Ägyptisches Verwaltungsgericht:

Parlamentswahlen erst nach Urteil von Port Said

Kurz vor dem umstrittenen Urteilsspruch von Port Said hat das Verwaltungsgericht von Kairo (CAC) die ägyptischen Parlamentswahlen wegen der politischen Krise verschoben. Eigentlich sollten sie am 22. April beginnen.

Die Entscheidung zeigt, dass die herrschende Klasse Ägyptens mit wachsendem Widerstand rechnet. Ägyptische Arbeiter und Jugendliche treten immer offener gegen den islamistischen Präsidenten Mohamed Mursi und die regierende Moslembruderschaft auf. Seit dem zweiten Jahrestag der ägyptischen Revolution am 25. Januar kommt es im Land erneut wieder zu Protesten und Streiks.

Das Urteil von Port Said, das für Samstagmorgen erwartet wurde, hat die Wut über die arbeiterfeindliche Politik der herrschenden Elite Ägyptens zusätzlich angeheizt. Am 26. Januar wurde das erste Urteil gesprochen, das einundzwanzig Fans des Fußballclubs Al-Masry zum Tode verurteilt hatte. Seither herrschen in der Stadt am Suezkanal Unruhen, die sich leicht auf andere Städte ausbreiten könnten.

Von dem Urteil am Samstag hängt das Schicksal der restlichen 52 Angeklagten ab, unter denen sich auch neun Polizisten befinden. Ihnen wird vorgeworfen, bei einem Fußballspiel der Kairoer Clubs Al-Ahly gegen El-Masry am 1. Februar Fans von Al-Ahly angegriffen zu haben. Dabei wurden 73 Ahly-Fans getötet und etwa 1000 verwundet.

In den letzten Tagen gab es mehrfach Zusammenstöße zwischen den Fans der beiden Mannschaften und der Polizei. Die Fans von Al-Ahly, die in den ersten Monaten der Revolution eine wichtige Rolle bei den Straßenschlachten gegen Mubaraks Schläger gespielt hatten, glauben, dass die Sicherheitskräfte das Massaker geplant haben, um Rache zu nehmen. Die Fans von El-Masry, die Ultras Green Eagles, behaupten, Mursi und die Moslembrüder würden sie als politische Sündenböcke missbrauchen und fordern die Freilassung ihrer Kameraden.

Beide Seiten haben angekündigt, ihren „zivilen Ungehorsam“ fortzusetzen, wenn das Urteil nicht für Gerechtigkeit sorgt. Ahram Online beschrieb die angespannte Situation in den Stunden vor dem Urteil: „Das Urteil vom 9. März hätte für Präsident Mursi nicht zu einem ungünstigeren Zeitpunkt kommen können. Die Wut der Bevölkerung droht bereits in mehreren Städten offen auszubrechen, unter anderem in Suez und Ismailia und den Städten Tanta, Mahalla und Mansura im Nildelta.“

Bevor das Gericht am Mittwoch beschlossen hatte, die Wahlen auszusetzen, hatte die Oppositionspartei Nationale Rettungsfront (NSF), eine Koalition aus bürgerlichen liberalen und „linken“ Parteien einen Wahlboykott angekündigt. Der Vorsitzende der NSF und UN-Diplomat Mohamed ElBaradei warnte letzte Woche davor, dass Wahlen Ägypten durch die „völlige Polarisierung der Gesellschaft“ „auf den Weg des totalen Chaos‘ und der Instabilität bringen könnten.“

Das CAC warf Mursi vor, Artikel 141 der neuen Verfassung verletzt zu haben, weil er zu Wahlen aufgerufen habe, ohne vorher das Kabinett zu befragen. Mursi hatte am 21. Februar per Dekret Wahlen angesetzt. Das Gericht erklärte außerdem, Mursi und die Moslembrüder hätten Artikel 177 verletzt, der vorsieht, dass der Oberste Nationale Gerichtshof (SCC) politische Gesetze prüfen muss, bevor sie vom Präsidenten ratifiziert werden. Das CAC legte dem SCC das Wahlgesetz vor und ließ ihn über seine Verfassungsmäßigkeit entscheiden.

Die Opposition und die Moslembruderschaft unterstützten die Entscheidung.

Amr Mussa, der Vorsitzende der Konferenzpartei und langjährige Außenminister unter dem gestürzten Diktator Hosni Mubarak, bezeichnete das Urteil gegen die Wahl als „Geschenk des Himmels.“ Er sagte der staatlichen Nachrichtenagentur MENA: „Lassen Sie uns nachdenken, ohne stur zu sein... Die Vertagung der Wahlen ist für alle das Beste. Die Zeit, die wir durch diese Entscheidung gewinnen, wird uns viele Möglichkeiten eröffnen, viele davon sind positiv und strahlen Hoffnung aus.“

Essam El-Erian, der stellvertretende Vorsitzende der Freiheits- und Gerechtigkeitspartei (FJP), des politischen Arms der Moslembrüder, erklärte: „Wir werden uns dieser Entscheidung fügen. Wir zollen allen Entscheidungen des Gerichtes unseren Respekt.“ Er betonte, dass „konstruktive Teilnahme“ an der kommenden Wahl wichtig sei und forderte das Oberhaus des ägyptischen Parlaments, den Shura-Rat auf, über das Urteil nachzudenken und „die Vorzüge des Urteils und die passende Reaktion darauf“ zu diskutieren.

Angesichts der zunehmenden Wut in der Bevölkerung sehen beide Seiten der herrschenden Elite Ägyptens die Entscheidung, die Wahl zu verschieben, als Möglichkeit, ihre Differenzen beizulegen, um „Sicherheit zurückzubringen“, Proteste und Streiks zu unterdrücken und neue Angriffe auf die Arbeiterklasse vorzubereiten.

Nur wenige Tage vor dem Urteil hatte US-Außenminister John Kerry am letzten Wochenende Kairo besucht, um sich mit Mursi, Verteidigungsminister General Abdel-Fattah el-Sissi und Vertretern der NSF zu beraten. Ein wichtiger Grund für Kerrys Besuch war es, die herrschende Elite Ägyptens unter Druck zu setzen, „sich bei den wirtschaftlichen Entscheidungen einig zu werden und gemeinsame Positionen zu finden.“

Zwei Jahre nachdem der langjährige Diktator und Handlanger der USA, Hosni Mubarak, durch revolutionäre Massenkämpfe gestürzt wurde, versucht der US-Imperialismus, den ägyptischen Kapitalismus, eine der wichtigsten Stützen seiner strategischen und wirtschaftlichen Stellung im Nahen Osten, wieder zu stabilisieren

Der Chefredakteur der ägyptisch-französischen Wochenzeitung Al-Ahram Hebdo, erklärte vor zwei Tagen in einem Kommentar, die Erwägungen des US-Imperialismus.

Er schrieb: „Die USA versuchen, Ägyptens Stabilität zu erhalten. Das war der wahre Inhalt von Kerrys Aussage. Die USA wollen die Fortsetzung und den Erfolg der demokratischen Umwandlung Ägyptens und möchten die Bedingungen schaffen, die für politische Stabilität und die Wahrung der amerikanischen Interessen im Nahen Osten notwendig sind.“

Washington will, dass Ägypten nicht nur den beantragten Kredit vom IWF in Höhe von 4,8 Milliarden Dollar erhält und Sparmaßnahmen gegen die Arbeiter durchführt. Es sieht die politische Stabilität ihres ägyptischen Verbündeten auch als wichtig für ihre Pläne zur Verschärfung seines Stellvertreterkriegs in Syrien und für die Kriegsvorbereitungen gegen den Iran an.

Jetzt versucht die herrschende Elite Ägyptens verzweifelt, mithilfe des Gerichtsurteils die Kontrolle über Port Said zurückzugewinnen und die Streiks und Proteste der Arbeiter und Jugendlichen im ganzen Land zu beenden.

Am Montag beendeten die Sicherheitskräfte in Luxor einen Sitzstreik von Leiharbeitern der Eisenbahn und der Abwasserwerke, die den Zugverkehr zwischen Assuan, Kairo und Alexandria blockierten. Am Mittwoch verhaftete die Polizei auf dem Tahrir-Platz in Kairo 160 Demonstranten. Zu den Verhafteten gehörten acht Minderjährige, die ein gepanzertes Fahrzeug der Zentralen Sicherheitskräfte angezündet hatten.

Am Freitagabend erhielt das ägyptische Militär in Port Said Verstärkungen und übernahm die Stadt vollständig, nachdem sich die Polizeikräfte zurückgezogen hatten. Letzte Woche kam es mehrfach zu Zusammenstößen zwischen Demonstranten und der Polizei, hauptsächlich im Umfeld von Regierungsgebäuden und Polizeirevieren, die teilweise niedergebrannt wurden. Mindestens fünf Demonstranten wurden von Polizisten erschossen.

Die Unruhen der letzten Wochen belasten die Polizei und die Sicherheitskräfte. In der Industriestadt Mahalla setzte das Innenministerium am Freitagabend Kräfte aus dem nahegelegenen Gouvernement Menoufiva ein, um gegen Demonstranten vorzugehen, die den Sturz von Mursi und den Moslembrüdern forderten. Nach erneuten Zusammenstößen in Kairo zogen sich die Truppen der Zentralen Sicherheitskräfte, die die Zentrale der Moslembrüder im Stadtteil Moqattam bewachen sollten, angeblich von ihren Posten zurück.

Loading