Perspektive

Die Bluttat von Oslo

Der Terroranschlag von Oslo, dem am Freitag mindestens 92 meist jugendliche Menschen zum Opfer fielen, wird oft mit dem Bombenanschlag von Oklahoma City im Jahr 1995 verglichen, der ebenfalls einen rechtsradikalen Hintergrund hatte. Auch Massaker an Schulen – wie der Columbine High School im US-Bundesstaat Colorado und dem deutschen Erfurt und Winnenden – werden zum Vergleich herangezogen.

Doch die Bluttat von Oslo hat eine neue Qualität. Erstmals hat sich die Gewalttat eines Rechtsextremen direkt gegen eine politische Partei gerichtet, die in seinen Augen – ungeachtet ihrer tatsächlichen Politik – den „Kultur-Marxismus“, den „Multikulturalismus“, den Internationalismus und ganz allgemein die Linke verkörperte.

Anders Behring Breivik, der am Tatort von der Polizei verhaftet wurde, suchte sich als Ziel seines Bombenanschlags den Amtssitz des sozialdemokratischen Regierungschefs Jens Stoltenberg aus, um dann auf der Insel Utoya, auf der die Norwegische Arbeiterpartei seit Jahrzehnten ihre Jugendlager abhält, ein kaltblütiges Massaker an minderjährigen Teilnehmern zu verüben. Es handelt sich um einen politisch motivierten Terroranschlag eines Faschisten gegen eine sozialdemokratische Partei.

Alles, was bisher über den Täter bekannt wurde, deutet darauf hin, dass es sich um eine gezielte politische Aktion und nicht um die Tat eines unkontrollierten Psychopathen handelt. Breivik bereitete den Anschlag zwei Jahre lang vor und führte ihn mit akribischer Präzision durch. Anders als viele Amokläufer richtete er sich am Ende nicht selbst, sondern ergab sich widerstandslos der Polizei.

Es ist bezeichnend, dass der Anschlag in Norwegen stattfand, einem kleinen und wohlhabenden Land, das von seinen Ölvorkommen profitiert. Seine Sozialleistungen – die im Vergleich zu anderen europäischen Ländern mit massivem Sozialabbau relativ großzügig sind – haben viele zur Vorstellung verleitet, es handle sich um ein skandinavisches Utopia, das die Möglichkeit von Frieden und Wohlstand unter kapitalistischen Voraussetzungen beweist. Die Tragödie von Oslo hat diese selbstzufriedene Auffassung zerstört.

Ob Breivik alleine handelte oder Mittäter, Helfer oder Mitwisser hatte, ist bisher nicht geklärt. Klar ist dagegen, dass die politischen Ideen, die seiner Tat zugrunde lagen, nicht die eines Einzelgängers sind. Breivik hat in rechtsextremen Blogs eine breite Spur hinterlassen und kurz vor der Tat per E-Mail ein 1.500-seitiges Konvolut versandt, das Rückschlüsse auf seine Gedankenwelt zulässt. Sie stützt sich auf ideologische Quellen, die bis weit ins bürgerliche Lager hinein Unterstützung finden – auch in der Sozialdemokratie.

Im Mittelpunkt steht der Hass gegen Muslime, der im Weltbild der heutigen Faschisten die Rolle des Antisemitismus der Nazis eingenommen hat. Die Warnung, islamische Immigranten zerstörten die nationalen Kulturen Europas, durchzieht Breiviks schriftliche Äußerungen wie ein roter Faden. Mit dem Massenmord wollte er „offenbar auf krude Art ein Fanal gegen Islamismus und eine multikulturelle Gesellschaft setzen“, schreibt WeltOnline, die seine Blogeinträge analysiert hat.

Die Linke, der „kulturelle Marxismus“, der „Multikulturalismus“ und die „politische Korrektheit“ gelten ihm als Hindernis, das die Verteidigung der nationalen Kultur verhindert. In einem Blog-Eintrag zählt er neben der Arbeiterpartei „100 Prozent der nationalen Medien-Unternehmen“ und „98 Prozent der norwegischen Journalisten“ zu diesen Kategorien.

Von 1997 bis 2007 war Breivik Mitglied der norwegischen Fortschrittspartei und deren Jugendorganisation. Die Fortschrittspartei gewann bei den Parlamentswahlen 2005 und 2009 jeweils über zwanzig Prozent der Stimmen. Ursprünglich als Steuersenkungspartei gegründet, vertritt sie heute eine Mischung aus sozialer Demagogie und ultraliberaler Wirtschaftspolitik, gepaart mit Islamophobie und Fremdenhass.

Erst im vergangenen Jahr warfen zwei führende Mitglieder der Fortschrittspartei den Sozialdemokraten vor, sie hätten der norwegischen Kultur einen „Dolchstoß in den Rücken versetzt“. „Es ist die Arbeiterpartei, die uns jedes Jahr Tausende von neuen Norwegern von unterschiedlichen Kulturen und Unkulturen gibt“, schrieben sie in der Zeitung Aftenposten. Das unterscheidet sich nicht von den Ansichten Breiviks.

Das 1.500-seitige Machwerk, das Breivik kurz vor der Tat unter dem Titel „2083 – A European Declaration of Independence“ versandte, ist eine Collage von Zitaten „aus der Szene der europäischen Multi-Kulti-Hasser und Islamfeinde“, wie SpiegelOnline festgestellt hat. Die deutsche Web Site „Politically Incorrect“ hat offen eingestanden: „Was er (Breivik) schreibt, sind größtenteils Dinge, die auch in diesem Forum stehen können.“ Die meisten von Breivik verwendeten Zitate stammen von einem Blogger namens Fjordman, dessen Beiträge im Netz weit verbreitet sind.

Bei dieser von SpiegelOnline erwähnten Szene handelt es sich um ein Netzwerk von Blogs und Web Sites, das unter anderem mit der amerikanischen Tea-Party-Bewegung, den österreichischen Freiheitlichen und der britischen English Defence League in Kontakt steht. Im Unterschied zu den traditionellen Neonazis ist dieses Netzwerk ausgesprochen pro-amerikanisch und Israel-freundlich. Es arbeitet sogar vereinzelt mit der Jewish Defence League zusammen.

Die Hetze gegen Muslime und fremde Kulturen beschränkt sich aber nicht auf diese rechten Kreise. Auch zahlreiche europäische Regierungen schüren islamfeindliche Stimmungen, um von den wachsenden sozialen Spannungen abzulenken. So wurde in Frankreich und Belgien das Tragen der Burka gesetzlich verboten – mit Unterstützung der Sozialdemokraten und den Parteien der kleinbürgerlichen „Linken“.

In Deutschland hat Bundeskanzlerin Angela Merkel den „Multikulturalismus“ erst kürzlich kategorisch für gescheitert erklärt. Der ehemalige Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin wird von Breiviks Stichwortgeber Fjordman wegen seiner islamfeindlichen Thesen gelobt und ist nach wie vor Mitglied der SPD.

Auch im Rahmen des „Kriegs gegen den Terror“ wird der Antiislamismus geschürt, um die imperialistischen Kriege im Irak, in Afghanistan und Libyen zu rechtfertigen. Es ist daher mehr als zynisch, wenn US-Präsident Obama auf die Bluttat von Oslo reagiert, indem er zum verstärkten „Krieg gegen den Terror“ aufruft. Tatsächlich hat dieser „Krieg“ direkt zu den schrecklichen Ereignissen in Oslo beigetragen.

Verantwortlich für das Anwachsen der rechten Kräfte ist die Politik aller bürgerlichen Parteien. Eine besonders üble Rolle spielen dabei die sozialdemokratischen Parteien, die nun zu ihrer Zielscheibe geworden sind. Durch den systematischen Abbau des Sozialstaats, die Senkung von Löhnen und die Deregulierung des Arbeitsmarkts, die sie seit Jahren in enger Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften, Grünen und kleinbürgerlichen Ex-Linken durchführen, haben sie die Rhetorik des sozialen Protests völlig den Ultrarechten überlassen. Sie haben eine soziale Krise hervorgerufen, die aufgrund des Fehlens einer alternativen Massenorganisation auf der Linken von den Rechten ausgenutzt wird.

Norwegen bildet hier keine Ausnahme. Jens Stoltenberg hatte sich in seiner ersten kurzen Amtszeit (2000-2001) am britischen New Labour-Premier Tony Blair orientiert, den Sozialstaat radikal gestutzt und wichtige öffentliche Dienstleitungen und Unternehmen privatisiert. 2005 lehnte er sich an Obama an und kehrte unter der Parole „Jens we can“ an die Macht zurück. Seither regiert er in einer rot-grünen Koalition mit der Sozialistischen Linkspartei und der rechten Bauernpartei.

Diese Regierung hat gezielt ausländerfeindliche Stimmungen geschürt. So ließ sie im Januar dieses Jahres die in Russland geborene Schriftstellerin Maria Amelie demonstrativ abschieben, obwohl sie seit neun Jahren in Norwegen lebte und sich eine breite Bewegung zu ihrer Verteidigung gebildet hatte. Gegen erheblichen inneren Widerstand hat sich Norwegen auch am Krieg in Afghanistan und den Luftangriffen auf Libyen beteiligt.

Nun ist die Saat aufgegangen, die auf dem Nährboden des Antiislamismus und der Ausländerfeindlichkeit gedeihen konnte. Die Ereignisse von Oslo sind eine Warnung für die Arbeiterklasse in ganz Europa. Hier braut sich eine große Gefahr zusammen. Alle Zutaten für eine mörderische rechte Bewegung sind vorhanden.

Noch sind die ultrarechten Kräfte klein. Die Hauptgefahr erwächst aus der Unterordnung der Arbeiterklasse unter die Sozialdemokratie, die Gewerkschaften und ihre Verteidiger unter den Ex-Linken. Die daraus resultierende Lähmung der Arbeiterklasse schafft die Voraussetzungen für das Anwachsen des politischen Einflusses der Faschisten.

Die Lehren aus dem Massaker in Oslo zu ziehen, bedeutet, mit der Sozialdemokratie, den Gewerkschaften und ihren Verteidigern zu brechen, neue, demokratische Kampforganisationen der Arbeiterklasse aufzubauen und eine neue, revolutionäre Führung zu errichten. Arbeiter müssen den rechten Demagogen den Boden entziehen, indem sie den Kampf gegen Sozialabbau, Arbeitslosigkeit und Lohnsenkungen auf der Grundlage eines sozialistischen Programms aufnehmen.

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