Genfer Iran-Abkommen entfaltet eigne Dynamik

Einflussreiche Vertreter der amerikanischen herrschenden Klasse sind offenbar bereit, das “Interimsabkommen” über das iranische Atomprogramm zu akzeptieren, das die Obama-Regierung und ihre europäischen Verbündeten mit China und Russland zusammen mit dem Iran ausgehandelt haben.

Entsprechend dem Abkommen, das am Sonntagmorgen bekannt gegeben wurde, wird Teheran sein Atomprogramm weitgehend zurückschrauben und einfrieren. Außerdem hat es scharfen Inspektionen seiner Anlagen zugestimmt. Im Gegenzug werden die USA und die EU die Wirtschaftssanktionen marginal lockern, die bisher die Ölexporte des Landes halbieren und den Iran praktisch vom internationalen Bankensystem ausschließen.

Auf Grundlage des Interimsabkommens wollen der Iran und die Staatengruppe P5+1 (USA, Großbritannien, Frankreich, Russland, China und Deutschland) nun endgültig festlegen, welche weiteren Schritte der Iran unternehmen muss, damit die restlichen Sanktionen aufgehoben werden können.

Die Verschiebung in der amerikanischen Politik hin zu einem Abkommen mit dem Iran war schon seit geraumer Zeit in Vorbereitung. Gestern kamen Berichte ans Licht, dass im März amerikanische Vertreter unter der Führung des amerikanischen Vizeaußenministers William Burns und des außenpolitischen Chefberaters von Vizepräsident Joe Biden, Jake Sullivan, insgeheim in das Emirat Oman am Persischen Golf gereist waren, um mit iranischen Vertretern Gespräche zu führen.

Dann kam es im Mai, vor der iranischen Präsidentschaftswahl, in Oman zu einem geheimen Treffen von Außenminister Kerry mit iranischen Vertretern. Aus jener Wahl ging Hassan Ruhani als Sieger hervor, der auf der Grundlage eines Programms der Annäherung an die USA kandidiert hatte. Der Wächterrat hatte andere aussichtsreiche Kandidaten gar nicht erst zur Wahl zugelassen.

Diese umfangreichen Verhandlungen deuten auf einige spezifische Überlegungen hin, die dazu beigetragen haben könnten, dass die Obama-Regierung sich im September dagegen entschied, den syrischen Präsidenten Bashar al-Assad direkt anzugreifen. Assad ist der wichtigste Alliierte des Iran. Washington hatte, gestützt auf sunnitisch-islamistische Kräfte, zwei Jahre lang einen Stellvertreterkrieg gegen Syrien geführt.

Washington hoffte, den Iranern weitgehende Zugeständnisse abpressen zu können und das iranische Regime vielleicht für seine außenpolitischen Ziele einspannen zu können. Der Iran ächzt unter den brutalen Sanktionen, und seine herrschende Elite hat große Angst vor zunehmender Unzufriedenheit in der Arbeiterklasse.

Die wohl extremsten Sanktionen, die jemals außerhalb einer unmittelbaren Kriegssituation gegen ein Land verhängt wurden, verwüsten bisher den Iran. Für das nächste halbe Jahr werden von den auf Auslandskonten eingefrorenen Geldern des Iran lediglich sieben Milliarden Dollar freigegeben. Darunter fallen auch 4,2 Milliarden Dollar seines eigenen Geldes. Das sind gerade einmal fünf Prozent der iranischen Gelder, die auf den Konten internationaler Banken eingefroren sind. Außerdem werden der Import von petrochemischen Produkten und der Handel mit Gold und Autoteilen erlaubt.

Teheran hat erkennen lassen, dass es bereit sei, seine Wirtschaft, auch die Ölindustrie, für amerikanische und europäische Investitionen zu öffnen. Außerdem hat es seine Bereitschaft angedeutet, die USA zu unterstützen, wenn diese den ganzen Nahen und Mittleren Osten von Afghanistan bis nach Syrien stabilisieren. Iranische Vertreter haben daran erinnert, wie der Iran den USA 2001 auf der Bonner Konferenz geholfen hat, Hamid Karzai als seine Marionette in Afghanistan zu installieren.

Letzten Endes verfolgt die amerikanische Regierung das Ziel, im Iran ein neokoloniales Regime durchzusetzen, das mit der globalen Politik des US-Imperialismus konform geht, wie sie vor der iranischen Revolution von 1979 vorherrschte.

Offenbar hofft die Washingtoner Regierung, den Iran als Bestandteil in seine Perspektive des “Pivot to Asia” [Schwerpunktverlagerung auf Asien] einzugliedern, d.h. den Iran Obamas außenpolitischem Streben, China zu isolieren, unterzuordnen.

Die New York Times freut sich, dass der Handel mit dem Iran “die Tür für gleich mehrere geopolitische Optionen öffnet, auf die kein amerikanischer Führer seit Jimmy Carter mehr zurückgreifen konnte“. „Seit seinem Präsidentschaftswahlkampf wollte Obama den Iran wieder einbeziehen. 2007 erklärte er, er werde eine ‚aggressive persönliche Diplomatie’ mit den iranischen Führern verfolgen, und widersprach der Vorstellung eines Führungswechsels, die damals hoch im Kurs stand. Aber der Präsident wollte verhindern, von der Nahostfrage aufgefressen zu werden, weil er Amerikas Aufmerksamkeit auf Asien lenken wollte.“

Genau zur gleichen Zeit, als die vorläufige Übereinkunft am Sonntag bekanntgegeben wurde, gab Washington eine scharf gehaltene Kriegsdrohung gegen China wegen seines Streits mit Japan über die Senkaku/Diaoyu-Inseln heraus. US-Verteidigungsminister Chuck Hagel verurteilte Chinas Plan, eine Luftverteidigungszone um die Inseln zu errichten, und sagte: „Dieses einseitige Vorgehen vergrößert die Gefahr von Missverständnissen und Fehleinschätzungen (…). Wir stehen in engem Kontakt mit unseren Verbündeten und Partnern in der Region, auch mit Japan. Wir halten uns an unsere Verpflichtung.“

Entsprechend dem amerikanisch-japanischen Verteidigungsabkommen sind die USA verpflichtet, Krieg gegen China zu führen, wenn zwischen China und Japan ein bewaffneter Konflikt um die Inselgruppe ausbrechen sollte.

Das Interimsabkommen mit dem Iran wird in den amerikanischen und europäischen Medien überwiegend positiv aufgenommen, obwohl es einige abweichende Meinungen gibt. Das Wall Street Journal titelte z.B. „Irans nuklearer Triumph“ und forderte den Kongress auf, sofort weitere Sanktionen zu verhängen, um das Abkommen mit Teheran zu torpedieren. Ein solcher Schritt wäre nach dem Interimsabkommen nicht zulässig.

Der Demokrat Robert Menendez, Vorsitzender des außenpolitischen Senatsausschusses und selbsterklärter „Skeptiker“ bei jeder Vereinbarung mit dem Iran, erklärte, er erwarte schon bald eine Senatsvorlage, um weitere Sanktionen gegen den Iran zu verhängen. Er meinte, eine solche Vorlage werde „ein sechsmonatiges Fenster vorsehen“, innerhalb dessen „ein endgültiges Abkommen geschlossen werden kann, bevor neue Sanktionen verhängt werden“.

Vergangene Woche veröffentlichten zwei graue Eminenzen des amerikanischen nationalen Sicherheitsestablishments, der Demokrat Zbigniew Brzezinski und der Republikaner Brent Scowcroft, einen offenen Brief, in dem sie die Avancen der Obama-Regierung in Richtung Teheran unterstützten.

Die Verschiebung der amerikanischen Politik dem Iran gegenüber rief bei Washingtons Verbündeten im Nahen Osten, besonders in Israel und in Saudi-Arabien, anfänglich bestürzte Reaktionen hervor. Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu nannte das Interimsabkommen einen „historischen Fehler“ und erklärte am Sonntag, Israel fühle sich nicht daran gebunden. Das war als versteckte Drohung zu sehen, dass Israel einen einseitigen Schlag gegen den Iran plane. Die Londoner Sunday Times berichtete kürzlich, Saudi-Arabien habe angeboten, Israel logistische Hilfe bei einem Angriff auf den Iran zu leisten.

Doch am Montag bewegten sich die beiden amerikanischen Verbündeten offenbar auf eine widerwillige Anerkennung der Vereinbarung zu. Der israelische Premierminister gab bekannt, er habe Obamas Angebot angenommen, nächste Woche israelische Vertreter zu Konsultationen nach Washington zu entsenden, um zu beraten, welche weiteren Konzessionen vom Iran für ein endgültiges Abkommen verlangt werden müssten.

Das saudische Regime äußerte sich am Sonntag gar nicht. Am Montag gab es eine schmallippige Stellungnahme ab und erklärte: „Wenn es guten Willen gibt“, dann könne das Interimsabkommen „ein erster Schritt zu einer umfassenden Lösung für die Atomprogramme des Iran sein“.

Die Regimes in Israel und Saudi-Arabien sind nicht wirklich über das iranische Nuklearprogramm besorgt, sondern darüber, dass eine amerikanisch-iranische Annäherung ihre eigene strategische Bedeutung für die USA verringern könnte.

Die diplomatische Öffnung in Richtung Teheran “könnte auch Folgen für andere Überlegungen der USA in der Region haben”, erklärte die New York Times, „von Syrien, wo die vom Iran unterstützte Hisbollah an der Seite von Präsident Bashar al-Assad kämpft, bis nach Afghanistan, wo die Iraner behilflich sein könnten, eine Nachkriegsregelung mit den Taliban zu vermitteln. Die Aussicht auf eine langfristige strategische Umorientierung macht amerikanische Verbündete wie Saudi-Arabien, die Emirate am Persischen Golf und Israel nervös.“

Die iranische Regierung stellt das Übereinkommen der letzten Woche mit Unterstützung von Ajatollah Khamenei, dem obersten Führer der islamischen Republik, als “Sieg” hin. Sie begründet das damit, dass das Recht des Iran auf Urananreicherung akzeptiert worden sei.

Außenminister Kerry bestreitet das rundheraus. Er erklärte, das Abkommen lege fest, dass die Parameter eines iranischen Atomprogramms zwischen Teheran und den P5+1 vereinbart werden müssten.

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