Frankreichs neue Regierung

Chirac festigt seine Macht

Die französische Verfassung verleiht dem Präsidenten Machtbefugnisse, die für europäische Verhältnisse einzigartig sind. Jacques Chirac, der am 5. Mai dank der Unterstützung der linken Parteien mit großer Mehrheit im Präsidentenamt bestätigt wurde, nutzt diese Befugnisse nun zielstrebig, um seine eigene Stellung zu stärken.

Die Linksparteien hatten in der Stichwahl zwischen Chirac und dem Neofaschisten Jean-Marie Le Pen zur Wahl des gaullistischen Amtsinhabers aufgerufen und dies damit begründet, dass nur so Republik und Demokratie verteidigt werden könnten. Doch jetzt bemüht sich Chirac um eine Machtstellung, die mehr an eine bonapartistische Diktatur als an ein demokratisches Regime erinnert. Er strebt nach Vollmachten, wie sie zuvor nur sein Vorbild Charles de Gaulle besaß. Er hofft, auf diese Weise Angriffe gegen die Arbeiterklasse durchsetzen zu können, an denen vorangegangene Regierungen immer wieder gescheitert sind.

Unmittelbar nach seiner Wiederwahl machte Chirac vom Recht des Präsidenten Gebrauch, den Regierungschef nach eigenem Gutdünken zu benennen. Er setzte eine Rechtsregierung ein, die bis zum Abschluss der Legislativwahlen am 16. Juni ohne Zustimmung des Parlaments regieren kann, in dem die linken Parteien immer noch über die Mehrheit verfügen. Während der Präsident laut Verfassung lediglich den Premierminister ernennt, der dann seinerseits die Regierung zusammenstellt und vom Präsidenten bestätigen lässt, hat Chirac die Auswahl der Minister selbst in die Hand genommen.

Alle Schlüsselposten - Inneres, Äußeres, Verteidigung, Soziales und Justiz - sind mit Chiracs engsten Gefolgsleuten besetzt. Das Wirtschaftsministerium, das auch für Finanzen und Industrie zuständig ist, leitet ein Stahlmanager und Vertreter des Unternehmerverbands Medef. Und als Regierungschef dient ein Mitglied der Liberaldemokraten, das als gemäßigtes Aushängeschild Anhänger der alten Regierungsmehrheit ködern soll. Von den 28 Ministern und Staatsekretären gehören zwölf der gaullistischen RPR, sechs der zentristischen UDF und fünf den Liberaldemokraten (DL) an. Fünf sind parteilos.

Die Zusammensetzung der neuen Regierung dient mehreren Zwecken. Der erste und wichtigste besteht darin, für eine rechte Mehrheit bei den bevorstehenden Parlamentswahlen zu sorgen. Mehrere Minister sind ausschließlich mit dem Ziel ernannt worden, Wähler aus dem Lager der alten Regierungsmehrheit bzw. der neofaschistischen Nationalen Front anzulocken. Mit einer eigenen Regierungsmehrheit wäre Chirac in der Lage, neben der Außenpolitik, für die er als Präsident ohnehin zuständig ist, auch die Innenpolitik nach eigenem Ermessen zu bestimmen. Im Gegensatz zu den USA, wo der Kongress ein Gegengewicht zum Präsidenten bildet, verfügt die französische Nationalversammlung nur über geringe Einflussmöglichkeiten.

Chirac hat die Regierungsbildung aber auch als Mittel eingesetzt, um im eignen Lager aufzuräumen. Er hat Anhänger belohnt und Rivalen ausgeschaltet. Aus den mit den Gaullisten konkurrierenden Parteien UDF und DL hat er vorwiegend Politiker ausgewählt, die ihn im Wahlkampf unterstützt haben. So trat Jean-Pierre Raffarin, der neue Regierungschef, in der ersten Wahlrunde für Chirac und nicht für den liberaldemokratischen Kandidaten Alain Madelin ein, obwohl er selbst Vizepräsident der Liberaldemokraten ist. Raffarin unterstützt auch die neue, von Chirac ins Leben gerufene Präsidentenpartei UMP (Union pour la majorité présidentielle), die alle rechtsbürgerlichen Parteien vereinen und Chirac eine willfährige Parlamentsmehrheit verschaffen soll.

Schließlich versucht Chirac in der kurzen Zeit ohne parlamentarische Kontrolle möglichst viele vollendete Tatsachen zu schaffen. Auf diese Weise sollen die Wähler beeindruckt und gleichzeitig Fakten geschaffen werden, die nicht mehr rückgängig gemacht werden können.

Gemäßigte Aushängeschilder

Der neue Regierungschef Jean-Pierre Raffarin gilt als Mann des Ausgleichs und der Mitte. Diesen Ruf verdankt er vor allem der Tatsache, dass er in der Wirtschaftpolitik einen korporatistischen Kurs befürwortet. In seiner Antrittsrede bezeichnete er neben der Wiederherstellung der Staatsautorität die Wiederaufnahme des sozialen Dialogs als großes Leitthema, das die Arbeit seiner Regierung bestimmen werde. Er beschuldigte die Vorgängerregierung unter Lionel Jospin sogar, sie habe den sozialen Dialog abbrechen lassen.

Unter sozialem Dialog versteht er eine enge Zusammenarbeit zwischen Regierung, Unternehmerverbänden und Gewerkschaften. Die Gewerkschaftsbürokratie ist nach den katastrophalen Wahlergebnissen der Sozialistischen und Kommunistischen Partei nur allzu gerne bereit, den Sirenengesängen der neuen Regierung zu folgen. Befallen von chronischem Mitgliederschwund - weniger als acht Prozent aller Beschäftigten sind gewerkschaftlich organisiert - fürchten die Gewerkschaftsverbände um ihre Existenz, wenn sie von der Regierung nicht als Partner akzeptiert werden.

Marc Blondel, Generalsekretär der Gewerkschaft Force Ouvrière, hat umgehend auf Raffarins Angebot reagiert und seinerseits die Einführung eines "sozialen Dialogs" mit der Regierung verlangt. Auch alle anderen großen Gewerkschaften haben ihre Bereitschaft erklärt, sich an den Gesprächen der Regierung mit den "Sozialpartnern" zu beteiligen.

Raffarin soll auch dem weitverbreiteten Unmut über das abgehobene und korrupte politische Establishment der Hauptstadt entgegentreten. Der 54-jährige Präsident der Region Poitou-Charentes gilt als leutselig und bodenständig. Er hat sich in den letzten Jahren vom diskreditierten nationalen Politikbetrieb ferngehalten und enge Beziehungen zum ländlichen Mittelstand gepflegt. Er bekleidete erst einmal ein nationales Ministeramt - von 1995-97, als ihn Chirac zum Dank für seinen Beistand gegen den Rivalen Édouard Balladur zum Minister für kleine und mittlere Unternehmen, Handel und Handwerk machte.

Neben Raffarin dienen auch zwei Staatssekretärinnen als Aushängeschild für gemäßigte Wähler. Mit Tokia Saïfi, zuständig für nachhaltige Entwicklung im Umweltministerium, ist zum ersten Mal die Tochter eines sogenannten "Beur", eines Einwanderers aus Algerien, in die Regierung aufgenommen worden. Und für den "Kampf gegen prekäre Umstände und Ausgrenzung" ist die bisherige Leiterin des sozialen Notdienstes in Paris, Dominique Versini, zuständig.

Gefolgsleute Chiracs

Während sich Raffarin um ein liberales Image bemüht, steht der eigentliche starke Mann der Regierung stramm rechts. Der frühere Generalsekretär der Gaullisten und Chirac-Vertraute Nikolas Sarkozy leitet ein neugeschaffenes Superministerium für Innere Sicherheit, dessen Kompetenzen gegenüber dem bisherigen Innenministerium stark erweitert wurden.

Ursprünglich wollte Sarkozy eigentlich selbst Premierminister werden. Er steht aber politisch derart weit rechts, dass dies zu viele Wähler abgeschreckt hätte. So hatte er sich 1998 dafür stark gemacht, bei der Vergabe von Wohnungen, Sozialleistungen und Arbeitsplätzen französische Staatsbürger gegenüber Einwanderern zu bevorzugen - eine Forderung, die auch die Nationale Front erhebt.

Nicolas Sarkozy und sein Stellvertreter Patrick Devedjian, der im Innenministerium für "lokale Freiheiten" zuständig ist, machen deutlich, wie schmal der Grat zwischen der jetzigen Regierung und den Faschisten in Wirklichkeit ist. Devedjian, bisher persönlicher Rechtsberater von Jacques Chirac, war in seiner Jugend Mitglied der faschistischen Vereinigung "Occident". Am 12. Januar 1967 hatte er sich an der Universität Rouen am Überfall auf einen Informationsstand der vietnamesischen Befreiungsfront beteiligt, bei dem mehrere Stundenten mit Eisenstangen krankenhausreif geschlagen wurden. Devedjian selbst kam damals mit einer Geldstrafe davon, während andere Täter ins Gefängnis mussten. 1976 war Devedjian juristischer Mitverfasser der Statuten der neu gegründeten gaullistischen Partei.

Auch das Außenministerium ist in der Hand eines engen Chirac-Vertrauten. Der formal parteilose Dominique Galouzeau de Villepin diente dem Präsidenten bisher als Generalsekretär im Elysée und gehört seit zehn Jahren zu Chiracs treuesten Gefolgsleuten.

Das Verteidigungsministerium wird von der bisherigen RPR-Vorsitzenden Michèle Alliot-Marie geleitet, die in der gaullistischen Partei als Chiracs rechte Hand galt.

Das Justizressort leitet einer der wenigen Minister mit langjähriger Regierungserfahrung. Dominique Perben gehörte in den 90er Jahren bereits den Regierungen Balladur und Juppé an. Mehrere Gesetze zur Beschneidung der Rechte gewerkschaftlicher Vertreter im Betrieb und zur Verschlechterung der Lage für Arbeitskräfte auf prekären Arbeitsplätzen tragen seinen Namen.

Als einziger enger Chirac-Vertrauter ist Alain Juppé, der erfolglose Premier aus den beiden ersten Amtsjahren des Präsidenten, nicht in der neuen Regierung vertreten. Dennoch spielt er eine Schlüsselrolle und zieht im Hintergrund eifrig die Fäden. Er gilt als möglicher Nachfolger Raffarins, sollten die Gaullisten durch die Wahl gestärkt werden.

Vertreter der Wirtschaft

Die Ernennung von Francis Mer zum Superminister für Wirtschaft, Finanzen und Industrie ist ein deutliches Signal an die Wirtschaft. Mer ist ein führender Vertreter des Unternehmerverbands Medef und leitete bisher als Generaldirektor den europäischen Stahlkonzern Arcelor.

Als Stahlmanager war Mer vor 15 Jahren für die "Sanierung" der lothringischen Stahlindustrie verantwortlich, bei der 70.000 Arbeitsplätze zerstört wurden. Er ist eng befreundet mit François Bayrou (dem Kandidaten der wirtschaftsliberalen Partei UDF), mit dem Sozialisten Jacques Delors, dem jahrelangen Präsidenten der EU-Kommission, und mit Jean Peyrelevade, dem Vorstandsvorsitzenden der Bank Crédit Lyonnais. Auch Nicole Notat, die Generalsekretärin der Gewerkschaft CFDT, soll er sehr schätzen.

Als Beauftragter des Medef handelte Mer im vergangenen Jahr das Berufsbildungsprogramm mit den Gewerkschaften aus, das entscheidend zur Umwandlung der Arbeitslosenkasse Unedic beitrug. Diese Umwandlung läuft auf die Abschaffung des Rechts auf Arbeitslosenunterstützung hinaus. Die Unedic -Reform war der erste Schritt zur sogenannten Refondation sociale (Sozialen Neugründung), die bereits von der Regierung Jospin eingeleitet wurde. Ihre Fortsetzung, insbesondere der Umbau des Renten- und Gesundheitswesen nach den Bedürfnissen des Marktes, ist ein zentrales Anliegen der neuen Regierung.

Ein weiterer Programmpunkt des Wirtschaftsministers wird die Öffnung des bisher staatlichen französischen Energiekonzerns EDF-GDF für Privatkapital sein, die bereits auf dem EU-Gipfel in Barcelona beschlossen wurde. Hier kommt es dem neuen Wirtschaftsminister gelegen, dass die neue Umwelt- und Entwicklungsministerin, Roselyne Bachelot, eine eindeutige Befürworterin der Atomenergie ist.

Ein weiterer Vertreter einer wichtigen Industriebranche ist François Loos, beigeordneter Minister im Jugend-, Bildungs- und Forschungsministerium. Loos kommt aus der Chemieindustrie und war Direktor der Chemiefabrik Rhône-Poulenc in Thann-Mulhouse. Er wird die Abteilung Forschung und Universitäten leiten.

Auch der künftige Sozialminister, François Fillon, bringt Voraussetzungen im Sinne der Wirtschaft mit. Als Spezialist für militärische Fragen ist er zwar nicht unbedingt für das Ministerium für Soziales, Arbeit und Solidarität prädestiniert, aber als Postminister in der Regierung Juppé leitete er 1996 die Privatisierung von France Télécom und erreichte die Zustimmung der Gewerkschaften zu Frührenten und Sozialplänen.

Kein Wunder, dass sich der Unternehmerverband Medef begeistert über die neue Regierung zeigte. Regierungschef Raffarin sei "ein bodenständiger Mann mit Unternehmenserfahrung, der hinhören kann", lobte Medef-Chef Ernest-Antoine Seillière. Und Francis Mer sei "hervorragend informiert über die Lage der französischen Wirtschaft und über die Notwendigkeit, sie wieder konkurrenzfähig zu machen. Er kennt das Gewicht der Steuern und Abgaben, das auf den Unternehmen lastet."

Reformen "im Galopp"

Bereits auf der ersten Kabinettssitzung hat die Regierung auf Initiative Chiracs einen umfassenden Katalog von Maßnahmen beschlossen, die noch vor den Parlamentswahlen umgesetzt werden sollen. Wir bewegen uns "im Galopp", verkündete Premierminister Raffarin nach der Sitzung.

Im Mittelpunkt stehen Maßnahmen zur Inneren Sicherheit. Innenminister Sarkozy fuhr unmittelbar nach seiner Ernennung mit Pariser Polizisten auf nächtliche Streife in die Trabantenstädte, um den Ordnungshütern demonstrativ den Rücken zu stärken. Nach der Kabinettssitzung kündigte er die Ausarbeitung einer umfangreichen Gesetzesreform für Sicherheit und Justiz an, die bereits im Sommer fertiggestellt und von der neuen Nationalversammlung verabschiedet werden soll.

Einzelne Kernpunkte sollen aber bereits jetzt umgesetzt werden. So die engere Zusammenarbeit von Polizisten, Gendarmen, Zöllnern, Untersuchungsrichtern und Steuerfahndern bei der Bekämpfung des organisierten Verbrechens in den Trabantenstädten, und der verstärkte Einsatz der paramilitärischen CRS, die bisher nur für Ordnungseinsätze zuständig war und nun eng mit der Polizei zusammenarbeiten soll.

Diesen Mittwoch beschloss das Kabinett per Dekret, den Rat für Innere Sicherheit (CSI) direkt dem Präsidenten zu unterstellen. Dieses Gremium, in dem der Innen-, Verteidigungs-, Justiz-, Wirtschafts- und Finanzminister vertreten sind, war 1988 vom sozialistischen Premier Michel Rocard ins Leben gerufen und 1997 von Lionel Jospin erneuert worden. Es unterstand dem Regierungschef und bildete eine Art harter Kern der Regierung.

Mit seiner Unterstellung unter den Präsidenten werden dessen Rechte erheblich ausgeweitet. Faktisch übernimmt er damit auch die direkte Kontrolle über Kernbereiche der Innenpolitik. Das Gremium soll laut Angaben des Regierungssprechers die Schwerpunkte der inneren Sicherheitspolitik festlegen, die diesbezügliche Arbeit der verschiedenen Ministerien koordinieren und die Umsetzung der Sicherheitspolitik überwachen. Sein Stellenwert soll dem des Verteidigungsrats entsprechen, der traditionell dem Präsidenten untersteht und für die äußere Sicherheit zuständig ist.

Als weitere Sofortmaßnahmen beschloss das Kabinett die Ausarbeitung eines Gesetzesentwurfs für eine fünfprozentige Senkung der Einkommenssteuer. Er soll innerhalb von zehn Tagen fertiggestellt und nach der Wahl umgehend verabschiedet werden.

Wie geschickt die neue Regierung die unpopulären Maßnahmen ihrer Vorgängerin auszunutzen versteht, zeigt eine weitere Sofortmaßnahme. Transport und Bauminister Gilles de Robien kündigte an, die Pläne für einen dritten Großflughafen in der Hauptstadtregion von Grund auf neu überprüfen zu lassen. Diese Pläne waren von seinem kommunistischen Amtsvorgänger Jean-Claude Gaissot gegen erheblichen Widerstand in der Bevölkerung durchgepeitscht worden, die eine massiv Lärm- und Schmutzbelästigung fürchtet. Gaissot protestierte umgehend gegen die Maßnahme seines Nachfolgers.

Die neue Regierung hat auch in Kreisen, die bisher das linke bürgerliche Lager unterstützten, eine positive Resonanz gefunden. Die Zeitung Le Monde, die seit der Ära Mitterrand traditionell den Sozialisten zuneigt, ließ sich in lobenden Tönen über sie aus. Die Regierung Raffarin mache keine schlechte Figur, kommentierte sie. Mit der Ernennung der parteilosen Minister Mer (Wirtschaft und Finanzen) und Ferry (Unterricht) sei Chirac ein besonders schöner Coup gelungen. Und mit der algerischstämmigen Staatssekretärin Saïfi habe er Le Pen eine lange Nase gezeigt.

Die Vereinigung aller bürgerlichen Kräfte hinter Chirac, welche die zweiten Runde der Präsidentenwahl kennzeichnete, findet so ihre Fortsetzung. Der Beweggrund ist allerdings weniger die Ablehnung Le Pens, dem die neue Regierung mit ihrer Staatsaufrüstung weit entgegen kommt, sondern die Angst vor der sozialen Empörung, die sich in der massenhaften Stimmenthaltung und den drei Millionen Stimmen für die äußerste Linke äußerte.

Siehe auch:
Chirac gewinnt die französische Präsidentschaft mit 82 Prozent der Stimmen
(7. Mai 2002)
Nein zu Chirac und Le Pen! Für einen Boykott der französischen Wahlen!
( 30. April 2002)
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