Trotz Kompromiss im EU-Haushaltsstreit:

Die europäischen Gegensätze vertiefen sich

Nach einem dreißigstündigen Verhandlungsmarathon haben sich die Regierungschefs der Europäischen Union in der Nacht zum Samstag auf die Finanzierung des EU-Haushalts für die Jahre 2007 bis 2013 geeinigt.

Lange Zeit hatte es so ausgesehen, als würde das Gipfeltreffen in Brüssel an der Haushaltsfrage scheitern, wie dies bereits beim Gipfel vor einem halben Jahr der Fall gewesen war. Damals war ein Budgetvorschlag der luxemburgischen Ratspräsidentschaft abgelehnt worden, weil sich die britische Regierung weigerte, auf einen Teil ihres 1984 von Margaret Thatcher ausgehandelten Beitragsrabatts zu verzichten.

In der zweiten Jahreshälfte übernahm Großbritannien dann selbst die Ratspräsidentschaft und versuchte, einen Haushaltsentwurf nach eigenen Vorstellungen durchzusetzen.

Premierminister Tony Blair erklärte sich zu einer geringen Reduzierung des britischen Rabatts bereit, verlangte aber als Gegenleistung eine Kürzung der Agrarsubventionen, die über 40 Prozent der Gesamtausgaben der EU ausmachen, geringere Zahlungen an die neuen Mitglieder in Osteuropa und einen insgesamt niedrigeren Haushalt. Das stieß auf den erbitterten Widerstand Frankreichs, das in besonderem Maße von den Agrarsubventionen profitiert, sowie der neuen osteuropäischen Mitgliedsstaaten, denen die von Blair in Frage gestellten Gelder beim Eintritt in die EU fest zugesagt worden waren.

Ein Fehlschlag des Brüsseler Gipfels hätte die EU paralysiert. Nach der Ablehnung des europäischen Verfassungsentwurfs durch die französischen und niederländischen Wähler im Frühjahr hätte eine anhaltende Debatte über den Haushalt und die damit verbundene Planungsunsicherheit die europäischen Institutionen vollends gelähmt.

Daran hatten weder Blair noch Chirac ein Interesse. Blair, der zu Beginn der britischen Ratspräsidentschaft großspurig angekündigt hatte, er werde die EU umkrempeln, hat sich durch sein Festhalten am britischen Rabatt weitgehend isoliert. Vor allem hat er mit den neuen Mitgliedern in Osteuropa seine engsten Verbündeten verprellt, die im Irakkrieg noch fest zu Großbritannien und den USA gehalten hatten. Für Chirac wiederum bildet eine starke EU ein unverzichtbares Element der französischen Außenpolitik.

Unter diesen Umständen gelang es der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel, zwischen Blair und Chirac zu vermitteln und einen Kompromiss zu erzielen. Nachdem Merkel zugunsten Polens auch noch auf einen geringen Teil der für Ostdeutschland vorgesehenen Subventionen verzichtet hatte, gab sich die polnische Regierung ebenfalls zufrieden.

Die deutsche Bundeskanzlerin wurde von den Gipfelteilnehmern und der internationalen Presse wegen ihrer Vermittlertätigkeit mit Lob überhäuft. Die Nachrichtenagentur Reuter meldete, Merkel, die erstmals an einem EU-Gipfel teilnahm, habe sich als "eine eindrucksvolle neue Kraft auf der europäischen Bühne etabliert". Der polnische Ministerpräsident Kazimierz Marcinkiewicz schwärmte sogar vom "Gipfel-Engel".

Bei Lichte betrachtet nimmt sich der ausgehandelte Kompromiss allerdings äußerst bescheiden aus. Es wurden lediglich einige - relativ geringe - Summen verschoben, ohne die grundlegenderen Probleme der EU auch nur anzutasten.

Im Einzelnen wurde vereinbart, dass die 25 Mitgliedsstaaten zwischen 2007 und 2013 insgesamt 862 Milliarden Euro an die EU-Kasse überweisen - etwas mehr als von Großbritannien ursprünglich vorgeschlagen. Das entspricht einem Prozent des europäischen Bruttonationaleinkommens - weit weniger als die 1,2 Prozent, die die EU-Kommission anfangs gefordert hatte. Aufs Jahr umgerechnet beläuft sich der EU-Haushalt auf 123 Milliarden Euro, das entspricht etwas der Hälfte des deutschen Bundeshaushalts.

Die größten finanziellen Zugeständnisse machte mit 2,5 Milliarden Euro Tony Blair. Nachdem er ursprünglich angeboten hatte, den britischen Rabatt um 8 Milliarden Euro zu reduzieren, erhöhte er diesen Betrag in Brüssel auf 10,5 Milliarden Euro. Diese Summe bezieht sich auf einen Zeitraum von sieben Jahren, der Kompromiss belastet den britischen Haushalt also mit zusätzlichen 360 Millionen Euro pro Jahr. Bedenkt man, dass London allein für den Irakkrieg über 5 Milliarden Euro jährlich ausgibt, ist dieser Betrag nicht besonders hoch.

Jacques Chirac erklärte sich im Gegenzug bereit, die Agrarausgaben bereits 2008 überprüfen zu lassen. Bisher hatte er stets darauf beharrt, dass diese Ausgaben durch frühere Beschlüsse bis 2013 festgelegt seien. Da eine Änderung der Ausgaben Einstimmigkeit erfordert, ist eine Neuregelung ohne französische Zustimmung allerdings nicht möglich.

Viele Kommentare haben festgestellt, dass dieser Kompromiss nichts gelöst hat. Die Krise sei noch nicht bewältigt, kommentierte etwa der deutsche EU-Kommissar Günter Verheugen das Ergebnis.

Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel schrieb, die Finanzierung der Gemeinschaft sei zwar gesichert. "Das ist aber auch schon alles. Sanierung des EU-Budgets mit seinen ausufernden Agrarbeihilfen: erst ab dem Jahr 2014. Gemeinsame Wirtschaftspolitik der 25 Mitgliedstaaten: nicht einmal in Ansätzen zu erkennen. Erweiterung der EU: unüberbrückbare Meinungsverschiedenheiten. Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik: Stillstand. Europäische Verfassung: Ratlosigkeit."

Die französische Tageszeitung Le Monde meinte, die grundlegenden Reformen seien "auf später verschoben worden". Aber immerhin könne man sich jetzt wieder "anderen Aufgaben widmen." Ähnlich reagierte die deutsche Tageszeitung Die Welt : "Auch nach dem Gipfel steht die Reform der EU-Finanzen, das Ende des Britenrabatts wie der Agrarsubventionen, aus. Immerhin aber besitzt die EU jetzt wieder einen Spielraum ..."

Anders gesagt, das Ergebnis des Brüsseler Gipfels hat einen unmittelbar drohenden Kreislaufkollaps verhindert, nicht aber dessen Ursachen beseitigt.

Das nächtelange Gezänk und Geschacher in Brüssel ist symptomatisch für den Zustand der Europäischen Union. Unter wachsendem inneren und äußeren Druck nehmen die nationalen Egoismen zunehmend überhand. Von den anmaßenden Ankündigungen früherer Gipfel, Europa zum größten, modernsten und leistungsfähigsten Wirtschaftstraum der Welt zu entwickeln, ist wenig übrig geblieben. Stattdessen droht die EU schon durch den Streit um wenige hundert Millionen Euro paralysiert zu werden.

Dabei werden die zentrifugalen Tendenzen immer stärker. Vor allem die deutsche Presse hat aus dem monatelangen Gezerre um den Haushalt und aus Merkels Vermittlungserfolg den Schluss gezogen, dass Deutschland weniger Rücksicht auf seine europäischen "Partner" nehmen und die Initiative zur Entwicklung eines deutsch geführten Kerneuropas ergreifen sollte.

So veröffentlichte die Süddeutsche Zeitung am Montag einen Kommentar mit der Überschrift "Ohne Briten geht es besser", der der britischen Regierung vorwirft, "immer nur stur den nationalen Interessen zu folgen". Er gelangt zum Schluss: "Es bleibt darum nur übrig, die weitere europäische Rechnung erst einmal ohne die Briten zu machen". Die deutsche Regierung wird aufgefordert, die Initiative zu ergreifen: "Nachdem Deutschland nun wieder eine stabile Regierung hat, fällt es ihm zu, Anstöße für eine neue, europäische Bewegung zu geben. ... Um Europa auf Kurs zu bringen, bedarf es einer starken Kraft, die viele kleine Kräfte zu bündeln weiß. Mit ihrem respektablen Auftritt beim EU-Gipfel hat Angela Merkel Erwartungen geweckt, denen sie versuchen sollte, gerecht zu werden."

Der belgische Ministerpräsident Guy Verhofstadt hat ein "Manifest" für ein Kerneuropa verfasst, über das, so der Spiegel, nach dem EU-Gipfel in höchsten Regierungskreisen diskutiert wird: "Ein Club im Club soll entstehen, ein enger Zusammenschluss von wenigen Staaten, die den europäischen Gedanken vorantreiben. ... Den Kern bildet eine eng verzahnte Ländergruppe, ‚eine Art Vereinigte Staaten von Europa’. Die übrigen, denen so viel Integration nicht geheuer ist, gruppieren sich drum herum in einem lockeren Bund, von Verhofstadt ‚Organisation europäischer Staaten’ getauft." Verhofstadts Analyse, meldet der Spiegel, sei bei Jacques Chirac und Angela Merkel auf Zustimmung gestoßen.

Die EU gilt Millionen europäischen Bürgern als Inbegriff einer neoliberalen Wirtschafts- und Sozialpolitik, die für die gnadenlose Unterordnung aller Lebensbereiche unter die Gesetze von Markt und Profit eintritt - das haben die gescheiterten Verfassungsreferenden in Frankreich und den Niederlanden gezeigt. Nun werden im Namen des "europäischen Gedankens" auch die Gegensätze innerhalb Europas wieder vertieft, die im vergangenen Jahrhundert zwei Weltkriege ausgelöst hatten. Der Versuch, Europa durch eine "starke Kraft" (nämlich Deutschland) "auf Kurs zu bringen", wird unweigerlich auf den Widerstand anderer europäischer Regierungen stoßen und die Konflikte innerhalb Europas verschärfen.

Siehe auch:
Streit um Haushalt spaltet die Europäische Union
(21. Juni 2005)
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