Der Machtkampf um die ukrainische Präsidentschaft hat sich deutlich verschärft, nachdem die Anhänger des Oppositionskandidaten Wiktor Juschtschenko am Dienstag Abend die Gespräche mit dem Lager von Ministerpräsident Wiktor Janukowitsch abgebrochen haben und wieder voll auf Konfrontation setzen. Der führende Oppositionspolitiker Oleksander Sintschenko teilte mit, dass sich die Opposition "aus dem Verhandlungsprozess zurückgezogen" habe, und rief zur Erneuerung der Blockade des Regierungsgebäudes auf.
In den Tagen zuvor hatte es so ausgesehen, als würden sich die verfeindeten Lager auf Neuwahlen einigen.
Seit die Wahlkommission Janukowitsch nach dem zweiten Wahlgang vom 21. November zum offiziellen Sieger erklärt hat, sind immer mehr offizielle Stellen auf die Seite seines Rivalen Juschtschenko übergeschwenkt. Juschtschenko hatte die Regierung der Wahlfälschung bezichtigt und sich zum rechtmäßigen Wahlsieger erklärt. Dabei wird er von täglichen Massendemonstrationen in Kiew sowie der amerikanischen und praktisch allen europäischen Regierungen unterstützt.
Erst verbot das Oberste Gericht der Wahlkommission, das Ergebnis offiziell zu veröffentlichen, was bedeutet, dass es nicht rechtsgültig in Kraft treten kann. Dann erklärte das Parlament, in dem die Opposition zusammen mit Sozialisten und Kommunisten über die Mehrheit verfügen, das Wahlergebnis für ungültig. Das hatte zwar rechtlich keine Bedeutung, galt aber als wichtiges Signal. Am Wochenende trat schließlich auch der noch amtierende Präsident Leonid Kutschma, der bisher dem Janukowitsch-Lager zugerechnet wurde, für Neuwahlen ein.
Gleichzeitig liefen einige ranghohe Regierungsvertreter zur Opposition über. So Janukowitschs Wahlkampfleiter, Serhij Tihipko, der gleichzeitig von seinem Amt als Notenbankpräsident zurücktrat.
Auf internationaler Ebene bezeichnete US-Außenminister Colin Powell das Wahlergebnis als "inakzeptabel". Ähnlich äußerten sich viele europäische Politiker, insbesondere in Ländern, die eng mit den USA verbündet sind. Die EU entsandte eine Vermittlerdelegation, der unter anderen ihr außenpolitischer Vertreter Javier Solana und der polnische Präsident Alexander Kwasniewski angehörten. Sie brachte die Kontrahenten am Runden Tisch zusammen und verpflichtete sie auf eine friedliche Lösung.
Doch die Opposition schraubte ihre Forderungen immer höher. Am gestrigen Dienstag versuchte sie, durch einen Misstrauensantrag im Parlament die Regierung Janukowitsch abzusetzen. Dies hätte neue Möglichkeiten eröffnet, Juschtschenko über den Umweg des Ministerpräsidentenamtes in den Präsidentensessel zu hieven. Tritt der amtierende Präsident zurück, übernimmt nämlich der Regierungschef automatisch seine Nachfolge. Kutschma soll Gerüchten zufolge Rücktrittsabsichten hegen. Aber der Misstrauensantrag scheiterte, und kurz darauf zog sich die Opposition aus den Verhandlungen mit Janukowitsch zurück.
Vor allem auch die zweite Gallionsfigur der Opposition, Julia Timoschenko, bemühte sich nach Kräften, die gespannte Lage weiter anzuheizen. Nachdem Gouverneure in östlichen Landesteilen mit Autonomieforderungen gedroht hatten, sollte Juschtschenko zum Wahlsieger erklärt werden, stellte sie am Montag im Namen des Komitees zur nationalen Rettung ein Ultimatum von 24 Stunden. Sie forderte den Rücktritt der Regierung, den Rücktritt des Generalstaatsanwalts sowie den Rücktritt und die Anklage der Gouverneure von Charkow, Donezk und Lugansk, die mit Autonomie gedroht hatten. Andernfalls, drohte Timoschenko vor Demonstranten in Kiew, würden die Bewegungsfreiheit Kutschmas eingeschränkt und Eisenbahnstrecken, Autobahnen und Flughäfen blockiert.
Ihr Auftreten zielte eindeutig darauf ab, jeden Kompromiss zu unterlaufen. Sie schürte die Gefahr einer möglichen Spaltung des Landes, die ähnlich blutige und katastrophale Formen annehmen könnte wie einst das Aufbrechen Jugoslawiens. Ein Konflikt zwischen den Großmächten wäre dann nicht mehr auszuschließen. Schon jetzt zirkulieren Gerüchte über die Anwesenheit russischer Spezialeinheiten in Kiew.
Es gibt zwar immer noch die Möglichkeit, dass es in den nächsten Tagen zu einer einvernehmlichen Lösung kommt. So berät zur Zeit das Oberste Gericht über eine teilweise Annullierung der Wahlergebnisse, und auch das Parlament will sich wieder versammeln. Doch auch ein Abgleiten des Landes in einen blutigen Bürgerkrieg ist keineswegs ausgeschlossen.
Das Juschtschenko-Lager setzt auf Konfrontation, weil es unbedingt die Dynamik der gegenwärtigen Demonstrationen aufrechterhalten will, bis der Machtkampf in der Ukraine entschieden ist. Deshalb will es auch nur die Stichwahl zwischen den beiden Spitzenkandidaten wiederholen, und zwar möglichst bald; im Gespräch ist der 12. Dezember. Die Wiederholung der gesamten Wahl, wie sie von Präsident Kutschma vorgeschlagen wird, lehnt sie ab. Dies würde länger dauern und die Teilnahme neuer Kandidaten ermöglichen.
Es ist keineswegs sicher, dass die momentane Popularität Juschtschenkos lange anhalten wird. Dagegen spricht sein Programm - ein rechtes, neoliberales Wirtschaftsprogramm - und seine soziale Basis. Die gegenwärtige Kampagne der Opposition wird von rechtslastigen amerikanischen Stiftungen und schwerreichen ukrainischen Geschäftsleuten finanziert - wie Petro Poroschenko, der sein Geld mit Getränken machte, Mitbesitzer des Fernsehkanals 5 ist und als Juschtschenkos Finanzier gilt.
Zum andern ist es selbst jetzt völlig unsicher, ob Juschtschenko eine reguläre Wahl tatsächlich gewinnen würde. Das Ausmaß der von ihm behaupteten Wahlfälschungen wurde bisher nicht bewiesen, und es gibt trotz des unbestreitbar korrupten und reaktionären Charakters des Janukowitsch-Lagers Gründe, weshalb letzterem in den Industrieregionen der Ostukraine viele Leute die Treue halten.
Da ist zum einen die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, wenn das Land stärker dem internationalen Wettbewerb ausgesetzt wird. Den ukrainischen Arbeitern ist nicht entgangen, was mit der Schwerindustrie und dem Bergbau der DDR oder Polens geschah, wo Hunderttausende ihren Arbeitsplatz verloren. Mit dem Verlust des Arbeitplatzes ist der Verlust fast aller sozialer Vergünstigungen verbunden - vom Kindergarten bis zur medizinischen Versorgung -, die wie zu Sowjetzeiten an den Betrieb gebunden sind.
Juschtschenko ist in der Donbass-Region in schlechter Erinnerung. Während der kurzen Zeit, während der er an der Spitze der Regierung stand, wurden mehrere unwirtschaftliche Bergwerke stillgelegt. Die Löhne der Bergarbeiter lagen damals bei 290 Grywna im Monat, das sind 45 Euro. Heute sind sie fast doppelt so hoch.
Hinzu kommt die Angst, dass die russischsprachige Bevölkerung im Fall eines Siegs der stark nationalistisch geprägten Opposition diskriminiert wird, wie dies nach dem Zerfall der Sowjetunion in vielen anderen ehemaligen Sowjetrepubliken geschah.
Das Juschtschenko-Lager fühlt sich vor allem stark, weil es die amerikanische und die meisten europäischen Regierungen hinter sich weiß, die es politisch, finanziell und propagandistisch unterstützen. Auch wenn keine dieser Regierungen gegenwärtig an einer Spaltung der Ukraine interessiert sein dürfte, nehmen sie diese Gefahr skrupellos in Kauf, um einen Regimewechsel in Kiew zu bewirken, der ihren eigenen imperialistischen Interessen dient.