Gewerkschaften gegen Bolkestein-Richtlinie in Straßburg:

Mehr Skepsis als Begeisterung

Am 14. Februar begann die Lesung der Bolkestein-Richtlinie im EU-Parlament in Straßburg. Gleichzeitig demonstrierten etwa 50.000 Gewerkschafter aus beinahe allen Ländern Europas, die der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) in Hunderten von Bussen vor den Sitz des EU-Parlaments gebracht hatte.

Delegationen aus zahlreichen Ländern waren gekommen: aus Andorra, dem europäischen Kleinstaat in den Pyrenäen, ebenso wie aus Norwegen, Holland, Dänemark, Belgien, Frankreich, Deutschland, Irland, Italien, Spanien, Schweden, der Schweiz und Österreich bis hin zu Zypern. Auch die osteuropäischen Länder waren vertreten. So waren Transparente aus Tschechien, Ungarn und Polen zu sehen.

An die Spitze stellten sich führende Funktionäre wie Michael Sommer vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) und die Vorsitzenden der französischen Gewerkschaften CFDT und CGT, François Chérèque und Bernard Thibault. Auch führende Politiker wie Laurent Fabius von der französischen Sozialistischen Partei, der offensichtlich bereits im Wahlkampf stand und fleißig Interviews gab, waren zu sehen.

Das Demonstrationsmotto auf dem offiziellen EGB-Transparent lautete: "Es ist Zeit, die Direktive zu ändern". Auf der Abschlusskundgebung prahlte John Monks, EGB-Generalsekretär: "Wir haben diese Schlacht gewonnen." Wenn die Europaparlamentarier am kommenden Donnerstag dem jüngsten Kompromiss zustimmten, sei dies "ein enormer Sieg für alle Arbeiter".

In Wirklichkeit unterscheidet sich der aktuelle, leicht abgeänderte Kompromiss nur unwesentlich vom ursprünglichen Entwurf. Die Richtlinie, die in gewisser Hinsicht das Kernstück der EU-Reformen darstellt, zielt auf die Deregulierung des gesamten Dienstleistungssektors in ganz Europa ab und beschleunigt überall in Europa den Sozialabbau.

Während vor dem Europaparlament die Gewerkschaften protestierten, begannen im Parlament die Beratungen über 23 Änderungsanträge zur Dienstleistungsrichtlinie. Die SPD-Abgeordnete Evelyne Gebhardt verteidigte als Berichterstatterin des Europäischen Parlaments den im Ausschuss vereinbarten Kompromiss und bezeichnete ihn als gute "Grundlage für einen fairen Wettbewerb in Europa". Presseberichten zufolge sagte Gephardt: "Dienstleistungen müssen in Europa so freizügig wie Geld sein."

Die beiden größten Fraktionen des Europaparlaments, die Europäische Volkspartei (EVP) und die Sozialdemokratische Partei Europas (SPE), hatten zu den strittigen Punkten, insbesondere zur Frage des "Herkunftslandprinzips" (Artikel 16) gemeinsame Änderungsanträge eingereicht, über die am Donnerstag abgestimmt werden soll.

In dem gemeinsamen Antrag wird der strittige Begriff "Herkunftslandprinzip" ersatzlos gestrichen. Gleichzeitig wird aber die "Dienstleistungsfreiheit" betont. Zum "Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, der Volksgesundheit und der Umwelt" können Regierungen auf der Einhaltung nationaler Bestimmungen bestehen. Ansonsten sollen aber die Gesetze jenes Landes gelten, aus dem der Dienstleister kommt.

Während Sozialdemokraten und Gewerkschafter den Kompromiss als Erfolg preisen, wird dadurch kein einziges Problem gelöst. Denn auch in der veränderten Fassung wird die Dienstleistungsrichtlinie dazu führen, dass die niedrigsten Löhne und Sozialstandards den Ton angeben und alle bisher bestehenden sozialen Sicherungssysteme ausgehebelt werden.

Ein großer Teil der Demonstrationsteilnehmer stand der offiziellen Kundgebung und den Gewerkschaftsrednern sehr distanziert gegenüber. Sie wandten sich auf Transparenten und Sprüchen gegen die Bolkestein-Richtlinie als ganze und gegen die EU-Politik des Sozialdumpings. So verglich ein spanisches Transparent Bolkestein mit "Frankenstein". "Lohn- und Sozialdumping ist die Rückkehr zur Sklaverei!" lautete ein anderes, selbst gemachtes Poster.

Auf einem weiteren Transparent stand: "EU-Parlamentarier: Eure Zeit der Prüfung ist gekommen. Sagt NEIN zur ganzen Bolkestein-Richtlinie!!! Oder wollt ihr doch ein Horror-Europa von Konzern-Aristokraten, prekär Beschäftigten und Sozial-Zombies? Keine faulen Kompromisse - Einfach ganz weg mit B."

Als die Funktionäre aufmarschierten, hörte man eine Stimme: "Hier kommen die Sonntagsreden." Der Rufer, ein älterer Demonstrationsteilnehmer aus dem Saarland, wandte sich mit den Worten an den DGB-Vorsitzenden Michael Sommer: "Wir brauchen einen heißen Herbst und keinen lauen Sommer!"

Michael und Katja, ein junges, berufstätiges Ehepaar aus Saarbrücken, erklärten gegenüber der WSWS : "Wir sind als junge Familie mit Kindern immer von den Kürzungen betroffen. Man muss endlich aufstehen und nicht abwarten, dass andere aktiv werden, deshalb sind wir aktiv geworden." Auf die Frage, was sie von der Gewerkschaft halten, fingen sie an zu lachen: "Es ist ja eigentlich mehr ein Sprungbrett für die Funktionäre. Statt die Interessen der Arbeiter zu vertreten, kommen diese Leute auf Kosten der Gewerkschaftsmitglieder nach oben und sitzen zuletzt in Berlin."

So ein internationales Zusammentreffen wie heute müsse eher zum Gedankenaustausch und zur Diskussion politischer Perspektiven genutzt werden, als dazu, Lärm zu machen und Trillerpfeifen anzuhören, meinten die beiden, die sich Handzettel der WSWS mitnahmen, um sie im Bus zu verteilen.

Walter, ein Chemiearbeiter aus Österreich, äußerte sich pessimistisch in Bezug auf Verbesserungen der Richtlinie: "Das Wichtigste ist die Solidarität unter den Arbeitern - egal aus welchem Land man kommt. Wir müssen alle gemeinsam gegen die Ausbeutung durch das Kapital kämpfen. Ich bin seit Jahrzehnten Betriebsrat und stehe der heutigen Situation weitgehend ohnmächtig gegenüber."

Philipp, ein Drucker aus Dresden, erklärte, er erwarte überhaupt nichts von dieser Demonstration. Früher war er Maler, machte dann in der Arbeitslosigkeit eine Umschulung zum Siebdrucker und ist jetzt immer noch arbeitslos. "Die haben uns doch immer nur für ihre Zwecke benutzt", sagte er.

Siehe auch:
Der Kampf gegen die EU-Institutionen erfordert eine sozialistische Perspektive
(10. Februar 2006)
Protest gegen die Bolkestein-Richtlinie in Straßburg: Eine Demonstration als Alibi-Veranstaltung
( 13. Februar 2006)
40.000 demonstrieren in Berlin
( 13. Februar 2006)
Loading