Großbritannien

Lehren aus der Londoner Antiterrorrazzia

Die Freilassung von zwei unschuldigen Männern, die am 2. Juni bei einer Polizeirazzia im Londoner Stadtteil Forest Gate verhaftet worden waren, unterstreicht den zweifelhaften Charakter sämtlicher Behauptungen, die von Seiten der Regierung, Polizei und Sicherheitskräfte im "Krieg gegen den Terror" aufgestellt werden.

Rund 250 Polizisten waren bei der frühmorgendlichen Razzia in dem verarmten Einwandererstadtteil in Ostlondon zum Einsatz gelangt. Im Visier der Razzia befanden sich zwei Häuser, in denen die Brüder Mohammed Abdul Kahar und Abdul Koyair nach Geheimdiensterkenntnissen eine chemische Bombenfabrik betreiben sollten.

Die Razzia war brutal. Fünfzig zum Teil bewaffnete, schwarz gekleidete und vermummte Polizisten brachen die Haustür auf und stürmten hinein, ohne die Bewohner zu warnen, dass es sich um eine Polizeiaktion handelte. Kurz danach erhielt Koyair einen Schuss in die Schulter, die Umstände dieser Verletzung bleiben weiterhin im Dunkeln. Er wurde ins Krankenhaus gefahren, während man seinen Bruder in eine Hochsicherheitszelle in der Polizeistation Paddington Green brachte.

Weitere Mitglieder der Familie, die sich im benachbarten Gebäude aufhielten, berichteten, dass sie im Zuge der Razzia körperlich misshandelt wurden, wobei ein Mann ernste Kopfverletzungen erlitt und im Krankenhaus behandelt werden musste.

Nur wenige Stunden nach der Razzia tauchten die ersten Fragen auf: Warum waren so viele Polizisten daran beteiligt? Warum war ein Flugverbot über die Gegend verhängt worden, und warum trugen die Polizisten Schutzkleidung, während gleichzeitig nichts unternommen wurde, um die Bewohner des Viertels zu evakuieren?

Zwölf Stunden nach ihrer Verhaftung wurden alle Nachbarn freigelassen, ohne dass ein Restverdacht gegen sie bestand.

Innerhalb von 24 Stunden war klar, dass die Polizei keine Spur von Chemikalien gefunden hatte und noch weniger eine Selbstmordattentäterausrüstung, nach der sie einigen Berichten zufolge gesucht hatte. Es sickerte ebenfalls durch, dass die Razzia aufgrund von Informationen stattfand, die sich nur auf eine einzige Quelle stützten. Trotzdem erhielt die Polizei am 7. Juni die Erlaubnis, die beiden Brüder für weitere 48 Stunden in Gewahrsam zu halten, nachdem der ursprüngliche Haftbefehl abgelaufen war.

Politische Zweckdienlichkeit

Seitdem die beiden Brüder am 9. Juni von jedem Verdacht freigesprochen und entlassen wurden, sind noch mehr Details an die Öffentlichkeit gedrungen, die vor allem die Ereignisse im Vorfeld der Razzia betreffen.

Laut einer Reihe von Berichten bestand der ursprüngliche Hinweis aus einem Anruf bei der "Antiterror-Hotline". Der Anrufer soll behauptet haben, das Haus sei die Produktionsstätte für eine Chemieweste, die im Falle ihrer Explosion im weiten Umkreis Zyanid oder Saringas verbreiten würde. Die Behauptung ist offenkundig bizarr, da eine Explosion die vorhandenen Chemikalien zerstört hätte und eine solche Gerätschaft einmalig wäre.

Insbesondere die Tageszeitung Observer veröffentlichte am 11. Juni einen vernichtenden Bericht, dem zufolge sich die Regierung zur Durchführung der Razzia entschloss, obwohl Scotland Yard den Inlandsgeheimdienst MI5 gewarnt hatte, dass "ernsthafte Bedenken bezüglich der Glaubwürdigkeit" der Quelle bestünden.

"Regierungsquellen sagten gestern Abend gegenüber dem Observer, dass die Bedenken die Befehlskette hinauf weitergereicht worden seien und hochrangige Vertreter im Büro von Sir Richard Motten, dem Sicherheits- und Geheimdienstkoordinator der Regierung, erreicht hätten. Doch trotz der Bedenken sei die Polizei angewiesen worden, einzudringen.

‘Es handelte sich nicht so sehr um die Tatsache, dass die Informationen auf einer einzelnen Quelle beruhten sondern dass die Polizei die Glaubwürdigkeit der Quelle bezweifelte’, sagte ein Regierungsvertreter. ‘Das geheimdienstliche Material war zweifelhaft. Am Donnerstagabend [wenige Stunden vor der Razzia] tauchten Widersprüche über die Aussagekraft des geheimdienstlichen Materials auf. Schließlich wurden die Beamten im Kabinettbüro darüber in Kenntnis gesetzt, dass die Polizei glaubte, sie könnte wegen der Qualität dieser geheimdienstlichen Erkenntnisse in Schwierigkeiten geraten.’"

Der Bericht des Observer enthielt noch ein weiteres wichtiges Eingeständnis: "Wie bekannt wurde, rechnete die Polizei lediglich damit, einen Auslöser oder Zündmechanismus zu finden, nicht alle Bestandteile für den Bau einer Chemiebombe. ‘Es wäre für einen Bombenbauer einmalig, ganze Bomben in einem Familienwohnhaus herzustellen’, sagte eine Person, die sich in diesen Fragen auskennt."

Wenn dies der Fall war, so gab es für das Entsenden von 250 Polizisten und die Verhängung einer Flugverbotszone keinen anderen Grund, als dass es politisch zweckdienlich erschien.

Die staatlichen Stellen rechneten offensichtlich damit, etwas relativ Ungefährliches zu finden, wollten die Gelegenheit aber für eine Aufsehen erregende und erfolgreiche Antiterrorrazzia nutzen. Dies hätte nicht nur das allgemeine Gerede vom "Krieg gegen den Terror" gerechtfertigt, sondern auch von sehr realen, wachsenden Problemen der Regierung abgelenkt.

Seit Wochen steht die Regierung im Feuer einer Medienkampagne, die dem Innenministerium vorwirft, es habe Recht und Ordnung nicht nachdrücklich genug durchsetzt und sei insbesondere zu lasch gegen kriminelle Ausländer vorgegangen. Das Innenministerium wollte daher seine Schlagkraft unter Beweis stellen. Nur wenige Tage vor der Operation im Stadtteil Forest Gate hatte der neu ernannte Innenminister John Reid in einer schusssicheren Weste an einer Razzia gegen Einwanderer in London teilgenommen.

Zudem befinden sich Regierung und Polizei unter Druck, da in Kürze der Bericht zum Tod von Jean Charles de Menezes erscheint, dem unschuldigen Brasilianer, der im vergangenen Juli von der Polizei in der Londoner U-Bahn erschossen wurde. Der Bericht der Unabhängigen Beschwerdekommission der Polizei liegt der Zeitung News of the World bereits vor. In ihm findet sich eine Reihe von Kritikpunkten an der Operation vom 21. Juli 2005, die zum Rücktritt von Polizeichef Sir Ian Blair und Mordanklagen gegen mehrere Polizisten führen könnten.

Die Medien rechtfertigen antidemokratische Maßnahmen

Während dieser Ereignisse haben die Medien die Offensive der Regierung gegen demokratische Rechte verteidigt und sich als Sprachrohr für ihre Propaganda zur Verfügung gestellt.

Laut offiziellen Zahlen des Innenministeriums sind bis zum 30. September 2005 insgesamt 895 Menschen nach dem neuen Antiterrorgesetz verhaftet worden, von denen lediglich 23 wegen Straftaten im Zusammenhang mit Terrorismus verurteilt wurden. Am 12. Juni verwies der Guardian auf eine Reihe von Razzien im Januar 2002, die zur Verhaftung von sechs Männern wegen des Verdachts auf Herstellung von chemischen Bomben geführt hatten. Nach wenigen Tagen waren alle wieder auf freiem Fuß, ohne dass Anklage erhoben wurde, da die Anschuldigen des einzigen Informanten in sich zusammengebrochen waren.

Die Medien wissen dies alles nur zu gut. Trotzdem hat die Presse selbst nach dem Tod von de Menezes die Behauptungen der Regierung und der Polizei zur Razzia in Forest Gate größtenteils unkritisch nachgeplappert. Und als sich die Geschichte aufzulösen begann, wurden Falschinformationen, die wahrscheinlich aus offiziellen Quellen stammten - wie z.B. die Behauptung, der eine Bruder sei vom anderen angeschossen worden - einfach von den Medien wiedergekäut und aufbereitet. Verleumdung und Rufmord standen auf der Tagesordnung.

Selbst jetzt, wo der Misserfolg der Razzia öffentlich eingestanden wurde, verteidigen und rechtfertigen sie die Tageszeitungen aus dem gesamten politischen Spektrum weiterhin.

Die rechtslastige Daily Mail veröffentlicht Kommentare von Richard Littlejohn, der seine Leser drängt, die Sache "aus Sicht der Polizei zu betrachten. [...] Was zur Hölle soll sie tun? Sich fern halten aus Angst, die ‘Öffentlichkeit’ könne sich auf die Füße getreten fühlen?" Melanie Phillips entdeckte eine ganz neue Sichtweise. Sie vermutet, der Hinweis auf die angebliche Bombenfabrik sei Teil einer "Strategie von Al Qaida, Verstellung und falsche Spuren zu nutzen, um ihre Terrorziele zu verschleiern. [...] MI5-Quellen sind angeblich besorgt, dass sie hereingelegt wurden."

Der liberale Observer nahm schon in der Überschrift Stellung: "Besser eine verpfuschte Razzia als ein erneuter Terrorakt".

Eine Bilanz des "Kriegs gegen den Terrorismus"

Solche Behauptungen passen auf das Beste zur Haltung der Regierung und der Sicherheitsbehörden.

Premierminister Tony Blair verteidigte die Razzia mit der Begründung, die Polizei müsse "Spuren nachgehen und in Aktion treten, wenn sie über eine passable geheimdienstliche Information verfügt. [...] Ich fürchte, es ist ein Bestandteil der modernen Welt, dass Sie mit einem höheren Maß an Vorsicht von Seiten der Sicherheitsbehörden und unserer Polizei leben müssen."

Ein hochrangiger Mitarbeiter der Terrorabwehr betont auch, dass Operationen wie die in Forest Gate auch weiterhin stattfinden werden: "Dutzende von Angriffen mit Massen an Opfern werden gegen das Vereinigte Königreich vorbereitet, und wenn uns etwas vorliegt, das wir für eine wirkliche geheimdienstliche Erkenntnis halten, nach der Leben in Gefahr ist, dann müssen wir handeln."

Wie lautet die Bilanz des so genannten Kriegs gegen den Terror? International diente er als Rechtfertigung für einen blutigen kolonialen Eroberungskrieg, der die Weltpolitik destabilisiert hat und die wichtigste Basis für die Anwerbung von Terroristen darstellt.

In Großbritannien hat er zur Verhaftung von Hunderten unschuldiger Menschen geführt und ebenso zur Einführung einer Politik der gezielten Todesschüsse, durch die bereits ein Mann gestorben ist und ein anderer schwer verwundet wurde.

Die Liste angeblicher Terrorbedrohungen, die sich als vollkommen fiktiv erwiesen haben, wächst von Tag zu Tag. Im Gegensatz dazu haben die Sicherheitskräfte einen tatsächlichen Terroranschlag nicht verhindert, obwohl mehrere der Bombenleger unter ihrer Beobachtung standen. Zudem erwiesen sich die staatlichen Notfallpläne trotz der regelmäßigen Übungen von Polizei und Rettungskräften in der Hauptstadt als unzulänglich.

Der Bericht der London Assembly zu den Bombenattentaten vom 7. Juli 2005 wurde größtenteils von der Razzia in Forest Gate überschattet. Doch seine Ergebnisse zeigen anschaulich, wie wenig ernst die Regierung ihre eigenen Warnungen vor Terroranschlägen nimmt.

Trotz der "unglaublich mutigen Taten" von Rettungsarbeitern, U-Bahnmitarbeitern und gewöhnlichen Leuten bemerkt der Bericht, dass die Rettungsarbeiten durch einen schweren Mangel an Ressourcen und das Scheitern der Kommunikation zwischen den Notfallkräften stark beeinträchtigt wurden. Die Feuerwehr musste Boten einsetzen, die die Rolltreppen hoch und runter rannten, um an Informationen zu gelangen. 18 Jahre nachdem ein Bericht zum Feuer in der U-Bahnstation King’s Cross dies angemahnt hatte, existierten immer noch keine digitalen Funkgeräte, die eine Kommunikation im unterirdischen Bereich erlaubt hätten. Die Londoner Rettungswagen waren überfordert, es fehlte an Tragen und anderer Grundausstattung. Ein Sanitäter beschrieb, wie er ins Kaufhaus rennen und Mullbinden besorgen musste.

Eine grundlegende Lehre muss aus der Razzia von Forest Gate gezogen werden.

Die gängige Rechtfertigung für jeden staatlichen Übergriff auf grundlegende demokratische Rechte lautet, dass die Freiheitsrechte einiger Weniger geopfert werden müssen, um die Mehrheit zu beschützen. Man solle dem Staat vertrauen, dass er die ihm gewährten Vollmachten nicht missbrauchen werde.

Jene, die Forest Gate bloß als einen unglücklichen Irrtum darstellen, der nicht vom notwendigen Kampf gegen die Terrorgefahr ablenken dürfe, wollen diese Lüge aufrecht erhalten. Tatsächlich hat die Razzia einmal mehr gezeigt, dass die Regierung wesentlich stärker damit beschäftigt ist, ihre räuberische Außenpolitik und antidemokratische Innenpolitik zu rechtfertigen, als sich um die Sicherheit der britischen Bevölkerung zu sorgen.

Siehe auch:
Lügen der Regierung um den Mord an de Menezes aufgedeckt
(20. August 2005)
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