Perspektive

Siebzig Jahre nach der Niederlage der Nazi-Diktatur

Am Samstag fand in Moskau eine große Militärparade zur Feier des Sieges über das Dritte Reich statt, mit dem der Zweite Weltkrieg in Europa endete. Die Staatsoberhäupter von mehreren Ländern, die im Krieg mit der Sowjetunion verbündet waren, boykottierten die Feierlichkeiten, und nur in wenigen Ländern außerhalb von Russland fand der Gedenktag Beachtung.

Die Abwesenheit von US-Präsident Barack Obama war ebenso unübersehbar wie die des britischen Premierministers David Cameron. Bundeskanzlerin Angela Merkel traf am 10. Mai in Moskau ein und legte einen Kranz nieder.

Die herrschenden Klassen in den USA und Europa haben kein Interesse, die zentrale Rolle der sowjetischen Arbeiterklasse beim Sieg über den Faschismus anzuerkennen – vor allem nicht, weil sie sich in ihrer aggressiven antirussischen Kampagne selbst auf faschistische Kräfte stützen.

Es ist eine historische Tatsache, dass die Niederlage des Dritten Reiches ohne die enormen Opfer der sowjetischen Bevölkerung nicht möglich gewesen wäre. Im Kampf gegen die deutschen Truppen kamen etwa 27 Millionen Sowjetbürger ums Leben, die genaue Zahl wird sich wohl nie ermitteln lassen. Fast jede Familie der Sowjetunion hat mindestens ein Mitglied verloren. Tausende Dörfer wurden vollständig zerstört und viele große Städte in Schutt und Asche gelegt.

Die stalinistische Führung der Sowjetunion und der Komintern, deren Handeln auf der reaktionären und nationalistischen Theorie des „Sozialismus in einem Land“ basierte, war in erheblichem Maß am Ausbruch des Kriegs mitverantwortlich, ebenso wie an der schlechten Vorbereitung der sowjetischen Streitkräfte auf den deutschen Überfall am 22. Juni 1941.

Hitler konnte im Januar 1933 vor allem deshalb an die Macht kommen, weil es nicht gelungen war, die deutsche Arbeiterklasse mit ihren großen Parteien SPD und KPD zu vereinen. Die Komintern verurteilte die SPD als „Sozialfaschisten“, die sich kaum von den Nazis unterschieden („keine Antipoden, sondern Zwillinge“), und die KPD verbreitete die Parole: „Nach Hitler kommen wir.“

Mit der Behauptung, Hitler werde nach ein paar Monaten gestürzt, wurden die deutschen Arbeiter auf kriminelle Weise entwaffnet. Nach dem Reichstagsbrand im Februar unterdrückte Hitler mithilfe des Ermächtigungsgesetzes den organisierten Widerstand der Arbeiterklasse. Zu den ersten Opfern des Naziregimes gehörten die Führer der Sozialdemokraten, der Kommunisten und der Gewerkschaften. Viele von ihnen wurden getötet oder in Konzentrationslager gebracht.

Der nächste schwere Schlag war Stalins Großer Terror von 1936 bis 1938. Fast alle noch lebenden Führer der Oktoberrevolution fielen ihm zum Opfer. 1937 fand im Rahmen des Großen Terrors eine Säuberung der Roten Armee statt, in der 30.000 bis 40.000 Offiziere hingerichtet wurden. Damit war das Militär kurz vor dem drohenden Krieg praktisch führungslos. Offiziere wie Tuchatschewski, Jakir, Eideman, Kork und Primakow, die im Bürgerkrieg wertvolle Erfahrungen gesammelt und in den Jahrzehnten danach fortschrittliche militärische Strategien entwickelt hatten, wurden im Mai 1937 gefoltert und erschossen. Wenn sie 1941 noch am Leben gewesen wären, hätte Hitlers Überfall keine solch katastrophalen Folgen gehabt.

Während des Spanischen Bürgerkriegs verfolgte Stalin die Volksfrontpolitik. Im Interesse von Bündnissen mit „imperialistischen Demokratien“ gegen Francos Falangisten, die von Hitler und Mussolini unterstützt wurden, unterdrückte die Kommunistische Partei die sozialistische Revolution. Die anschließende Niederlage der spanischen Arbeiterklasse machte den Weg für den kommenden Weltkrieg frei.

Der Nichtangriffspakt mit Hitler, den Stalin am 23. August 1939 unterzeichnete, bedeutete für viele in der internationalen Arbeiterbewegung einen Schock. Dass die faschistischen Parteien, die sie während der Zeit der Volksfront verurteilt und bekämpft hatten, jetzt als verlässliche Verbündete galten, löste große Desorientierung im politischen Bewusstsein der Arbeiterklasse aus.

Leo Trotzki, neben Lenin der wichtigste Führer der Oktoberrevolution und Gründer der Roten Armee, der 1929 von Stalin aus der Sowjetunion verbannt worden war, hatte diese Ereignisse in den 1930er Jahren scharf analysiert. Als die Komintern ihre Politik vor und nach Hitlers Machtübernahme rechtfertigte, begann Trotzki mit dem Aufbau einer neuen revolutionären Partei der internationalen Arbeiterklasse, der Vierten Internationale.

Trotzki verteidigte die sozialen Errungenschaften der Oktoberrevolution, forderte aber den politischen Sturz der stalinistischen Bürokratie. Dies sei die entscheidende Grundlage für die Fortführung der sozialistischen Weltrevolution. Seine 1934 getroffene Einschätzung der potenziellen Stärke der Sowjetunion in einem möglichen Krieg mit einem rapide aufrüstenden Deutschland erwies sich als sehr weitsichtig:

„Man muss die Dinge so nehmen, wie sie sind: Der Krieg ist nicht nur nicht ausgeschlossen, sondern fast unvermeidlich. Wer die Geschichtsbücher studieren will und kann, wird eins sogleich begreifen: Sollte die Russische Revolution, die seit dreißig Jahren – seit 1905 – ein ständiges Auf und Ab kennt, gezwungen sein, ihre Strömung in den Kanal eines Kriegs zu lenken, so wird sie eine ungeheure, alles überwältigende Kraft entfalten.“ (Trotzki Schriften Bd. 1.1, S. 536)

In den sechs Jahren vor dem Hitler-Stalin-Pakt hatte Trotzki mehrfach gewarnt, dass Stalin eine Annäherung an Deutschland suche. Als die Wehrmacht am 1. September 1939 in Polen einfiel, waren die geheimen Zusatzprotokolle des „Nichtangriffspaktes“ unbekannt. Am 17. September marschierte die Sowjetunion vom Osten her in Polen ein und teilte sich das Land mit Deutschland auf. Weitere Klauseln des Pakts erlaubten es der Sowjetunion, die baltischen Staaten (Lettland, Litauen und Estland) und Teile von Rumänien zu besetzen. Im November 1939 begann Stalin die Invasion Finnlands, den blutigen „Winterkrieg“, der viele Opfer forderte und zur Annektierung von Teilen Finnlands führte.

In den zweiundzwanzig Monaten vor Hitlers Einmarsch in die Sowjetunion lieferte Stalin Deutschland Rohstoffe und Lebensmittel und leistete damit wertvolle Unterstützung bei dessen Kriegen in Westeuropa.

Trotz der Anfangserfolge von Hitlers Blitzkrieg in Polen, Frankreich, den Niederlanden und anderen Ländern beharrte Trotzki auf der Einschätzung, dass der deutsche Imperialismus seine Widersprüche durch die Eroberung Europas nicht lösen könne. Er erklärte auch, dass Hitler unweigerlich den Blick nach Osten richten und die Sowjetunion angreifen werde. Dennoch war Trotzki zuversichtlich, dass die drohende Ausweitung des Kriegs in bisher unbekanntem Ausmaß letztlich zu revolutionären Umbrüchen führen werde, die die stalinistische Bürokratie nicht überleben würde. Er sah die Möglichkeit einer neuen Welle sozialistischer Revolutionen voraus, die die Vierte Internationale anführen könne.

Da Stalin Trotzki mehr fürchtete als Hitler, trieb er die Anstrengungen zu dessen Ermordung voran. Ramon Mercader gelang der Mordanschlag auf Trotzki im August 1940, als gerade die Aufmerksamkeit der Welt auf die Schlacht um Großbritannien gerichtet war.

In der Zwischenzeit befahl Hitler seinen Generälen die Vorbereitung der „Operation Barbarossa“, der Invasion in die Sowjetunion. Am 22. Juni 1941 fielen mehr als 3,6 Millionen Soldaten mit 3.000 Panzern und gewaltigen Luftstreitkräften in die Sowjetunion ein. In den ersten sechs Monaten des Kriegs wurden drei Millionen sowjetische Soldaten gefangen genommen, zwei Millionen von ihnen verhungerten bis Januar 1942 in Kriegsgefangenschaft.

Der Hungertod von sowjetischen Gefangenen war in Hitlers „Generalplan Ost“ vorsätzlich eingeplant. Das Kriegsziel lautete, die Territorien der Sowjetunion bis zum Ural zu besetzen und den eroberten „Lebensraum“ mit arischen Bürgern zu besiedeln. Die eingeborene Bevölkerung sollte durch den „Vernichtungskrieg“ ausgerottet werden; diejenigen, die nicht im Krieg getötet würden, sollten als Zwangsarbeiter ausgebeutet, von Todesschwadronen hingerichtet oder ausgehungert werden. Hitler rechnete mit zwanzig bis dreißig Millionen Hungertoten in der sowjetischen Bevölkerung.

Das Naziregime zeichnete sich durch vehementen Antikommunismus aus. Hitler selbst betrachtete die Vernichtung des „jüdischen Bolschewismus“ als untrennbaren Bestandteil der Zerstörung des europäischen Judentums als Ganzes. Ein Großteil der sechs Millionen ermordeten Juden wurde während des Kriegs gegen Sowjetunion getötet.

Aufgrund der schnellen Eroberungen in Westeuropa rechnete Hitler fest damit, dass das Sowjetregime in sechs Wochen besiegt sein werde. Doch als seine Truppen auf Leningrad, Moskau und Stalingrad vorrückten, stießen sie auf unerwartet heftigen Widerstand. Trotz unglaublich hoher Verluste kämpften die sowjetischen Truppen verbissen gegen die faschistischen Angreifer. Als die deutschen Armeen tiefer in Russland eindrangen, wurde unter großen Anstrengungen und Opfern der sowjetischen Arbeiter ein beträchtlicher Teil der sowjetischen Industrie demontiert und nach Zentralasien und Sibirien verlegt. Ab 1943 produzierte die zentrale Planwirtschaft der Sowjetunion trotz ihrer stalinistischen Verzerrungen mehr als die deutsche Kriegsmaschinerie.

Die brutale, fünf Monate andauernde Schlacht um Stalingrad endete mit der Niederlage von Hitlers Truppen im Februar 1943. Im gleichen Jahr fand auch die riesige Schlacht um Kursk statt, an der drei Millionen Soldaten und tausende Panzer beteiligt waren. Ende 1944 erreichten sowjetische Truppen Deutschland. Während der Schlacht um Berlin beging Hitler am 30. April 1945 Selbstmord. Am 9. Mai, kurz nach Mitternacht Moskauer Ortszeit, kapitulierte das Naziregime bedingungslos.

Nach dem Krieg verfolgte das stalinistische Regime eine Politik friedlicher Koexistenz mit seinen wichtigsten imperialistischen Verbündeten, den Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich. Bei Treffen in Teheran, Jalta und Potsdam wurden Abkommen ausgehandelt, in denen Osteuropa zum sowjetischen Einflussbereich erklärt wurde, während in Frankreich, Italien und Griechenland die Kommunistischen Parteien, die maßgeblich den Widerstand gegen die Nazis angeführt hatten, die Revolution unterdrückten.

Viele Sowjetbürger hatten nach allem, was sie im Krieg erleiden mussten, mit einer Lockerung der stalinistischen Herrschaft gerechnet. Doch gab es in der harten Wiederaufbauphase kaum Entspannung. Stalins nationalistische und arbeiterfeindliche Politik nahm während der Kampagne gegen „Kosmopoliten“ und der angeblichen Ärzteverschwörung monströse Formen an. Nach Stalins Tod im März 1953 wurden diese antisemitischen, vom Staat initiierten Kampagnen schnell beendet.

In den siebzig Jahren seit dem Sieg über das Dritte Reich haben Stalins Erben in der Kommunistischen Partei der Sowjetunion den Kapitalismus wieder eingeführt. Wladimir Putin, ein korrupter, autoritärer Vertreter der kapitalistischen Oligarchen, nutzte die Feiern zum 9. Mai als Propaganda für seine eigene ultranationalistische Politik, zu der auch die Verherrlichung Stalins gehört. Die Truppen, die auf dem Roten Platz paradieren, verteidigen nicht mehr die fortschrittliche soziale Basis, die die Oktoberrevolution geschaffen hatte. Putins Regime repräsentiert die Milliardäre, die vom letzten Verrat der stalinistischen Bürokratie profitiert haben – von der Auflösung der Sowjetunion und ihrer Wiedereingliederung in die kapitalistische Weltwirtschaft.

Dass die imperialistischen Mächte die russischen Feiern zum Sieg über den Faschismus boykottieren, liegt zum großen Teil darin begründet, dass die Politik, die sie heute betreiben, viel mit derjenigen der Nazis gemeinsam hat. In der Ukraine sind der amerikanische und deutsche Imperialismus mit faschistischen Kräften verbündet, die sich auf die Traditionen nationalistischer ukrainischer Nazikollaborateure während des Zweiten Weltkriegs berufen.

Die USA provozieren vorsätzlich und systematisch einen Konflikt mit Russland. Nach dem Putsch in der Ukraine im Februar 2014 organisierten sie eine offensive, gegen Russland gerichtete Militarisierung der ganzen Region. Sogar während der Gedenkveranstaltungen in Moskau führten Nato-Truppen Manöver nahe der russischen Grenze durch.

Die herrschende Klasse Deutschlands, die den Putsch in der Ukraine unterstützt hat, versucht ihrerseits, ihre Verbrechen der Vergangenheit zu beschönigen, um neue in der Zukunft vorzubereiten. Deutsche Akademiker relativieren die Verbrechen des Hitlerregimes und den Nationalsozialismus als gerechtfertigte Reaktionen auf die Oktoberrevolution.

Siebzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sind Europa – und die ganze Welt – mit dem Wiederaufleben von hemmungslosem Militarismus konfrontiert. Die einzige Möglichkeit, neue imperialistische Kriege nicht nur in Europa, sondern auch im Nahen Osten, Asien und praktisch allen Teilen der Welt zu verhindern, ist die internationale Vereinigung der Arbeiterklasse auf der Grundlage eines sozialistischen und revolutionären Programms.

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