-Truppe haben müsse.

Der republikanische Senator McCain beschuldigte die Europäer unverblümt, sie hätten Spannungen mit der Nato verursacht. In den vergangenen 18 Monaten seien EU- und Nato-Ministertreffen wegen der Streitigkeiten über die unabhängige EU-Truppe ständiger Ausdruck einer Krise der transatlantischen Beziehungen gewesen.

In Europa selbst ist der Zweck der Eingreiftruppe umstritten. Die britische Regierung ist bemüht, den Interessengegensatz zu den USA herunterzuspielen. Der britische Nato-Generalsekretär George Robertson gab am Rand der Münchener Konferenz zahlreiche beschwichtigende Interviews. Die französische Regierung sieht dagegen in der verstärkten militärischen Unabhängigkeit von den USA den eigentlichen Zweck der EU-Truppe. Die deutsche Regierung hält sich öffentlich zurück, arbeitet aber beim Aufbau der Truppe eng mit Frankreich zusammen.

Das gegenseitige Misstrauen innerhalb der Nato ist durch den Regierungswechsel in den USA deutlicher geworden, es ist aber keineswegs neu. Letztlich stecken sowohl hinter dem Konflikt über NMD als auch über die Europäische Eingreiftruppe grundlegendere Fragen. Es geht um das strategische Gewicht Europas und Amerikas.

Seit dem Ende des Kalten Krieges sind die europäischen Mächte immer weniger bereit, die Hegemonie der USA vorbehaltlos zu akzeptieren. Mit der Errichtung des Europäischen Binnenmarkts, der Einführung einer gemeinsamen Währung und der schrittweisen Erweiterung nach Osten tritt die EU immer deutlicher als wirtschaftlicher Rivale der USA auf den globalen Märkten in Erscheinung. Daraus speist sich das Bedürfnis, auch militärisch auf eigenen Beinen zu stehen.

In der Auseinandersetzung um die NMD-Pläne bündeln sich dabei eine ganze Reihe von Fragen. Oberflächlich betrachtet scheint die Auseinandersetzung abwegig, fehlen doch die elementarsten technischen Voraussetzungen für die Installation eines wirksamen Raketenabwehrschilds. Militärexperten gehen davon aus, dass ihre Entwicklung mindestens zehn Jahre in Anspruch nehmen wird.

Auch Form und Umfang des Projekts sind bisher unklar. Hatte die Clinton-Administration lediglich die Installation einer beschränkten Zahl von Abwehrraketen in Alaska ins Auge gefasst, wird nun davon ausgegangen, dass die Bush-Administration ein wesentlich größeres Projekt in Angriff nehmen und dabei auch Abwehrraketen auf U-Booten stationieren wird.

Bisher hatte die offizielle Begründung für NMD gelautet, es diene dazu, Raketenangriffe aus sogenannten "Schurkenstaaten" wie Nordkorea, Iran und Irak abzuwehren. In Rumsfelds Münchener Beitrag war davon nicht mehr die Rede. Die Financial Times schloss daraus: "Die Schlussfolgerung war, dass Raketenabwehrsysteme Bestandteil der US-Verteidigung sein könnten, wie Flugzeugträger oder gepanzerte Verbände, die im Bedarfsfall gegen jeden Feind eingesetzt werden können."

In diese Richtung gehen die europäischen Befürchtungen. Ein funktionierendes Raketenabwehrsystem, das gegen jeden Gegner eingesetzt werden kann, würde den USA einen großen strategischen Vorteil verschaffen und ihre Hegemonialstellung auf lange Zeit sichern. Rumsfelds Angebot, das System auch den europäischen Nato-Mitgliedern zur Verfügung zu stellen, trägt wenig zu deren Beruhigung bei. Die finanzielle Belastung der Haushalte wäre gigantisch. Außerdem würde die Übernahme eines in den USA entwickelten Systems deren technologische Vorherrschaft zementieren.

Die Begründung, NMD richte sich gegen die Bedrohung durch "Schurkenstaaten", ist in Europa stets angezweifelt worden. Einige Militärexperten vertreten die Ansicht, das wirkliche Ziel sei China, wo auch Europa intensiv wirtschaftliche Interessen verfolgt. So heißt es in einem Kommentar der Süddeutschen Zeitung zur Münchener Konferenz: "In Wahrheit ist die Raketenabwehr ein Projekt zur Sicherung der amerikanischen Führungsrolle und der Interessen des Landes, vor allem gegenüber der strategischen Herausforderung aus China."

Andere Kommentatoren wittern hinter dem Projekt wirtschaftliche Interessen. Die Steuermilliarden, die in die Entwicklung von NMD fließen, garantieren nicht nur der amerikanischen Rüstungsindustrie lukrative Aufträge, sie verschaffen auch der zivilen Wirtschaft einen technologischen Vorsprung gegenüber ihren internationalen Rivalen.

Die Spannungen zwischen Europa und Amerika, soviel ist in München deutlich geworden, sind nicht vorübergehender Natur. Sie entspringen dem verschärften Kampf um den Weltmarkt und bringen ernsthafte Gefahren für die ganze Menschheit mit sich.

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