Schweiz: Warnstreik der Bauarbeiter im Tessin und in Genf

Anfang dieser Woche haben tausende Bauarbeiter an Warnstreiks im Tessin und in Genf teilgenommen. Sie kämpfen gegen Lohndumping und überlange Arbeitstage und verteidigen ihre schwer erkämpfte Frührente ab 60 Jahren.

Bauarbeiter blockieren Mont-Blanc-Brücke in Genf

Am Montag marschierten rund 3000 Bauarbeiter im Tessiner Hauptort Bellinzona zum Sitz des Schweizerischen Baumeisterverbandes. Am Dienstag blockierten dann weitere 2500 Arbeiter die Mont-Blanc-Brücke in Genf und beschlossen, den Streik auf Mittwoch auszudehnen. Eine Umfrage unter 20.000 Arbeitern auf den Baustellen hatte im Sommer ergeben, dass über 93 Prozent bereit wären, zur Verteidigung der Frührente in Streik zu treten.

Zum Ende des Jahres läuft der dreijährige Landesmanteltarifvertrag (LMV) für rund 80.000 Beschäftigte im Bauhauptgewerbe aus. Infolge der engen Zusammenarbeit der Gewerkschaften Unia und Syna mit den Unternehmern haben die Arbeiter seit drei Jahren keine Lohnerhöhungen erhalten, obwohl die Baubranche boomt.

Nun haben die Bauunternehmer angekündigt, ab dem nächsten Jahr die Löhne um 150 Franken monatlich zu erhöhen. Allerdings fordern sie im Gegenzug die Erhöhung der flexiblen Arbeitsstunden von heute 100 auf 300 Stunden im Jahr. Das würde bedeuten, dass die Bauarbeiter im Sommer Regelarbeitstage von über zehn Stunden haben, mit dem Arbeitsweg sogar von zwölf Stunden und mehr, ohne dass sie dafür Zulagen erhalten.

Gleichzeitig sollen die Arbeiter höhere Beiträge zur flexiblen Altersrente tragen, während die Beiträge der Unternehmer gesenkt werden. Die nationale Rentenkasse hatte schon im Mai den Vertrag mit der Baubranche aufgekündigt, weil angeblich zu viele Bauarbeiter die Frührente in Anspruch nahmen.

Das Recht, mit 60 in den Ruhestand gehen zu können, hatten die Bauarbeiter vor 16 Jahren in einem landesweiten Streik durchgesetzt. Seither wird es immer wieder in Frage gestellt. Die Unternehmer haben praktisch von Anfang an ständig versucht, diese Frührente rückgängig zu machen.

Zuletzt haben sich die Gewerkschaften mit den Bauunternehmern auf eine neue Beitragsstruktur geeinigt, welche die Arbeiter benachteiligt und die Unternehmer begünstigt. Demnach sollen die Beiträge der Unternehmer zu der Stiftung FAR (Flexibler Altersrücktritt), welche die Frühpensionen regelt, von 6 auf 5,5 Prozent gesenkt und die Arbeiterbeiträge von 1,5 auf 2,25 Prozent des Bruttolohnes erhöht werden.

Die Bauindustrie gehört zu den lukrativsten Branchen und beschäftigt rund 100.000 Bauarbeiter in der Schweiz, darunter viele Grenzgänger aus Italien. Auf den Baustellen greifen Zeitarbeit und das Subunternehmertum immer stärker um sich. Ältere Arbeiter über fünfzig werden immer öfter entlassen und finden nur noch Arbeit über Zeitfirmen. Als temporäre Arbeiter werden sie sogar oft bei den gleichen Unternehmen wieder eingestellt, bei denen sie zuvor jahrzehntelang beschäftigt waren.

Tatsächlich ist laut einer Studie die Zahl der temporär beschäftigten Bauarbeiter auf Schweizer Baustellen in nur drei Jahren um über zwanzig Prozent angestiegen, wobei die Zunahme bei den Über-50-Jährigen am größten war. Da diese Zeitarbeiter sehr oft im Winter keine Arbeit finden, sind sie auch nicht mehr in der Lage, ihre Beiträge zur Pensionskasse zu bezahlen, und verlieren ihren Anspruch auf die flexible Altersrente ab 60.

Die Gewerkschaften Unia und Syna gehen das Problem des Lohndumpings als rein nationale Frage an. Zum Schutz der Schweizer Löhne fordern sie eine stärkere Abschottung vor ausländischen Arbeitskolonnen. So spalten und entwaffnen sie die Arbeiter gegen die Angriffe der Bauunternehmer. Sie haben sogar schon Polizeirazzien auf den Baustellen unterstützt.

Unia und Syna stehen in ständigen Verhandlungen mit den Bauunternehmern und wollen am 9. November mit ihnen einen neuen Vertrag abschließen. In Verhandlungen im August und September haben sie dem faulen Kompromiss mit der 150-Franken-Lohnerhöhung bereits zugestimmt und ihn als Sieg im Kampf um die Frührente hingestellt.

Nun werden Proteste und Warnstreiks als Ventil organisiert, um die Angriffe auf die Arbeiter letztendlich durchzusetzen. Die Aktionen sind Teil eines Manövers, die Arbeiter mürbe zu machen und unabhängige Arbeitskämpfe zu verhindern.

Schon am 23. Juni fand in Zürich eine Demonstration mit 18.000 Bauarbeitern statt. Im September haben die Gewerkschaftsdelegierten von Unia und Syna die heutigen Warnstreiks beschlossen, weil sie zur Einsicht gelangt waren, dass die Bauarbeiter eine so massive Überstundenerhöhung gegen den „vergifteten Köder“ der 150-Franken-Lohnerhöhung niemals schlucken würden, wie es in einer Mitteilung der Syna heißt.

Tatsächlich sind die 150 Franken nach dreijährigem Lohnverzicht nicht bloß ein lächerliches Almosen, sondern Teil eines gefährlichen Betrugs. Die angedrohte Verlängerung der Arbeitstage im Sommer ist ein Frontalangriff auf Gesundheit und Leben der Arbeiter. Wie jeder weiß, geht die Arbeit am Bau mit der Gefahr von Rücken- und Gelenkleiden, Hüftarthrose etc. einher, und eine Verlängerung der Arbeitszeit erhöht massiv das Unfallrisiko.

Die Streiks und Proteste haben die große Unruhe und Unzufriedenheit zum Ausdruck gebracht, die in den Betrieben und auf den Baustellen vorherrscht. Sie erfordert jedoch eine neue politische Perspektive. Die World Socialist Web Site und die Vierte Internationale rufen dazu auf, unabhängige Aktionskomitees zu gründen und Kontakt mit der Sozialistischen Gleichheitspartei in Deutschland aufzunehmen, um die Kämpfe der Schweizer Bauarbeiter mit den weltweit anwachsenden Arbeitskämpfen zu verbinden und ihnen eine sozialistische Richtung zu geben.

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