Israelische Truppen verletzen Waffenstillstand in Gaza

Nach der Ermordung eines Palästinensers an der Grenze durch israelische Truppen ist der Waffenstillstand, der Israels achttägigen Blitzkrieg gegen Gaza beendet hat, wieder in Gefahr.

Anwar Qdeih, 23, wurde mit einem Kopfschuss getötet, als er versuchte, an dem Zaun nahe Chan Yunis im Süden von Gaza eine Hamas-Flagge aufzuhängen. Ungefähr zwanzig weitere Palästinenser wurden verwundet. Israel behauptet, es habe auf „gewaltsame Aktivitäten“ von 300 Demonstranten reagiert.

Das Waffenstillstandsabkommen wurde Israel aufgezwungen, weil Washington befürchtet, dass die geplante Invasion mit Bodentruppen seine Interessen in der Region gefährdet hätte, vor allem die Kampagne gegen Syrien und die Kriegspläne gegen den Iran. Dennoch drohte Premierminister Benjamin Netanjahu: „Wir sind auch auf die Möglichkeit vorbereitet, dass der Waffenstillstand nicht eingehalten wird, und wir wissen, was wir dann zu tun haben.“

 

GazaErgebnisse der israelischen Angriffe auf Gaza [Fotos: Norwegian People’s Aid]

Rechte Gruppen kritisieren Netanjahu, weil er es nicht geschafft habe, tausende von Soldaten nach Gaza zu schicken. Daraufhin war er gezwungen, die politischen Erwägungen hinter „Operation Säule der Verteidigung“ und ihrem Abbruch zu erklären.

Netanjahu erklärte in militärischer Terminologie, dass Israel die Infrastruktur von Gaza und 90 Prozent der iranischen Fadschr-5-Raketen der Hamas mit höherer Reichweite erfolgreich zerstört habe, außerdem die selbstgebauten M-75-Raketen, mit denen sie Tel Aviv und Jerusalem angreifen konnte, und die Abschussanlagen in unterirdischen Raketensilos. Die Operation diente auch als Test für das israelische Raketenabwehrsystem „Eiserne Kuppel“. Nach Angaben der Regierung hat es 85 Prozent der Raketen mit höherer Reichweite abgefangen.

Sie stellte außerdem eine Prüfung für die Hamas und ihre Entschlossenheit dar, fast um jeden Preis eine Einigung mit Israel zu erzielen. Sie hatte bereits de facto ihre Unterstützung für die Kampagne islamistischer Kräfte erklärt, das syrische Regime von Bashar al-Assad zu stürzen, als sie ihr Auslandshauptquartier von Damaskus nach Doha in Katar verlegte. Als Netanjahu den Angriff begann stand die Hamas in geheimen Friedensverhandlungen mit Israel.

Weder Tel Aviv noch Washington wollen die Hamas entmachten, da dies ein Machtvakuum schaffen und einen möglichen Verbündeten gegen Syrien und den Iran ausschalten würde. Einige wichtige Rolle spielt dabei ihre Mutterorganisation, die ägyptischen Moslembruderschaft. Netanjahu erklärte: „Wir haben auch andere Fronten. Wir müssen uns um die Gesamtsituation kümmern.“

Netanjahu betonte vor allem, dass er von der Obama-Regierung – und von Ägypten – unterstützt wurde. Die Unterstützung durch die USA bezeichnete er als „stärkend, effektiv und ausgeglichen“, obwohl er bei der Präsidentschaftswahl kaum verhohlen Obamas Konkurrenten Mitt Romney von den Republikanern unterstützt hatte.

Der ägyptische Präsident Mohammed Mursi und die regierende Moslembruderschaft haben den Waffenstillstand ausgehandelt und sind entschlossen, ihn einzuhalten. Netanjahu hat außerdem gefordert, dass Ägypten die Grenzkontrollen verschärft und sicherstellt, dass keine Waffen nach Gaza kommen.

Ägypten soll außerdem seine Zusammenarbeit mit Israel auf der Halbinsel Sinai verstärken, angebliche Widerstandskämpfer verhaften und die Tunnel in den Gazastreifen abriegeln. Angeblich hat Ägypten bereits begonnen, den Waffenstillstand durchzusetzen. Am Mittwoch beschlagnahmten ägyptische Sicherheitskräfte bei Sheikh Zewayed nahe Gaza drei Raketen.

Die Bruderschaft erklärt zwar zynisch ihre Solidarität mit den Palästinensern, aber sie arbeitet trotzdem mit den USA und Israel zusammen – zuerst in Syrien und jetzt in Gaza. Als Israel seinen Angriff auf Gaza begonnen hatte, begann Mursi sofort in Kairo mit einer diplomatischen Offensive, um einen Waffenstillstand durchzusetzen. Dazu traf er sich mit den Außenministern der Türkei, Deutschlands, Katars und US-Außenministerin Hillary Clinton. Sein Ziel war es, die Entwicklung einer größeren Antikriegsbewegung in Ägypten, Israel und der Region zu verhindern.

Mursi und die Bruderschaft sind genauso von den USA abhängig wie früher das gestürzte Regime von Hosni Mubarak. Ihre internationalen Beziehungen sind für Washington und Tel Aviv zusätzlich von Vorteil. In Tunesien herrscht die „Ennahda-Bewegung“, auch bekannt als die „Renaissance-Partei“ – ebenfalls ein Ableger der Bruderschaft. In Libyen ist die Partei für Freiheit und Entwicklung, die von der Bruderschaft gegründet wurde, heute die zweite Partei des von den USA eingesetzten Regimes. Auch in Syrien gilt die Bruderschaft als allgemein zuverlässiger Stellvertreter der USA in der Oppositionsbewegung gegen Assad. Da ist es kein Wunder, dass Netanjahu seine guten Beziehungen mit Washington und Kairo als „große Errungenschaft für die politische Stabilität Israels und der Region“ bezeichnet.

Ägypten ist nur das schlimmste Beispiel für alle arabischen Regimes. Keines von ihnen hat einen Finger gerührt, um die Palästinenser zu unterstützen, nicht einmal mit einem Öl- oder Handelsboykott gegen Israels Unterstützer oder der Forderung nach „Flugverbotszonen“ oder „Korridoren für humanitäre Hilfe“, die sie regelmäßig für Syrien fordern. Die Palästinenser sind wieder einmal das Bauernopfer im Schachspiel der Regionalmächte.

Die beiden rivalisierenden bürgerlichen Fraktionen der Palästinenser wurden als politisch bankrott entlarvt.

Der „Präsident“ der Palästinensischen Autonomiebehörde Mahmud Abbas und seine Fatah-Fraktion haben sich durch ihre Weigerung diskreditiert, sich gegen Israel zu stellen und sich wieder einmal selbst als Marionetten Washingtons und Aufpasser Israels entlarvt.

Erst zwei Tage nach den pausenlosen Angriffen Israels auf Gaza hielt Abbas eine verspätete und halbherzige Rede gegen den Angriff.

Als wütende Palästinenser im Westjordanland für die Unterstützung von Gaza demonstrierten und in Parolen ein Ende des Friedensvertrages von Oslo forderten und die Verhandlungen mit Israel als Betrug bezeichneten, befahl die Fatah den palästinensischen Sicherheitskräften, zu verhindern, dass die Demonstranten durch die Grenzposten nach Israel eindrangen und sie zu verhaften. Dann schritten israelische Soldaten ein, feuerten mit scharfer Munition, Stahlkugeln mit Gummimantel und Tränengas. Mindestens zwei Palästinenser wurden getötet.

Noch wichtiger ist vielleicht die Bereitschaft, die die Hamas gezeigt hat, den nächsten Schritt zum Aufbau einer neuen Beziehung zu Israel zu machen, nachdem sie sich jahrelang als militante Opposition gegen die Kollaboration der Fatah dargestellt hatte.

Die schiitische libanesische Partei Hisbollah, die zusammen mit der Hamas bisher als „Bogen den Widerstandes“ galt, der sich vom Iran und Syrien über Libanon bis nach Gaza gegen Israel spannt, trug ebenfalls zu dem Krieg Israels gegen die Palästinenser bei. Hassan Nasrallah, der Anführer der Hisbollah, veröffentlichte eine oberflächliche Stellungnahme, in der er Israel verurteilte, weigerte sich aber, eine zweite Front gegen Israel zu eröffnen. Er rief nicht einmal zu Massendemonstrationen zur Unterstützung der Palästinenser auf. Scheich Hasan Ezzedine, ein hochrangiger Funktionär antwortete im Daily Star auf die Frage, ob sich die Hisbollah einmischen werde: „Das ist noch zu früh. Das palästinensische Volk hat bisher gezeigt, dass es in der Lage ist, sich gegen Israels Aggressionen zu wehren.“

Netanjahus politische Kalkulationen beruhen auf der Fähigkeit dieser bürgerlichen arabischen Kräfte, den Widerstand gegen Israel und Washingtons imperialistische Ansprüche auf die Energiereserven im Nahen Osten unter Kontrolle zu halten. Innenpolitisch verlässt er sich auf die Schwäche des Widerstandes der offiziellen „politischen Linken“ gegen den Militarismus. Wie heuchlerisch ihre Kritik ist, zeigte sich auf groteske Weise in einem Leitartikel in der Zeitung Haaretz vom 23. November mit dem Titel „Ein Lob für Netanjahu,“ in dem sie „dieser Regierung und ihrem Oberhaupt“ ihre Anerkennung aussprach, weil „sie sich relativ zurückgehalten haben.“

Reuters schrieb über Netanjahu, er sei in der Lage „etwas Trost aus seiner Offensive gegen Gaza zu ziehen, während er den Blick wieder auf seine wichtigste strategische Herausforderung wendet – den Iran.“ Aber Reuters betonte, der Iran sei „eine viel größere Herausforderung als die islamistische Gruppe Hamas“, und die Meinungsverschiedenheiten über den viel schwierigeren Angriff auf den weiter entfernten Iran, seien so tief wie zuvor.

Letzten Endes ignoriert Netanjahu in allen seinen Plänen und Manövern die Tatsache, dass Israel genau wie seine arabischen Nachbarstaaten unter wachsenden sozialen Spannungen leidet, die von der Weltwirtschaftskrise hervorgerufen werden.

Im letzten Jahr protestierten hunderttausende gegen Ungleichheit und Armut, aber diese Gefühle der Massen finden im politischen System Israels genauso wenig Ausdruck wie der Widerstand der Bevölkerung gegen den Militarismus. Aus diesen Bedingungen erwächst jedoch die Möglichkeit zum Aufbau einer gemeinsamen Bewegung arabischer und jüdischer Arbeiter auf sozialistischer und internationaler Grundlage.

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