VW hat auch in Europa systematisch betrogen

Europas größter Autokonzern hat in weitaus größerem Umfang Abgaswerte rechtswidrig manipuliert, als dies die Unternehmensführung bisher eingestanden hat. Es handelt sich nicht um eigenwillige, kriminelle Handlungen einiger weniger Software-Ingenieure und Techniker, sondern um systematischen Betrug, in den große Teile des Spitzenmanagements involviert waren.

Laut Recherchen von Süddeutscher Zeitung, NDR und WDR war der Betrug in Europa sogar noch ausgefeilter und umfassender als in den USA. Statt der einheitlichen, einmal programmierten Software, die in den USA eingesetzt wurde, um bei Abgastests die Grenzwerte einzuhalten, wurden in Europa für die verschiedenen Dieselmodelle offenbar immer wieder neue Betriebsprogramme in die Motorelektronik eingebaut.

Die Entwicklungsingenieure mussten Verbrennungssteuerung und Abgasrückführung exakt auf das jeweilige Modell einstellen, erläutert die Süddeutsche. Dazu seien wohl „ziemlich aufwendige Manipulationen“ notwendig gewesen. Die Zeitung schlussfolgert: „Man kann sich das Ganze also als großes Gemeinschaftswerk vorstellen. Wo viel eingestellt und angepasst wird, sind auch viele Menschen am Werk. Wo viele Menschen am Werk sind, kann eine solche Abgasmanipulation nicht das Werk einiger weniger Ingenieure sein. Es war also wohl: System.“

Mit anderen Worten: Angesichts zunehmender internationaler Konkurrenz und wachsender Renditeforderungen der Anleger entwickelte VW ein weltweites Betrugssystem und machte die Abgasmanipulation zum Geschäftsmodell. Diese kriminellen Machenschaften haben katastrophale Konsequenzen und bedrohen jetzt die Existenzgrundlage von vielen Tausend Arbeitern und ihren Familien. Schon jetzt werden Strafzahlungen, Schadensersatzansprüche, Steuernachzahlungen und Rückruf- und Umrüstungskosten von weit über zehn Milliarden Euro erwartet.

Ein Blick zurück macht deutlich, in welchem Zusammenhang diese kriminellen Machenschaften entstanden. Vor 25 Jahren präsentierte VW auf der Automobilausstellung in Frankfurt den ersten direkteinspritzenden, elektronisch gesteuerten Turbo-Diesel-Injection (TDI) Motor in einem VW-Audi. Das wurde damals als großer Fortschritt vor allem gegenüber der japanischen Konkurrenz gefeiert. Toyota hatte sich auf die abgasarme Kombination von Benzin- und Elektromotor, den Hybrid-Antrieb, konzentriert. Dabei wird durch die Kombination eines Benzinmotors mit zwei Elektromotoren ein niedriger Benzinverbrauch erreicht.

Als Toyota vor zehn Jahren mit dem Hybrid-Prius II einen Spritverbrauch von 4,3 Litern pro 100 Kilometer und außerordentlich günstige Abgaswerte erreichte, stand VW unter starkem Druck. Derartige Werte hätten sich mit einem Dieselmodell nur durch extrem hohe Investitionen und einen entsprechend hohen Verkaufspreis realisieren lassen. Damals fiel die Entscheidung zum Abgas-Betrug.

Mit großem Propagandaaufwand stellte VW im Frühjahr 2008 seinen so genannten „Clean Diesel“, einen „2-Liter-TDI-Motor zur Erfüllung niedrigster Abgasgrenzwerte“, vor. Das „kühne technische Konzept aus Wolfsburg“ wurde weltweit bewundert. Der 140-PS-Diesel mit dem internen Kürzel EA 189 schaffte in den USA alle Abgasprüfungen und war dem Hybrid-Prius an Kraft und Leitung deutlich überlegen.

Was damals – außer dem VW-Management – niemand wusste: Das „kühne technische Konzept aus Wolfsburg“ beruhte auf einem dreisten Betrug. Mit Hilfe einer speziellen Software wurden im Testbetrieb die Abgaswerte drastisch reduziert, so dass der „Clean Diesel“ nur noch ein Sechstel der realen Stickoxide (NOx) anzeigte.

Technikexperten wie Professor Günter Hohenberg von der Technischen Universität Darmstadt erklären heute, sie hätten sich bereits damals gefragt, wie der Vierzylinder die Abgaslimits in allen 50 US-Bundesstaaten erfüllen könne. Wenn der Dieselmotor ähnliche Stickoxidemissionen wie der Ottomotor erreichen solle, dann sei er bei den Kosten „locker auf dem Niveau des Vollhybridantriebs“, berichtete Hohenberg der Süddeutschen Zeitung und fügte hinzu: „Genau das aber war das Problem – VW wollte nicht nur den saubersten Vierzylinder-Diesel der Welt bauen, er sollte auch günstig sein und gleich auch noch die Hybrid-Konkurrenz von Konzernen wie Toyota ausstechen.“

Dass der VW-Konzern, der weltweit 600.000 Mitarbeiter beschäftigt und zwölf Marken unter seinem Dach vereint, eine derart kriminelle Energie entwickelte und einen solch umfassenden Betrug organisierte, unterstreicht den korrupten und irrationalen Charakter des kapitalistischen Profitsystems. Seit Jahrzehnten beherrscht nur noch ein Faktor die Unternehmensentscheidungen aller Konzerne: die möglichst schnelle und hohe Steigerung der Aktienkurse. Der Shareholder Value, und nicht die langfristige Entwicklung der Produktion, ist zum leitenden Prinzip der Wirtschaft geworden.

Eng verbunden mit diesen kriminellen Praktiken ist die Integration der Gewerkschaften und Betriebsräte ins Management. Es ist kein Zufall, dass ein solch umfassender und bisher beispielloser Betrug genau in dem Betrieb stattfindet, in dem die IG Metall und ihre betrieblichen Organe mehr Macht und Einfluss ausüben als in irgend einem anderen Betrieb.

Es gibt keinen anderes Unternehmen, in dem die Sozialpartnerschaft und die Klassenzusammenarbeit derart perfektioniert wurden, wie bei VW. IG Metall, Betriebsrat und Management sind praktisch verschmolzen. Der ehemalige IG-Metall-Vorsitzende Berthold Huber leitete bis vor kurzem den Aufsichtsrat und fungiert als entscheidender Mann im Konzern.

Am Mittwoch entschied das Präsidium des Aufsichtsrats, in dem Betriebsratschef Osterloh, sein Stellvertreter Stephan Wolf und der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) den Ton angeben, dass Ex-Gewerkschaftschef Huber die zentrale Unternehmenskommission zur Aufarbeitung der kriminellen Machenschaften in Wolfsburg leiten wird.

Als Betriebsratschef Bernd Osterloh an Dienstag zu Beginn der Betriebsversammlung betonte: „Wir sind ein Team! Wir sind eine Familie! Wir sind alle VW!“ – dieselbe Parole hatte er vorher bereits auf T-Shirts, Aufklebern und Plakaten verbreitet – sprach er für sich selbst, den Betriebsrat und die IG Metall. Sie alle sind Teil der „famiglia“, und Huber und Osterloh zählen zu den Paten.

Um zu verhindern, dass die Folgen des VW-Betrugs in Form von Sozialabbau und Entlassungen auf die Beschäftigten abgewälzt, ist eine Rebellion gegen die IG Metall, den Betriebsrat und ihre reaktionäre Politik der Sozialpartnerschaft unumgänglich.

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