Perspektive

Terroranschlag in London: Die offizielle Darstellung gerät ins Wanken

Am Sonntagmorgen erklärte die britische Premierministerin Theresa May in der Downing Street, zwischen dem Anschlag in London und dem in Manchester am 22. Mai gäbe es „keine Verbindung in Planung und Ausführung“.

Doch nachdem die Polizei die Wohnung eines der Attentäter durchsucht hatte, erklärte ein Nachbar gegenüber dem Nachrichtensender BBC, er habe die Behörden über die islamistischen und extremistischen Ansichten des Mannes informiert, diese hätten jedoch nichts unternommen. Er sagte: „Ich habe meinen Teil getan. Ich weiß, dass es viele getan haben, aber die Behörden haben ihren Teil der Arbeit nicht gemacht.“

Der Terroranschlag von London folgt dem gleichen Muster wie der Anschlag in Manchester und zahllose andere schwere Terroranschläge in ganz Europa. Sie alle wurden von Tätern verübt, die der Polizei bekannt waren. In vielen Fällen gab es im Vorfeld Warnungen.

Erst vor zwei Wochen hatte der Selbstmordattentäter Salman Abedi bei einem Konzert von Ariana Grande in Manchester 22 Menschen getötet, darunter mehrere Kinder. Wie bald herauskam, waren Abedi und seine Familie dem britischen Inlandsgeheimdienst MI5 und der Regierung gut bekannt. Sie wurden wie viele andere Islamisten bei den Regimewechseln in Libyen und Syrien eingesetzt.

Am Wochenende schrieb die New York Times, dass Abedi nach Libyen gereist war und sich dort mit Mitgliedern einer Einheit des Islamischen Staates getroffen hatte, die für den Terroranschlag in Paris im November 2015 verantwortlich war. Warum er danach nach Großbritannien zurückkehren durfte, bleibt ungeklärt.

May versucht verzweifelt, die Terroranschläge für sich zu nutzen, um den deutlichen Verlust ihres Vorsprungs in den Umfragen vor der britischen Parlamentswahl am 8. Juni auszugleichen. Laut den jüngsten Meinungsumfragen liegen die Tories nur noch einen Prozentpunkt vor Labour, und es wird viel darüber spekuliert, ob die Tories mit einer verringerten Mehrheit an der Macht bleiben können, keine Partei eine klare Mehrheit erringt oder sogar die Labour Party die Wahl gewinnt. Da die Sozialpolitik der Regierung in der Bevölkerung verhasst ist, würde sie die Wahl am liebsten in eine Abstimmung über die angeblich zu weiche Haltung von Labour-Chef Jeremy Corbyn im Kampf gegen den Terror und in Fragen der nationalen Sicherheit verwandeln.

Obwohl sich May mit Labour darauf geeinigt hatte, in ihrer Rede vom Sonntag keinen Wahlkampf zu betreiben, kündigte sie mehrere Maßnahmen an, die eine Tory-Regierung umsetzen würde. Sie erklärte, man müsse „den IS im Irak und Syrien mit militärischen Mitteln zerstören“, um Terroranschläge zu verhindern, betonte aber, dass islamistischer Terrorismus „nicht nur durch Militärinterventionen“ oder „dauerhafte defensive Antiterror-Maßnahmen“ besiegt werden kann, „egal wie geschickt sich die Führungskräfte und die Ausführenden verhalten“.

Mit den „Führungskräften und Ausführenden“ meint sie die Geheimdienste MI5 und MI6, die engste Beziehungen mit islamistischen Gruppen pflegen und diese weiterhin als Stellvertretertruppen bei ihren Regimewechsel-Operationen in Libyen und Syrien benutzen. Die britischen Geheimdienste ermöglichen Mitgliedern dieser Gruppen, ungehindert durch die Welt zu reisen. Auf diesem Weg können sie in Großbritannien Terroranschläge vorbereiten.

Großbritannien hat außerdem enge Beziehungen zu den Despoten im Nahen Osten, die jahrelang Terrororganisationen unterstützt und finanziert haben. Erst vor wenigen Tagen wurde bekannt, dass Mays Regierung die Veröffentlichung eines Untersuchungsberichts über die ausländische Finanzierung von Dschihad-Gruppen blockiert, der vor achtzehn Monaten von ihrem Amtsvorgänger David Cameron in Auftrag gegeben wurde. Als Grund werden die „hoch vertraulichen Informationen“ angeführt, die er über Saudi-Arabien enthält, wo 83 Prozent aller britischen Waffenexporte hingehen. Erst im April hatte May in Riad weitere Waffengeschäfte ausgehandelt.

Im Mittelpunkt von Mays Rede stand ihr Appell, den Angriff auf demokratische Rechte, der mit dem „Krieg gegen den Terror“ einhergeht, jetzt weiter zu verschärfen. Sie nannte Pläne für eine verstärkte Überwachung der Onlineaktivitäten der britischen Bevölkerung und eine Zensur des Internets, das sie als „geschützten Raum“ für Terroristen bezeichnete. Weiter erklärte sie: „Wir dürfen nicht die geschützten Räume, die auch in der realen Welt weiter existieren, vergessen.“ Es sei erforderlich, diese „im öffentlichen Dienst und der ganzen Gesellschaft auszumerzen“.

Das ist eine Drohung, die repressiven Maßnahmen zu verschärfen, die mit der staatlichen Präventionsstrategie verbunden sind. Dazu gehören die Überwachung von Schülern und Studenten und die Anweisung an alle Autoritätspersonen, als staatliche Informanten zu fungieren.

May beendete ihre Rede mit der Behauptung, die zahlreichen repressiven Vollmachten der staatlichen Sicherheitsdienste und der Polizei würden noch immer nicht ausreichen. Eine „Antiterror-Strategie“ werde eingesetzt, um „sicherzustellen, dass die Polizei und die Sicherheitsdienste alle notwendigen Vollmachten haben“.

Corbyns Reaktion am Sonntagabend machte deutlich, dass die Arbeiterklasse in der Labour-Partei keine Alternative zu Mays Kurs auf staatliche Unterdrückung und Krieg finden wird. Er versuchte nicht, die Arbeiterklasse vor den drohenden Gefahren zu warnen. Stattdessen akzeptierte er fast uneingeschränkt Mays offizielle Darstellung und konzentrierte seine Kritik an der Regierung auf den Vorwurf, sie habe den Krieg gegen den Terror nicht erfolgreich genug geführt.

Nachdem er bereits seinen Widerstand gegen die Nato aufgegeben und das Trident-Atomwaffenprogramm akzeptiert hatte, versuchte Corbyn auch hier dem Staat seine loyale Unterstützung zu versichern und erklärte: „Der Schutz der Öffentlichkeit ist nicht billig zu haben.“ Er betonte: „Die Polizei und die Sicherheitsbehörden brauchen die notwendigen Ressourcen, statt eines Abbaus von 20.000 Stellen bei der Polizei“, wie er unter den Konservativen stattgefunden hatte.

Corbyn distanzierte sich von seiner bisherigen Ablehnung gegenüber der Shoot-to-kill-Strategie der Polizei, deren erstes Opfer Jean Charles de Menezes nach den Anschlägen in London am 7. Juli 2005 wurde. Er erklärte, die Polizei sollte „alle notwendigen und effektiven Maßnahmen“ ergreifen dürfen. Das bedeute auch „die vollständige Autorität der Polizei, alle Gewaltmittel einzusetzen, die zum Schutz und zur Rettung von Leben notwendig sind, so wie sie es letzte Woche und im März in Westminster getan hat“.

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