Australien: Flügelkämpfe in der australischen Labor Party zeigen - Krise des parlamentarischen Systems verschärft sich

Nach der Veröffentlichung einer Reihe von Indiskretionen mit dem Ziel, entweder Premierministerin Julia Gillard oder ihrem gestürzten Vorgänger Kevin Rudd zu schaden, tobt in der australischen Labor Party eine interne Schlacht. Hierbei handelt es sich um weit mehr als einen vorübergehenden Flügelkampf.

Die Auseinandersetzungen drohen den Wahlkampf der Partei scheitern und Gillards Regierung zur ersten werden zu lassen, die seit der unglückseligen Scullin-Regierung von 1929-31 bereits nach einer Amtszeit abgewählt wird. Langfristig gesehen könnte der Flügelkampf angesichts der internen Fäulnis und Zersetzung sogar zum Auseinanderbrechen der Partei selber führen.

An der Wende zum 20. Jahrhundert erklärte die marxistische Bewegung, dass die Labor Party hauptsächlich als Wahlmaschine funktioniere, mit dem Ziel, Ämter zu besetzen. Vor fast einhundert Jahren schrieb der russische Bolschewist Grigori Sinowjew, dass die Partei nur etwa alle drei Jahre im Wahlkampf zum Leben erwache, wenn kleine Bürokraten aus den Gewerkschaften auftauchten, um über die Rücken der Arbeiter kriechend ihren Weg ins Parlament zu finden.

Bisher gab es kein schlimmeres Vergehen für ein Mitglied der Labor Party, insbesondere gewählte Abgeordnete, als einen Wahlkampf zu sabotieren. Der Ausbruch eines heftigen Flügelkampfes mitten in dieser Kampagne hat daher tiefe historische Bedeutung.

Die unmittelbaren Ursachen des Konfliktes liegen in dem beispiellosen Putsch gegen Rudd – zum ersten Mal wurde ein Premierminister gestürzt, ohne die Chance zu bekommen, erneut zu kandidieren. Aber die eigentlichen Ursachen gehen tiefer. Sie liegen in den umfassenden Veränderungen, die in den vergangenen drei Jahrzehnten in der politischen Landschaft stattgefunden haben.

Während des Nachkriegsbooms, der vom Ende der Vierziger Jahre bis in die Mitte der Siebziger andauerte, wurde der interne Zusammenhalt der Labor Party dadurch gewährleistet, dass die verschiedenen Fraktionen, was auch immer ihre ideologischen Differenzen gewesen sein mögen, am gemeinsamen Programm nationaler Reformen durch das Parlament festhielten.

Die Labor-“Linken” und sogar die “zum Sozialismus neigenden” Mitglieder haben nie vorgeschlagen, dass die Arbeiterklasse außerhalb des parlamentarischen Rahmnes gegen das Profitsystem kämpfen sollte. Gleichzeitig erkannten die „rechten“ Fraktionen immer die vitale Funktion der „Linken“ an, die militanteren Teile der Arbeiterklasse innerhalb der Grenzen der parlamentarischen Demokratie zu halten. Wie es in den Führungskreisen der Labor Party hieß, brauchte die Partei zwei Flügel zum Fliegen.

Die weitreichenden ökonomischen und sozialen Umwälzungen der vergangenen dreißig Jahre haben die Flügel der Partei jedoch vollkommen verändert. Das Programm nationaler Reform und Regulierung – die gemeinsame Perspektive, auf die sich alle Fraktionen in der Vergangenheit gründeten – ist durch die Globalisierung der Produktion, die in der Mitte der Achtziger Jahre begann, zerstört worden.

Unter den Regierungen Hawke und Keating sind die sogenannten „linken“ Fraktionen in der australischen Labor Party (ALP) und den Gewerkschaften zusammen mit den stalinistischen Gewerkschaftsführern zu den Hauptverfechtern des Programms ökonomischer „Restrukturierung“ im Interesse „internationaler Wettbewerbsfähigkeit“ und der Zerschlagung der organisierten Arbeiterbewegung geworden, die damit einherging.

Nach 13 Jahren Labor-Regierungen war die Massenbasis der Partei total auseinandergebrochen. Zu Beginn der Neunziger Jahre war sie nur wenig mehr als ein staatlich subventionierter Wahlapparat.

In zunehmendem Maße wurde der “freie Marktes” zum Leitmotiv der Partei. Die alten ideologischen Differenzen zwischen den verschiedenen Fraktionen lösten sich auf, während man jegliche Verbindung zur Arbeiterklasse verlor. Die Fraktionen verwandelten sich in einander unbarmherzig bekämpfende Cliquen – einige mit dem Etikett „links“, andere mit dem Etikett „rechts“ - die unterschiedliche Methoden anwandten, so wie die Manipulation von Ortsverbänden durch das gezielte Platzieren von Funktionären vor einer Wahl und die Benutzung von staatlichen Wahlfonds von Parlamentariern zur Sicherung von Positionen, die Privilegien, Macht und Einfluss boten.

Dieser Prozess wurde im bevölkerungsreichsten Staat New South Wales am weitesten getrieben. Er fand seinen höchsten Ausdruck in der Staatsregierung des früheren Labor-Premiers Bob Carr, dessen Hauptbeschäftigung darin bestand, den Nachrichtenfluss zu managen und zu manipulieren, um an der Macht zu bleiben.

In den drei Jahren der Rudd-Regierung wurde mit denselben Methoden gearbeitet – teilweise mit denselben Fraktionsschwergewichten, wie vorher in NSW. Als die Bergbaukonzerne ihre Kampagne gegen Premierminister Rudd und seine Rohstoff-Superprofit-Steuer im Wahljahr zu verschärfen begannen, traf das mit einem jähen – und stark manipulierten – Absturz von Rudds Popularität in einer Reihe von Meinungsumfragen zusammen. Die Führer der Fraktionen waren verzweifelt bemüht, eine Wahlniederlage zu vermeiden. Sie sind mit einer Unzahl von Banden mit der Bergbau- und der Finanzindustrie verbunden und reagierten mit dem Putsch vom 23. – 24. Juni. Als Rechtfertigung führten sie dabei die Ergebnisse der Meinungsumfragen ins Feld.

Rudds Rausschmiss war das Produkt einer über drei Jahrzehnte andauernden immer tiefer gehenden Degeneration des gesamten Systems sogenannter „parlamentarischer Demokratie“.

Jede parlamentarische Regierung, egal welcher politischen Färbung, dient den Interessen der herrschenden Konzern- und Finanzeliten, nicht denen „des Volkes“, von dem die Macht angeblich ausgeht.

Natürlich muss sie die Bedürfnisse und Erwartungen der Bevölkerung berücksichtigen, aber nicht, um sie zu befriedigen. Vielmehr besteht die Kunst des Regierens in einem bürgerlichen parlamentarischen System darin, immer neue Mittel und Wege zu finden, die Forderungen der herrschenden Schicht von oben durchzusetzen, während die von unten abgeschmettert oder zumindest neutralisiert werden.

Während des kapitalistischen Nachkriegsbooms erreichten sowohl liberale als auch Labor-Regierungen dies mit der Durchsetzung begrenzter Reformen und Zugeständnissen. Aber das Problem, das seit den 1980ern immer stärker unter den Nägeln brennt, heißt: Wie setzt man eine „Reform“-Agenda im Interesse der herrschenden Eliten durch, die den Interessen der breiten Mehrheit der Bevölkerung diametral entgegensteht?

Wegen starker verbliebener Illusionen der Arbeiterklasse in die Gewerkschaften und die Sozialdemokratie gelang es der Hawke-Keating-Regierung, sich jahrelange Wahlunterstützung zu sichern – trotz wachsender Feindseligkeit gegenüber ihrem “Reform”-Programm von Privatisierungen und ihrer Agenda des „Freien-Marktes“. Zu Beginn der 1990er war diese Unterstützung weitgehend verpufft und einer wachsenden Feindseligkeit der Arbeiterklasse gegenüber der Labor Party gewichen.

Weit davon entfernt, ihre Agenda des “Freien-Marktes”- aufzugeben, hielt die Labor Party immer stärker daran fest, getrieben von den immer drängenderen Forderungen nach „internationaler Wettbewerbsfähigkeit“, die aus der ökonomischen Globalisierung resultierten, insbesondere nach dem Fall der Berliner Mauer 1989, der Auflösung der Sowjetunion 1991 und der zunehmenden Integration Chinas in den Weltmarkt nach 1992.

Diese globalen Veränderungen hatten tiefgreifende Auswirkungen auf das parlamentarische System. Die Schaffung von Mythen und Märchen, gar nicht zu reden von haarsträubenden Lügen, hat in der parlamentarischen Politik immer eine wichtige Rolle gespielt. Seit den 1990er Jahren und vor allem während des vergangenen Jahrzehnts hat dies allerdings immer groteskere Formen angenommen.

Da es zwischen den großen Parteien so gut wie keinen substanziellen Unterschied mehr gibt, sind Diskussionen und das Ausarbeiten von Programmen als Mittel zur Erringung von Mehrheiten einem Rund-um-die-Uhr-System absichtlich herbeigeführten politischen Staubaufwirbelns gewichen. Sowohl die Labor Party, als auch die Liberalen akzeptieren im Großen und Ganzen die Agenda, die die herrschende Klasse verlangt und die sie durch ihre Medien verkünden lässt. Sie transformieren diese Agenda in diverse bedeutungslose Schlagworte, die durch „Zielgruppenbefragung“ und Meinungsforschungsinstitute auf ihre Popularität getestet werden und organisieren bühnenreife Medien-Events, um sie dem Volk zu verkünden. Sobald ein Satz Schlagwörter sich abnutzt, erfindet die Medienabteilung der Partei einen neuen.

Politische Führer werden von ihren Parteien nicht aufgrund ihrer programmatischen oder politischen Positionen ausgewählt, sondern nach ihren Fähigkeiten, diesen Prozess zu managen. Gleichzeitig werden die diejenigen, die den Parteiapparat kontrollieren, zu den mächtigsten Organen der Partei. Wie mächtig, lässt sich an den Schicksalen der letzten Führer beider großer Parteien ablesen.

Im Zeitraum von ganzen sieben Jahren, haben die Labor Party und die Liberale Partei nicht weniger als neun Führer verschlissen. Die Labor Party ist von Simon Crean, Kim Beazley, Mark Latham, Kevin Rudd und jetzt Julia Gillard geführt worden. Die Liberalen Führer waren John Howard, Brendan Nelson, Malcolm Turnbull and now Tony Abbott. Führer werden eingesetzt, bekommen das passende „Image“ verpasst, werden mit Anweisungen auf der Grundlage von Meinungsumfragen versehen und ihrer Ämter enthoben, wenn sich die Bedingungen ändern oder ihre Nützlichkeit sich erschöpft hat.

Es gibt jedoch innerhalb der herrschenden Kreise zunehmende Anzeichen wachsender Unzufriedenheit mit der Funktionsweise dieses Systems. Während es in den letzten beiden Jahrzehnten angemessen funktioniert haben mag – einer Periode allgemeinen Wirtschaftswachstums weltweit und in Australien – haben die Schocks der globalen Finanzkrise und die gewaltigen Verschiebungen in den geopolitischen Beziehungen, die sich aus dem Aufstieg Chinas ergeben, die Situation dramatisch verändert.

Die Kampagne, die die großen transnationalen Bergbaukonzerne gegen die von der Rudd-Regierung vorgeschlagene Rohstoff-Steuer geführt haben, ist symptomatisch für eine neue wirtschaftliche Realität, vor die sich alle Regierungen gestellt sehen. Als Rio-Tinto-Chef Tom Albanese in einer Rede vom 8. Juli davor warnte, dass alle Regierungen ihre Lektion aus den australischen Ereignissen lernen sollten, sprach er für das globale Kapital als Ganzes: Maßnahmen nationaler Regierungen, die sich seinen Interessen widersetzen, werden nicht geduldet.

Diese Botschaft ist durch zwei Leitartikel großer Zeitungen unterstrichen worden. Dem Australian zufolge irrte das Blatt, als es Rudd 2007 unterstützte. Statt wie ein „ökonomischer Liberaler“ zu handeln, wie er es im Wahlkampf 2007 versprochen hatte, habe er sich seitdem als „Blatt im Wind“ erwiesen. In der Tat habe er „die Labor Party zu verschwenderischen Ausgaben geführt und die Rolle der Regierung in der Wirtschaft gestärkt“.

Der Australian Financial Review wurde noch deutlicher. In einem Leitartikel mit der Überschrift „Mut zur Überzeugung zeigen!“, der besser „Lasst die Marktkräfte wüten!“ geheißen hätte, verlangte man, dass Gillard „uns sagt, wie sie uns in der dynamischsten Region der Welt wettbewerbsfähiger zu machen plant“.

Die herrschenden Eliten stehen vor dem Problem, dass die Maßnahmen, die sie verlangen – Sparprogramme mit verheerenden Auswirkungen für Millionen Werktätige – nicht innerhalb der gegenwärtigen politischen Strukturen in Kraft gesetzt werden können. Dies ist die Bedeutung der Kritik, die in allen Bereichen der öffentlichen Medien geäußert wurde. Die inhaltliche Leere der Wahlkampagne 2010 wurde in einem Leitartikel zusammengefasst, der im Weekend Australian vom 31. Juli-1. August veröffentlicht wurde.

“Diese Wahlkampagne”, so begann der Leitartikel, „wird nicht durch einen Wettstreit der Ideen charakterisiert, sondern durch die Kunst professionellen Kampfes zwischen professionellen Politikern, die weder willens, noch in der Lage sind, den nationalen Interessen zu dienen. Die Schlacht zwischen Julia Gillard und Tony Abbott hat die Erschöpfung zeitgenössischer Politik enthüllt. Dies ist eine Entwicklung, die bedeutsame Risiken mit sich bringt und Zweifel sät, ob unsere gewählten Repräsentanten überhaupt willens sind, zu regieren und nicht nur Macht auszuüben.“

Dem Leitartikel zufolge bedeutet das Aufstreben “energiegeladener kluger politischer Kommunikatoren“ vielleicht zum ersten Mal „den Triumph der politischen Klasse über nationale Interessen.”

In anderen Worten: die Konzentration auf politische Manöver und das Verfolgen kurzsichtiger, von Wahlergebnissen getriebener Politik, manipuliert durch Fraktionen und Cliquen, hat die Durchsetzung des Programms, das die herrschenden Eliten fordern, blockiert. In diesem Zusammenhang gesehen, ist der Flügelkampf der Labor Party der Ausdruck eines tiefer gehenden Prozesses – eine Krise nicht nur der ALP, sondern des gesamten politischen Systems.

Bezeichnenderweise hat der Australian sich im Verlauf des Wahlkampfes nur einmal enthusiastisch gezeigt: als Gillard auf eine Indiskretion antwortete, sie habe sich gegen einen bezahlten Elternurlaub wie auch gegen eine Erhöhung der Renten gewandt. Sie erklärte, dass sie im Kabinett gefragt habe, ob man sich diese Maßnahmen denn leisten könne. Ein Leitartikel begrüßte ihre „schneidige Widerstandsfähigkeit“ und ihren „Einsatz für steuerliche Disziplin“ und erklärte, es handle sich hierbei „um eine Seite von Frau Gillard, von der wir mehr sehen wollen, wenn sich der Wahlkampf entfaltet.“

Man braucht nicht viel Phantasie, um sich eine Zeit vorzustellen, in der der Australian unter Bedingungen einer größeren ökonomischen oder geopolitischen Krise nach einem starken Mann oder einer starken Frau ruft und von ihm oder ihr verlangt, die zersplitterten parlamentarischen Gruppierungen, die dem „nationalen Interesse“ so schlecht gedient haben, hinwegzufegen und die notwendigen – autoritären – Notmaßnahmen zu ergreifen, um die Herrschaft der Bourgeoisie zu stützen.

Noch ist diese Zeit nicht gekommen, aber der politische Putsch, der Rudd unter Einbeziehung außerparlamentarischer Kräfte aus dem Amt trieb, und die zunehmende Feindseligkeit herrschender Kreise gegenüber dem gegenwärtigen parlamentarischen System zeigen, dass sie möglicherweise nicht mehr in weiter Ferne liegt.

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