David North spricht in Berlin: „Die Verteidigung Leo Trotzkis und der historischen Wahrheit“

Am Montag, den 30. Januar, hielten die International Students for Social Equality (ISSE), die Jugendorganisation der Vierten Internationale, in Zusammenarbeit mit der Partei für Soziale Gleichheit (PSG) und dem Mehring Verlag an der Technischen Universität Berlin eine gut besuchte Veranstaltung ab. Thema war „Die  Verteidigung Leo Trotzkis und der historischen Wahrheit.“

Hauptredner war David North, Vorsitzender der internationalen Redaktion der World Socialist Web Site und nationaler Sekretär der Socialist Equality Party in den USA. North ist Autor des Buches „Verteidigung Leo Trotzkis“, das die Trotzki-Biografien der britischen Professoren Geoffrey Swain, Ian Thatcher und Robert Service einer gründlich recherchierten und vernichtenden Kritik unterzieht.

Wolfgang Weber, Lektor des Mehring Verlags, der die deutsche Fassung von Norths Buch veröffentlicht hat,  moderierte die Veranstaltung zusammen mit einem Vertreter der ISSE. Weber sagte, North habe aufgezeigt, dass die Trotzki-Biographien nicht einmal geringsten wissenschaftlichen Standards entsprechen. „Sie beschäftigen sich nicht ernsthaft mit Leben und Werk einer der größten politischen Figuren des 20. Jahrhunderts“, sagte Weber, „sondern sind tendenziöse Werke, die auf Lügen und Geschichtsfälschungen basieren und mit falschen Quellenangaben und – im Falle von Services Buch – mit antisemitischen Klischees arbeiten.“

Weber hob die Bedeutung eines von vierzehn prominenten deutschen und österreichischen Historikern unterschriebenen offenen Briefes hervor, in dem diese gegen die geplante Veröffentlichung der Service-Biografie protestieren. Obwohl die Autoren und Unterzeichner des Briefes verschiedene politische Traditionen und historische Arbeitsfelder vertreten, so Weber, „fühlen sie sich der historischen Wahrheit und der Verteidigung akademischer Standards im Umgang mit der Geschichte verpflichtet.“

Zu Beginn seines Vortrags wies North die Zuhörer auf die Tatsache hin, dass das Treffen auf den Tag genau 75 Jahre nach der Beendigung des zweiten der drei Moskauer Prozesse stattfand. Dieser Prozess endete mit der Verhängung von Todesurteilen gegen wichtige bolschewistische Führer der Russischen Revolution, darunter Georgi Pjatakow, Grigori Sokolnikow, Nikolai Muralow, Leonid Serebriakow and Michail Boguslawski. Ein weiterer Angeklagter, Karl Radek, wurde zu zehn Jahren Haft verurteilt, aber nur zwei Jahre nach dem Prozess ermordet. 

Die drei Moskauer Prozesse – im August 1936, Januar 1937 und März 1938 abgehalten – markierten den Höhepunkt einer Kampagne politischen Terrors. Dieser, so erklärte North, habe sich „nicht nur gegen die bolschewistischen Führer der Oktoberrevolution von 1917 gerichtet, sondern gegen alle Vertreter marxistischer Politik und sozialistischer Kultur in der sowjetischen Arbeiterklasse und Intelligenz.“ Die Prozesse stützten sich ausschließlich auf historische Fälschungen und Lügen. 

Hauptziel der stalinistischen Verleumdungen und Anklagen war Leo Trotzki. Aus seinem Exil in Mexiko wies er die Vorwürfe des Stalin-Regimes zurück und forderte einen „internationalen Gegen-Prozess“. Dieser würde enthüllen, dass die „wahren Verbrecher sich unter dem Gewand der Ankläger verbergen.“ Trotzkis Kampagne zur Zurückweisung von Stalins Prozessen führte zur Bildung der Dewey-Kommission, die Trotzki nach einer neunmonatigen Untersuchung von allen Vorwürfen freisprach und die die Moskauer Prozesse als „abgekartetes Spiel“ verurteilte. 

North wies darauf hin, dass historische Lügen immer eine gesellschaftliche und politische Funktion erfüllen. Er sagte: „Sobald  die herrschende Elite historische Ereignisse als eine Bedrohung ihrer politischen Interessen und ihrer gesellschaftlichen Stellung empfindet, wird sie auf Verdrehungen und Verfälschungen zurückgreifen. Die stalinistische Bürokratie verstieg sich zu den haarsträubendsten Lügen, um ihren Verrat an den Prinzipien der Oktoberrevolution zu vertuschen und den wachsenden Widerspruch zwischen den wirklichen Zielen des Sozialismus und jenen der stalinistischen Bürokratie als einer privilegierten Kaste zu kaschieren.“

Auseinandersetzungen um historische Fragen, so fuhr North fort, betreffen nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Gegenwart und die Zukunft. In diesem Zusammenhang wies er darauf hin, dass Deutschland seine eigenen schmerzlichen Erfahrungen mit der Verfälschung geschichtlicher Wahrheiten gemacht hätte. Er erwähnte die „Dolchstoßlegende“, die nach dem ersten Weltkrieg von der politischen Rechten verbreitet wurde und der zufolge Deutschland den Krieg wegen der verräterischen Ablehnung der Kriegsanstrengungen durch Juden und Revolutionäre verloren hatte. North beschäftigte sich auch mit der „Historiker-Debatte“, die der Veröffentlichung von Fritz Fischers monumentaler Studie „Deutschlands Ziele im ersten Weltkrieg“ folgte. 

Als Fischers Buch 1962 veröffentlicht wurde, wurde die historische Forschung in Deutschland von erzkonservativen Historikern beherrscht, die behaupteten, der erste Weltkrieg sei zum großen Teil das Ergebnis einer Reihe von Irrtümern, die von allen kriegsführenden Mächten begangen worden wären. Die deutsche Regierung trug ihrer Ansicht nach keine besondere Verantwortung für die Katastrophe von 1914.

Fischer aber widersprach dem konservativen Konsens und stützte sich dabei auf ein sorgfältiges Studium neuen Archivmaterials. Er wies nach, dass die aggressive Politik der deutschen Regierung und ihre Bereitschaft, einen Krieg zu riskieren, den geopolitischen, wirtschaftlichen und sozialen Interessen der herrschenden Elite entsprangen. 

North erklärte, dass Fischers Untersuchungsergebnisse das deutsche akademische Establishment und auch die deutsche Regierung verärgerten, weil sie eine Kontinuität zwischen dem ersten und dem zweiten Weltkrieg nachwiesen. Hitlers Politik war nicht länger eine Art „unerwarteter historischer Unfall“. Vielmehr entstammten seine Entscheidungen den seit langem bestehenden und tiefgehenden Interessen der deutschen herrschenden Klasse. Die, die Fischer angriffen, so North, taten dies, weil seine Forschungen es der deutschen Bourgeoisie erschwerten, sich von der Verantwortung für die durch das Dritte Reich begangenen Verbrechen reinzuwaschen.

Als nächstes stellte North die Frage: “Was sind die politischen Notwendigkeiten und die gesellschaftlichen Interessen, die sich hinter den gegenwärtigen Versuchen verbergen, Trotzkis Leben, sein Handeln und seine Persönlichkeit in ein falsches Licht zu rücken?“

Die Antwort lässt sich in der Reaktion der herrschenden Klasse auf den Zusammenbruch der stalinistischen Regime in Osteuropa und die Auflösung der UdSSR finden: “Das Ende der Geschichte wurde verkündet. Der Zusammenbruch der Sowjetunion wurde als unvermeidlich bezeichnet, der Sozialismus hatte versagt und der Kapitalismus war die einzige und beste aller möglichen Welten. In anderen Worten: Es gab zum Kapitalismus keine Alternative.“

Um eine solche Verfälschung der Geschichte mitten in einer tiefgreifenden Krise des Kapitalismus aufrecht zu erhalten, so erklärte North, musste die herrschende Klasse Trotzki diskreditieren. „Das politische Programm, für das Trotzki kämpfte, wird ignoriert und es wird versucht, ihn persönlich als Schurken abzustempeln.“ Dementsprechend wird Trotzki als schlechter Mensch, treuloser Ehemann, liebloser Vater und als arroganter und grausamer Politiker hingestellt. 

Das Ziel rechtsgerichteter Historiker wie Thatcher, Swain und Service besteht darin, zu zeigen, dass Trotzki „genauso schlimm oder vielleicht noch schlimmer war als Stalin“.

Derartige persönliche Angriffe auf Trotzki dienen dazu, die Aufmerksamkeit von wesentlichen Fragen abzulenken, die Historiker ganz besonders interessieren sollten – die Fragen des Programms und der Politik, die hinter Trotzkis Kampf gegen die sowjetische Bürokratie standen. 

“Was sagen sie zu Trotzkis Kritik am Stalinismus, zu Stalins Theorie vom Sozialismus in einem Land, zur Zwangskollektivierung, zur Politik der Kommunistischen Internationale und der KPD, die zu Hitlers Sieg in Deutschland führten?” fragte North und stellte Stalins und Trotzkis Politik im Deutschland von 1933 einander gegenüber. 

Stalin habe auf der Grundlage seiner Theorie vom “Sozialfaschismus” die Gefahr des Faschismus heruntergespielt, indem er die die deutsche Sozialdemokratie zum Hauptfeind der KPD erklärte. Trotzki andererseits habe sich in zahllosen Artikeln und Erklärungen für eine Einheitsfront der beiden Massenparteien der Arbeiterklasse eingesetzt, um die Machtübernahme durch die Nazis zu verhindern. 

Hätte die KPD Trotzkis Politik befolgt, wäre das zwanzigste Jahrhundert anders verlaufen, so North. Selbst wenn es zwischen Stalin und Trotzkis keine andere Meinungsverschiedenheit gegeben hätte,  wäre der Konflikt um die Politik der Kommunistischen Internationale und die KPD im Kampf gegen Hitler von so grundlegender Bedeutung, dass die Behauptung einfach lächerlich sei, Trotzki habe keine politische Alternative dargestellt. 

Am Ende seines Vortrags schlug North einen Bogen vom Kampf um die historische Wahrheit zu den aktuellen politischen Entwicklungen. Er betonte, dass die sozialen Auseinandersetzungen, die sich derzeit in aller Welt entwickelten, nur auf der Grundlage eines sozialistischen Programms zum Erfolg geführt werden können, das sich auf die Lehren des zwanzigsten Jahrhunderts stützt. Ein wissenschaftliches Verständnis der Vergangenheit ist bei der Vorbereitung auf zukünftige Aufgaben von entscheidender Bedeutung und Leo Trotzkis Schriften sind in dieser Hinsicht lebenswichtig“, sagte North. 

Der Vortrag traf bei den Zuhörern auf beträchtliche Zustimmung und wurde mit viel Beifall bedacht. Auf die Frage, wer im Publikum den Vorschlag unterstütze, dass Suhrkamp seine Pläne zur Veröffentlichung der Trotzki-Biografie von Service aufgeben solle, reagierten etwa achtzig Prozent der Zuhörer positiv. Die anschließende Diskussion machte deutlich, dass immer mehr Studenten, Akademiker und Arbeiter nach einer Alternative zum Kapitalismus suchen und sich der sozialistischen Perspektive zuwenden, die von Trotzki und dem Internationalen Komitee der Vierten Internationale vertreten wird.

Das Treffen erregte auch die Aufmerksamkeit der deutschen Medien. Die Berliner Zeitung und die Frankfurter Rundschau veröffentlichten einen Artikel von Christian Schlüter, der in zynischer Weise versucht, die historischen Fragen und Trotzkis prinzipiellen Kampf ins Lächerliche zu ziehen. Dass David Norths Kritik Suhrkamp Probleme bereitet hat, ärgert Schlüter offensichtlich und veranlasst ihn zu dem Schlusssatz: „Einen David North wird man so leicht nicht los.“

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