Eine „beispielhafte Genossin“: Sylvia Callen, stalinistische Agentin, 40 Jahre lang von der Socialist Workers Party (USA) gedeckt.

Teil 2

Im Mai 1947 erhielt die Socialist Workers Party Informationen, wonach Sylvia Callen, die persönliche Sekretärin des langjährigen Parteiführers James P. Cannon, eine Agentin der sowjetischen Geheimpolizei GPU war. Schnell wurde klar, dass Callen wichtige Informationen über ihren stalinistischen Hintergrund verschwiegen hatte, als sie 1938 der SWP beitrat. Fast neun Jahre lang hatte Callen uneingeschränkten Zugang zu hoch vertraulichen Informationen der Partei auf Führungsebene. Anstatt jedoch Callens mörderische Rolle als Spionin innerhalb der trotzkistischen Bewegung aufzudecken, entschied sich die Socialist Workers Party für eine Vertuschung.

Im Folgenden veröffentlichen wir den zweiten Teil eines vierteiligen Berichts über den historischen Verlauf dieser Vertuschung und ihrer Enthüllung durch das Internationale Komitee der Vierten Internationale. Die Artikelserie wurde jüngst in „Agents: The FBI and GPU Infiltration of the Trotskyist Movement“ veröffentlicht. Das Buch deckt auf, wie die GPU die Ermordung Leo Trotzkis durchführte und wie der sowjetische Geheimdienst und das FBI in den 1940er Jahren immer stärker die amerikanische Sektion der Vierten Internationale unterwanderten. Eine deutsche Übersetzung von „Agents“ ist in Vorbereitung.

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Teil eins | Teil zwei | Teil drei | Teil vier

Budenz‘ Buch Men Without Faces und das Komitee für unamerikanische Umtriebe (House Committee on Un-American Activities)

Budenz' Buch Men Without Faces

Im Jahr 1950 veröffentlichte Louis Budenz ein zweites Buch, Men Without Faces, in dem die Agentin, die in die nationale Parteizentrale der SWP eingeschleust worden war, noch genauer beschrieben wurde.

Budenz schrieb: „Kurz bevor ich 1937 nach Chicago ging und Herausgeber des Midwest Daily Record wurde, gab mir Roberts [Dr. Gregory Rabinowitz, der Verantwortliche für die GPU-Agenten] den Auftrag, eine Genossin zu kontaktieren, die dort die trotzkistische Organisation unterwanderte.“ [30]

Obwohl er das Pseudonym „Helen“ anstelle des richtigen Vornamens der Spionin verwendete, ließ der von Budenz geschilderte Lebenslauf keinen Zweifel daran, dass er die Geschichte Sylvia Callens, ihrer Rekrutierung durch die GPU und ihrer erfolgreichen Einschleusung in die Parteizentrale der SWP erzählte.

„Unter den Mitgliedern der Chicagoer YCL [Young Communist League] gab es ein junges Paar, das wir hier Helen und Irving nennen wollen.“ Den beiden „wurden gefährliche Geheimaufträge zugewiesen. Die eher ruhige und unauffällige Helen war beauftragt, die trotzkistischen Gruppen zu unterwandern. Irving ging als Mitglied der Abraham-Lincoln-Brigade nach Spanien. Er wurde dort unter Steve Nelson und dem furchteinflößenden George Mink als Spezialagent eingesetzt, um ‚Feinde der Partei‘ aufzuspüren und zu beseitigen.“

„Helen musste nach New York ziehen und die Trotzkisten auf nationaler Ebene infiltrieren“, fuhr Budenz fort. „Ich war damals in Chicago und hatte ihre Versetzung auf Anweisung des sowjetischen Geheimdienstmitarbeiters arrangiert, mit dem ich zusammenarbeitete. Dieser war mir nur als ‚Roberts‘ bekannt.“ [31]

Budenz beschrieb sein erstes Treffen mit Callen.

„Unser erstes Zusammentreffen fand bei [dem Chicagoer YCL-Vorsitzenden] Kling in seinem Haus westlich von Chicago statt. Mit zugezogenen Vorhängen, sodass uns niemand beobachten konnte, arrangierten wir die Art und Weise, wie ich mit Helen in Kontakt treten konnte. Sie war erpicht darauf, in größerem Rahmen für die Partei unter den Trotzkisten zu arbeiten. Sie hatte sich schon als Freiwillige gemeldet, bevor sie wusste, worum es bei dem Auftrag ging.“ [32]

Budenz war beeindruckt von Helen-Sylvias „sanfter Stimme und konservativer Kleidung, die ihrer Position als Sozialarbeiterin entsprach und ihre Eignung als verdeckte Agentin noch erhöhte“. Budenz „arrangierte private Treffen mit ihr an verschiedenen Orten im Süden Chicagos, wo sie einen Großteil ihrer Sozialarbeit leistete“. Er überredete sie, nach New York zu ziehen, „nachdem ich mich von ihrer Loyalität und ihren Fähigkeiten überzeugt hatte“. [33]

Das Büro der SWP in New York, 116 University Place, aufgenommen 1975

Budenz schrieb, dass Rabinowitz Callen „mit 300 Dollar in bar versorgte, um ihr Erste-Klasse-Ticket nach New York und ihre anfänglichen Ausgaben dort zu decken. Dann erklärte er ihr, wie sie vorgehen sollte. Sie würde eine Wohnung mitten in Manhattan beziehen; weiterhin seien Vorkehrungen für ihre scheinbare Beschäftigung bei einer Ärztin getroffen worden, die ein zuverlässiges Parteimitglied war. Das würde ihr regelmäßiges Einkommen und auch ihre unregelmäßigen Arbeitszeiten erklären. In der Parteizentrale der Trotzkisten am University Place und in der 13. Straße könne sie sich dann freiwillig für stenographische und andere Büroarbeiten melden.“ [34]

Es wurden klare Auflagen festgelegt. „Als kardinale Regel galt, dass weder Irving zu ihrer Wohnung gehen durfte, noch beide jemals zusammen in der Öffentlichkeit erscheinen sollten.“ [35]. Die Stalinisten waren sich des öffentlichen Profils von Zalmond Franklin und der weithin bekannten Rolle seiner Familie als Führer der Kommunistischen Partei in Milwaukee bewusst. Sie wussten, dass Callens Rolle als GPU-Agentin aufflöge, wenn die SWP die Identität ihres Ehemanns entdecken würde. Callen hielt sich an diese Regel und verbarg ihre Ehe vor der SWP.

„Die Vorbereitungen liefen auf Hochtouren: Helen zog nach New York und Irving ließ sich bald in der Bronx nieder. Helen schmeichelte sich so sehr bei den führenden Trotzkisten ein, dass sie bald eine enge Freundin von James Cannon, dem Vorsitzenden der amerikanischen Trotzkisten, und seiner Frau Karsner wurde. Sie übernahm die vollständige Leitung der trotzkistischen Büros, wurde Cannons Sekretärin und stellte der sowjetischen Geheimpolizei die gesamte Korrespondenz mit Trotzki in Mexiko-City und mit anderen Trotzkisten weltweit zur Verfügung". [36]

Callen diktiert die Reaktion der SWP auf Men Without Faces

Farrell Dobbs

Budenz‘ Bericht über Callens Tätigkeit in Men Without Faces war detailliert und unwiderlegbar. Dennoch versuchten die Führer der SWP, den öffentlichen Schein zu wahren, Callen sei eine hingebungsvolle und fleißige Genossin.

Aber der Druck, eine Antwort auf Budenz zu geben, war zu groß. Im August 1950 entsandte die Parteiführung Farrell Dobbs nach Chicago, um Callen in ihrem Haus zu treffen und sie zu fragen, wie die Partei antworten solle.

In einem Brief an Cannon vom 21. August 1950 berichtete Dobbs über sein Treffen mit Callen. Er schrieb:

Chicago, Illinois

21. August 1950

Lieber Jim,

Ich habe ‚S‘ besucht. Als ich ihr den Abschnitt im Budenz-Buch zeigte und ihr vom Geschwätz Shachtmans erzählte, reagierte sie mit einer Mischung aus Wut gegen ihre Verleumder und Angst um ihre Familie.

Sie sagte mir, dass das FBI sie und ihre Familie verfolgt habe. Infolgedessen habe ihr Vater fast seinen Job verloren. Er sei informiert worden, er werde gefeuert, falls es weitere Ermittlungen gebe. Das FBI habe versucht, sie über die Partei auszufragen. Sie habe sich aber geweigert, ihnen irgendwelche Informationen zu geben.

Ihre Familie weiß nun Bescheid und hat sie stark unter Druck gesetzt, sich von der Bewegung fernzuhalten.

Sie will weder direkt noch indirekt an einer Antwort an Budenz beteiligt sein. Ich fragte sie, ob sie bereit wäre, sich mit Mike und mir zusammenzusetzen, um uns zu helfen, einige der Fakten zu sammeln, die notwendig sind, um Budenz zu widerlegen, ohne sie offen oder direkt einzubeziehen. Sie sagte, sie wolle sich in keiner Weise in die Sache hineinziehen lassen.

Ich sagte ihr, wir hielten es für absolut notwendig, auf Budenz‘ Anschuldigungen zu antworten. Sie fragte, ob wir nicht einfach eine Erklärung abgeben könnten, dass schon vor drei Jahren eine umfassende Untersuchung seiner Behauptungen durchgeführt wurde. Danach hätte sich seine Geschichte als falsch erwiesen und er sei als Rufmörder bloßgestellt worden. Sie fragte, ob die Erklärung nicht allgemein gehalten, d. h. nicht auf eine bestimmte Person bezogen werden könne, um ihn zu widerlegen. Man solle eher behaupten, dass eine Person, wie er sie beschreibt, niemals im Parteibüro gewesen sei.

Sie schien bei guter Gesundheit zu sein und sich zu freuen, mich zu sehen. Sie erkundigte sich nach allen. Bisher hatte sie nichts von Oscar [Coover, einem langjährigen Führer der SWP, der Anfang des Jahres gestorben war] gehört.

Ich denke, es hat keinen Sinn, sie in dieser Angelegenheit weiter zu bedrängen. Es scheint das Beste zu sein, so weiterzumachen, wie wir es vereinbart haben, als wir die Frage im Sekretariat gleich nach dem letzten Plenum diskutierten.

(unterschrieben) Farrell

Die SWP schickte Dobbs zu Callen, weil sie wissen wollte, ob sie mit dem FBI über die Partei und ihre Führung gesprochen hatte. Der merkwürdige, Dostojewski-artige Charakter des Briefs rührt daher, dass die SWP eine Geschichte auftischte, die sie selbst erfunden hatte und von der sie wusste, dass sie gelogen war. Indem sie jede Untersuchung von Callens Verbindungen zur Kommunistischen Partei verhinderten und Budenz‘ Enthüllungen und Shachtmans und Glotzers Warnungen als „Gerüchte“ und „Geschwätz“ bezeichneten, schufen sie ein erlogenes Narrativ, das sie unbedingt aufrechterhalten wollten.

Dobbs' Brief von 1950 an James Cannon über sein Gespräch mit Sylvia Callen

Callen gab der SWP dreist vor, wie sie auf die Enthüllungen von Budenz reagieren solle. Sie wies Dobbs an, einfach die Existenz von Personen zu leugnen, die „Helens“ Beschreibung entsprechen. Er solle die Ergebnisse der Kontrollkommission von 1947 als Beweis anführen, dass die Anschuldigungen gegen sie unbegründet seien. Die SWP-Führer folgten den Anweisungen Callens – eine Entscheidung, die ebenso feige wie doppelzüngig war.

Eine Woche nach Dobbs‘ Brief, am 28. August 1950, veröffentlichte Cannon einen Artikel im Militant, in dem er bestätigte, dass die Partei einen Bericht über eine mögliche GPU-Agentin in der Parteizentrale erhalten hatte. Cannon nannte Budenz einen „bekannten berufsmäßigen Meineidigen“ und schrieb, dass die Verweise auf „Helen“ in Men Without Faces falsch seien.

„Diese Geschichte, die von Budenz Mitte des Jahres 1950 zum ersten Mal veröffentlicht wurde, ist uns seit mehr als drei Jahren bekannt. 1947 erhielten wir einen ‚Hinweis‘, der angeblich in erster Linie aus dem Umkreis des FBI herrührte, dass eine der Büroangestellten in der Parteizentrale, die namentlich und insbesondere durch frühere Laufbahn- und Biographieangaben identifiziert wurde, eine Agentin der Stalinisten sei.“ [37]

Cannon beschrieb Callen als bloße „Büroangestellte“ und nicht als seine persönliche Sekretärin. Er behauptete, dass „dieser Bericht gemäß den Prinzipien der revolutionären Arbeiterbewegung unverzüglich der parteiinternen Kontrollkommission zur Untersuchung übergeben worden war“. Diese Untersuchung habe „einwandfrei festgestellt, dass die ‚Informationen‘, die zur Identifizierung der beschuldigten Genossin bezüglich ihrer Biographie, ihrer früheren Tätigkeit und ihres Privatlebens angeführt wurden, falsch waren. Es war uns damals klar, dass der Vorwurf entweder auf einer irrtümlich angenommenen Identität beruhte oder eine gezielt platzierte Geschichte war, um Angst vor Agenten in der Organisation auszulösen.“ [38]

Dieser Bericht war von Anfang bis Ende gelogen. Die Kontrollkommission vertuschte die Tatsache, dass Callens Aussage den Bericht von Shachtmans und Glotzers Informanten bestätigt und dass sie über ihre Ehe mit einem führenden Stalinisten gelogen hatte. Der Bericht schloss mit der Verpflichtung der Anwesenden auf Verschwiegenheit und wurde von der engen, persönlichen Freundin der Beschuldigten, Rose Karsner, unterzeichnet. Weit entfernt davon, die Angaben des Informanten zu widerlegen, bestätigten die Anhörungen der Kontrollkommission, dass Callen 1939 nach Chicago gezogen war und der Partei verschwiegen hatte, dass sie mit einem Stalinisten verheiratet und ein ehemaliges Mitglied der stalinistischen Jugendbewegung war. Sie verließ die SWP umgehend, nachdem ihre Tarnung aufgeflogen war. Für diese Tatsachen gab es keine harmlose Erklärung.

Den Anweisungen Callens folgend fügte Cannon hinzu, dass die Behauptungen von Budenz „weder auf diese Person noch auf andere Personen zutreffen, die jemals in der Parteizentrale der Socialist Workers Party gearbeitet haben“. Er behauptete fälschlicherweise, dass „die Kontrollkommission den Vorwurf zurückgewiesen und die beschuldigte Genossin entlastet hat. Sie hat mit der Untersuchung voll kooperiert, alle ihr gestellten Fragen beantwortet und der Kontrollkommission alle Daten zu ihrer Biographie und früheren Berufen, die einer Überprüfung unterzogen wurden, zur Verfügung gestellt.“ [39]

Tatsächlich waren weder Callens Behauptungen überprüft worden, noch gab es eine gründliche Untersuchung. Vom ersten Besuch Shachtmans und Glotzers bis zur Veröffentlichung der Ergebnisse der Kontrollkommission waren kaum mehr als zwei Wochen vergangen. Callen hatte nicht mit der SWP kooperiert.

Budenz war jedoch noch nicht fertig mit der Enttarnung Callens. Am 11. November 1950 legte Budenz dem Komitee für unamerikanische Umtriebe (House Un-American Activities Committee) eine eidesstattliche Erklärung vor, die neue Details zur Rolle von Sylvia Callen-Caldwell enthielt. Diesmal verzichtete Budenz auf den fiktiven Namen ‚Helen‘.

„Eine andere Person, die ich Roberts vorstellte“, sagte Budenz aus und bezog sich dabei auf den Decknamen für Dr. Gregory Rabinowitz, „war Sylvia Caulwell[sic], deren Mädchenname Sylvia Kallen[sic] oder ähnlich lautete.

Ihr Ehemann, Irving Franklin, war in Spanien als Geheimagent tätig gewesen und nach Kanada geschickt worden, um dort bei Spionageaktivitäten zu helfen. [...] Unterdessen machte sich Sylvia unter der Leitung von Roberts-Rabinowitz allmählich für James Cannon, damals Chef der amerikanischen Trotzkisten, unentbehrlich. Sie wurde seine Sekretärin und arbeitete für einige Zeit in dieser Funktion. Roberts-Rabinowitz hat mir mitgeteilt, dass sie sich als unschätzbar erwiesen hat.“ [40]

Die SWP reagierte nicht auf diese Aussage.

Joseph Hansen und die Vertuschung der SWP

Die Titelseite von Isaac Don Levines Buch über Trotzkis Mörder, Ramon Mercader

In den folgenden Jahren mehrten sich die Beweise gegen Franklin, doch die SWP verteidigte sie weiterhin nach dem Muster, das Franklin in ihrem Treffen mit Dobbs entworfen hatte und das in Cannons Artikel vom 28. August 1950 wiederholt worden war.

Im Jahr 1954 und erneut 1958 trat Franklin als Zeugin vor Federal Grand Juries auf, die die Sowjet-Spionage in den USA untersuchten. Bei ihrem ersten Auftritt berief sie sich auf ihr Schweigerecht gemäß dem Fünften Zusatzartikel zur amerikanischen Verfassung. Im Jahr 1958 gab sie jedoch zu, dass sie tatsächlich eine GPU-Agentin war. Diese Aussage wurde erst nach 25 Jahren bekannt.

1959 veröffentlichte der Journalist Isaac Don Levine jedoch ein Buch über Ramón Mercader und die Ermordung Trotzkis durch die GPU mit dem Titel The Mind of An Assassin. Darin wurde Budenz' Aussage untermauert.

Levine schrieb:

„Er [Budenz] ermöglichte es dem NKWD [der GPU], Trotzkis Post an seine New Yorker Anhänger zu öffnen und zu stehlen. Er brachte ein Mädchen der Kommunistischen Partei, eine Sozialarbeiterin aus Chicago, dazu, nach New York zu ziehen und ihre Dienste dem Führer der amerikanischen Trotzkisten James Cannon anzubieten: ‚Sie hatte die vollständige Leitung der trotzkistischen Büros unter sich, wurde Cannons Sekretärin und stellte der sowjetischen Geheimpolizei die gesamte Korrespondenz mit Trotzki in Mexiko-City und mit anderen Trotzkisten weltweit zur Verfügung‘, sagte er aus.“ [41]

Der damalige Vorsitzende der SWP Joseph Hansen versuchte, Levine davon zu überzeugen, die Sache fallen zu lassen. Hansen war Mitte der 1930er Jahre der SWP beigetreten und arbeitete in Coyoacan, wo er Trotzki als Sekretär assistierte und für die Sicherheit zuständig war. Tatsächlich traf er als Zweiter  nach Harold Robins, dem Leiter der Wache  am Tatort ein, nachdem Mercader den tödlichen Schlag gegen Trotzki ausgeführt hatte. Hansen berichtete Cannon am 24. Oktober 1958 über ein Gespräch mit Levine zu dessen Buch:

„Er wollte von mir Informationen über Spione oder Beweise für Spione, die in unserer Bewegung oder in deren Umfeld arbeiten. Da ich über keine solche Informationen verfüge, konnte ich ihm nicht helfen; als er auf Sylvia Caldwell zu sprechen kam, hoffe ich, dass ich ihm einige Anregungen geben konnte, um dieses Gerücht zu ersticken.“

Joseph Hansen

Am 19. März 1960 beantwortete Hansen eine dringende Nachricht von Gerry Healy, dem damaligen nationalen Sekretär der Socialist Labour League, der britischen Sektion des Internationalen Komitees der Vierten Internationale. Healy erkundigte sich bei Hansen, was er über einen Bericht in Levines Buch zu einem weiteren GPU-Agenten namens „Etienne“ wusste. „Etienne“ war der Parteinamen von Mark Zborowski, einem in Paris ansässigen GPU-Agenten, der eine zentrale Rolle bei der Versorgung der stalinistischen Geheimpolizei mit Informationen spielte. Diese Informationen ermöglichten die Morde an Trotzkis Sohn Leon Sedow, Trotzkis politischen Sekretären Erwin Wolf und Rudolf Klement sowie dem GPU-Überläufer Ignaz Reiss. Reiss hatte zuvor die Sowjetunion verlassen, um der Vierten Internationale beizutreten.

Hansen verwies auf seine eigene Rezension von Levines Buch und versuchte, Healys Interesse an Etienne durch die Behauptung abzulenken, die SWP könne niemanden erübrigen, um den Prozess gegen Etienne Zborowski wegen Meineids im Jahr 1958 zu verfolgen. Bei diesem Prozess war Zborowski wegen seiner Verbindungen zu Jack Soble – einem Agenten der GPU, der ein Agentennetz in den Vereinigten Staaten anführte – zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden. In Wirklichkeit hatten weder Hansen noch die SWP Interesse daran, über einen Prozess zu berichten, der die Einzelheiten der Infiltration der Vierten Internationale durch die GPU aufdecken konnte.

Trotzkis Sekretäre Rudolf Klement und Erwin Wolf, der Überläufer der GPU Ignaz Reiss und Trotzkis Sohn und engster Mitarbeiter Leon Sedow – alle von der GPU ermordet

Hansen behauptete, bei seiner Rezension von The Mind of An Assassin hätte er „beschlossen, dem Fall Etienne nicht viel Platz einzuräumen“, weil Levine ein Antikommunist gewesen sei. Hansen sagte, er halte Levines Hinweis auf Cannons persönliche Sekretärin und ihre Identifikation als GPU-Agentin für eine seiner typischen Fälschungen und fügte hinzu: „Aber das hätte auch einen Artikel über unsere damalige Untersuchung der Verleumdungen erfordert, und die Rezension wäre dadurch aus dem Gleichgewicht geraten.“

Hansen fuhr fort: „Eines unserer Hauptanliegen war es, Levines Ansicht, unsere Organisationen seien voller Agenten, nicht die geringste Unterstützung zu geben. Eine solche Ansicht ist tödlich und kann unvergleichlich größeren Schaden anrichten als der gelegentliche Polizeispitzel, der in jeder Organisation mal auftaucht.“ [43]

Cannons Brief an seine Frau, Rose Karsner

Wochen später, im April 1960, schrieb Cannon einen Brief aus Los Angeles an seine Frau Rose Karsner, der hier zum ersten Mal veröffentlicht wird. In entmutigtem Ton schrieb Cannon:

„Ich habe wenig Lust zu schreiben, aber ich schicke diese Nachricht, damit Du Dir keine Sorgen machen musst, dass etwas nicht stimme. Geistig bin ich müde und antriebslos. Ich verbringe die Zeit damit, Dinge zu lesen, die leicht zu lesen sind, ein wenig nachzudenken, aber vor allem zu sinnieren, mich zu erinnern und zu reflektieren. Die meisten meiner Gedanken und Erinnerungen in diesen Tagen sind traurig, und das lähmt den Willen zu arbeiten oder auch nur einen Plan für späteres Arbeiten zu machen.

Die Erinnerungen an die Arbeit, die ich in der Vergangenheit geleistet habe – nicht das Redenhalten und Schreiben, was das einfachste und wohl auch alles war, was andere wirklich wahrgenommen haben, sondern die Leute mitzuziehen – bewirkt bei mir eine verspätete Reaktion von geistiger Ermattung. Ich habe das Gefühl, dass ich bereits all die Schwerarbeit für andere getan habe, die leisten kann oder auch leisten möchte...

Ich will für niemanden mehr etwas tun – tatsächlich kann ich es auch nicht – und ich will nicht, dass jemand etwas für mich tut, außer routinemäßige, technische Dinge. Das meiste, was ich jetzt von den Leuten verlange, ist, mich in Ruhe zu lassen, nicht an mir zu zerren oder zu versuchen, mich zu drängen, und vor allem nicht von mir zu erwarten, dass ich sie aufrichte, sie inspiriere und versuche ihre Probleme zu lösen.“ [44]

Im selben Jahr wurde Sylvia Callen im Prozess gegen den GPU-Spion Robert Soblen, den Bruder von Jack Sobles, als nicht angeklagte Mitverschwörerin erwähnt. Dabei kamen weitere Informationen über Callens Rolle ans Licht. Soble bezeugte: „Ich drang weiter in Trotzkis Umfeld vor und arbeitete mit Cannons Sekretärin, Sylvia... die mir ebenfalls von denselben Russen vorgestellt wurde, die schon vorher für sie [den Agentenring] gearbeitet hatten... Sie sammelte Unterlagen im Sekretariat von Cannon und gab sie mir ... reine Trotzki-Unterlagen.“ [45]

Die GPU-Agenten Jack Soble und Robert Soblen

Erneut unterließ es die SWP, über den Prozess und diese Zeugenaussage zu berichten. Das Fehlen jeglicher Berichterstattung im Militant über den Soblen-Prozess – der es sogar auf die Titelseite der New York Times schaffte – ist umso belastender, als ein weiteres prominentes Ex-Mitglied der SWP, Floyd Cleveland Miller, ebenfalls als Mitverschwörer der GPU aufgeführt war.

Die Vertuschung von Callens Rolle als GPU-Agentin wurde zur offiziellen Politik der SWP-Führung. Auf eine Art und Weise, die durch unschuldige Erklärungen nicht zu rechtfertigen ist, bemühte sich die SWP nach Kräften, um den Anschein ihrer Vertrauenswürdigkeit zu wahren, indem sie den Mythos von Cannons selbstloser Sekretärin aufrechterhielt und Budenz als Meineidigen anprangerte.

Am 12. November 1966 richtete Cannon ein Schreiben an Reba Hansen, die Ehefrau von Joseph Hansen, in dem es um einen Vorschlag eines Parteimitglieds zur Änderung der Funktionsweise der SWP-Kontrollkommission ging. Cannon ging diese Sache auf völlig verlogene Weise an.

Cannon erklärte, dass die Kontrollkommission der Partei einem „doppelten Zweck“ diene. Zum einen solle die Sicherheit der Partei aufrechterhalten werden, zum anderen aber solle die Kommission „die maximale Garantie bieten, dass jedes Parteimitglied, das als der Parteimitgliedschaft unwürdig beschuldigt oder verdächtigt wird, auf eine äußerst gründliche Untersuchung zählen kann“. [46]

Um seine Position zu untermauern, zitierte Cannon den Fall Callen-Caldwell, ohne sie beim Namen zu nennen. Er behauptete, dass damals „ein Gerücht, das von den Shachtman-Anhängern und anderen Leuten von außerhalb der Partei gegen die Integrität einer Sekretärin des nationalen Parteibüros verbreitet wurde, von der Kontrollkommission gründlich untersucht wurde. Diese hat nach Einholung stenographischer Aussagen von allen verfügbaren Quellen die Gerüchte für unbegründet erklärt und grünes Licht für die Fortsetzung der Arbeit des beschuldigten Parteimitglieds gegeben.“ [47]

Dieser Brief an Reba Hansen war eindeutig für die Öffentlichkeit bestimmt und diente dazu, Fragen über die offizielle Geschichte zu unterdrücken, insbesondere bei älteren SWP-Mitgliedern, die sich gefragt haben müssen, warum Sylvia Callen plötzlich die Partei verlassen hatte.

Cannon versäumte es in seinem Brief zu erklären, dass Callen-Caldwell nicht einfach „eine Sekretärin der Parteizentrale“ war, sondern seine persönliche Sekretärin, Assistentin und enge Freundin seiner Frau. Er unterschlug die Tatsache, dass sie – kurz nachdem sie das OK „für die Fortsetzung ihrer Arbeit“ erhalten hatte – die Partei verließ. Die Kontrollkommission von 1947 hatte die Angelegenheit weder „gründlich“ untersucht noch Aussagen „von allen verfügbaren Quellen“ gesammelt, wie Cannon behauptete. Callens Lügen wurden von Budenz, Levine und Soble aufgedeckt, doch die Kontrollkommission der SWP vertuschte ihre wahre Rolle.

Die SWP verteidigt Hansen und Franklin

1975 begann das Internationale Komitee eine eigene Untersuchung zur Sicherheit und die Vierte Internationale. Die ersten Erkenntnisse beinhalteten Beweise für Hansens Treffen mit dem FBI und dem Außenministerium sowie Informationen über Callens Rolle als GPU-Agentin.

Hansen bezeichnete die Enthüllungen als „Geysir von Schmutz“. Er schrieb, dass „die Healy-Anhänger nirgendwo einen Beweis für ihren Vorwurf vorlegten, dass der Agent Robert McGregor, mit dem er sich getroffen hatte, mit einem Agenten des FBI in Verbindung stand“. [48]

Hansen wies die Forderung des IKVI nach einer Untersuchungskommission zu Trotzkis Ermordung zurück und fügte hinzu:

„Sylvia Caldwell (das war ihr Parteiname) arbeitete sehr hart, um ihrer schwierigen Aufgabe gerecht zu werden, das Büro der Socialist Workers Party zu leiten, wozu auch Sekretariatsarbeit für Cannon gehörte. Alle Genossen, die diese mühsame Arbeit mit ihr teilten, nahmen sich an ihr ein Beispiel. Sie waren genauso empört wie sie über die gemeinen Verleumdungen von Budenz.“ [49]

In der Ausgabe der Zeitschrift der SWP Intercontinental Press vom 8. Dezember 1975 griff das führende SWP-Mitglied George Novack Healys „rücksichtslose und willkürliche Anschuldigungen“ gegen „Sylvia Caldwell, Cannons Sekretärin,“ an und schrieb, dass Healy „in seinen wütenden Bestrebungen, Joseph Hansen und seine Kollegen zu verdächtigen, alles für erlaubt hielt“. [50]

Eine Doppelseite aus der IKVI-Veröffentlichung „Für eine Untersuchungskommission“ zu Budenz‘ Enthüllungen

Anfang 1976 veröffentlichte die SWP eine Sammlung von Essays, die dem Wirken des im August 1974 verstorbenen James P. Cannon gewidmet waren. Unter dem Titel James P. Cannon As We Knew Him enthielt der Band Beiträge verschiedener SWP-Mitglieder, darunter einen von Joseph Hansens Frau Reba Hansen, der die folgende außergewöhnliche Hommage enthielt:

„Während dieser Jahre war Sylvia Caldwell als Sekretärin in der Parteizentrale tätig, unter anderem bei Jim, der das Amt des nationalen Sekretärs innehatte. Sie war die zweite hauptberufliche Sekretärin der Partei. Die erste war Lillian Roberts.

Jim erzählte uns oft, wie schwierig es ‚in den alten Zeiten‘ war, Dinge zu erledigen, weil er keine Sekretärin hatte. Er sagte, er sei dankbar für jede Hilfe, die er bekommen könne, und er habe es nie versäumt, seine tiefe Wertschätzung für die Unterstützung zu zeigen, die Sylvia geleistet habe.

Jim erzählte gern, dass Sylvia auf eine Wirtschaftsschule ging, um Stenografie zu lernen, als ihr vorgeschlagen wurde, in der Parteizentrale zu arbeiten. Das war vor den Zeiten der Diktiergeräte und Stenografie war unerlässlich, um angemessene Sitzungsprotokolle zu erstellen und Diktate für Briefe und Artikel zu bewerkstelligen. Sylvia lernte schnell und gut. Ihre Stenografie-Zeichen waren wie Kupferstiche, ihr Tippen ohne Korrekturen und Ausradierungen.

Wenn in der Parteizentrale sehr viel zu tun war und Sylvia Hilfe brauchte, ging ich ihr zur Hand und arbeitete sehr eng mit ihr zusammen. Ihre Leistungsfähigkeit hat mich beeindruckt. Sie beherrschte alles Nötige, um ein Ein-Mann-Büro am Laufen zu halten. Ihre Aufopferung für die Bewegung und ihre Bereitschaft, stundenlang harte Arbeit zu leisten, haben uns alle inspiriert.

Sylvia und ich wurden enge Kollegen und gute persönliche Freunde. Sie war ein warmherziger Mensch.

Als Sylvia 1947 New York wegen familiärer Verpflichtungen verließ, bat mich Jim, ihren Platz in der Parteizentrale einzunehmen. Da dies eine enge Zusammenarbeit mit Jim bedeutete, war ich ein wenig nervös, aber Sylvia half mir bei meinem Wechsel von der Geschäftsführerin des Militant zu meiner neuen Aufgabe.

Damals wohnten Rose und Jim in der 126 West Eleventh Street, siebter Stock. Das Apartmenthaus war modern – es hatte einen Aufzug – und die Zimmer waren für New Yorker Verhältnisse groß. Der vordere Raum in Richtung Eleventh Street war groß genug für zwei Schreibtische, mehrere Aktenschränke und einen Arbeitstisch. Sylvia nahm mich dorthin mit, um mit ihr zu arbeiten und angelernt zu werden.

Aber Jim fiel es nicht leicht, die Sekretärin zu wechseln. Erst nachdem Sylvia bereits einige Zeit weg war, hatte sich Jim in der Parteizentrale an die Zusammenarbeit mit mir gewöhnt und lud mich ein, in die West Eleventh Street zu kommen.“ [51]

Es gibt keine harmlose Erklärung für diese verlogene Hommage an Sylvia Callen in einem Buch, das angeblich dazu gedacht war, Cannon zu ehren. Reba Hansen wusste sehr wohl, dass Callen 1947 nicht wegen „familiärer Verpflichtungen“ plötzlich aus der Parteizentrale der SWP verschwand, sondern weil sie als GPU-Agentin entlarvt worden war. In ihrer wohlfeilen Lobhudelei für die Sekretärin Cannons, die fast ein Jahrzehnt lang die Parteizentrale geleitet hatte, erwähnte sie weder die Beschuldigungen von Budenz, noch die Kontrollkommission von 1947, noch Budenz' detailliertere Darstellung von Callens Aktivitäten im Jahr 1950, noch ihre Bezeichnung als Mitverschwörerin durch die US-Regierung im Prozess gegen den sowjetischen Agenten Robert Soblen im Jahr 1960.

Fortsetzung folgt

Anmerkungen:

[30] Budenz, Louis, Men Without Faces (New York: Harper and Brothers, 1950), S. 124.

[31] Ebd., S. 123-24.

[32] Ebd., S. 125.

[33] Ebd.

[34] Ebd.

[35] Ebd., S. 126.

[36] Ebd.

[37] The Militant, 28. August 1950, verfügbar unter https://www.marxists.org/history/etol/newspape/themilitant/1950/v14n01-jan-02-1950-mil.pdf.

[38] Ebd.

39] The Militant, 28. August 1950, verfügbar unter https://www.marxists.org/history/etol/newspape/themilitant/1950/v14n01-jan-02-1950-mil.pdf.

[40] The Sylvia Franklin Dossier (New York: Labor Publications Inc., 1977).

[41] Ebd.

[42] Joseph Hansen an James P. Cannon, 24. Oktober 1958, Wisconsin Historical Society.

[43] The Indictment stands (New York: Labor Publications, Inc. 1976).

[44] James P. Cannon an Rose Karsner, April 1960, Wisconsin Historical Society.

[45] The Gelfand Case Bd. 1 (Detroit: Labor Publications, 1985) S. 58.

[46] Building the Revolutionary Party, an Introduction to James P. Cannon (Chippendale, Australien: New Course Publications, 1997) S.70.

[47] Ebd.

[48] Intercontinental Press, 24. November 1975.

[49] Ebd.

[50] Intercontinental Press, 8. Dezember 1975.

[51] James P. Cannon as We Knew Him (New York: Pathfinder Press, 1976) S. 232-33.

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