Israel: Landesweiter Streik der Pflegekräfte

In Israel sind am Dienstag die Krankenschwestern und Pfleger in einen landesweiten Streik getreten. Sie protestieren gegen die hohe Arbeitsbelastung, Personalmangel, den niedrigen Versorgungsstandard und eine geplante Lohnkürzung.

Krankenhäuser und Kliniken der Health Management Organisation (HMO) bieten nur eine Notfallversorgung und ein reduziertes Maß an grundlegenden Dienstleistungen. In jeder Stadt übernimmt ein Familien-Gesundheitszentrum die Versorgung von Frauen mit Hochrisikoschwangerschaften. Dagegen sind auch die Schulgesundheitsämter, wie auch die Zweigstellen der Gesundheitsbehörde geschlossen, die Impfungen für Auslandsreisen anbieten.

Der Streik wurde ausgerufen, nachdem am 22. Juli die Gespräche mit dem Finanz- und Gesundheitsministerium gescheitert waren, was am Montagabend wütende Proteste von Pflegekräften vor dem Gebäude des Ministeriums auslöste.

Am Dienstag sagte der Generaldirektor des Gesundheitsministeriums, Moshe Bar Siman-Tov: „Dieser Streik ist unnötig, und er zwingt uns, vor das Arbeitsgericht zu gehen, um den Konflikt zu lösen.“ Das ist eine Lüge. Weit davon entfernt, den Konflikt zu „lösen“, ist das Gesundheitsministerium entschlossen, ihn durch eine einstweilige Verfügung zu beenden, um das streikende Krankenpersonal wieder an die Arbeit zu zwingen.

Das Gesundheitsministerium hat auch angeordnet, dass die Krankenhaus- und Klinikmanager die Löhne derjenigen, die für die Streikaktion verantwortlich sind, um 20 Prozent kürzen. Das hat die Wut des Krankenhauspersonals zusätzlich gesteigert und den Kampf ausgeweitet, so dass sich der Minister gezwungen sah, diese Anordnung zurückzuziehen.

In der Vergangenheit hat der Staat beim Pflegepersonal in den Krankenhäusern nur ungern Lohnsenkungen durchgesetzt. Doch schon kurz vor dem jüngsten Angriff hatte die Übergangsregierung von Premierminister Benjamin Netanyahu ein Sparpaket über 900 Millionen Dollar verabschiedet. Bei den Wahlen vom 9. April hat keine der Parteien und Parteienblöcke ihre Wirtschafts- und Sozialprogramme offen gelegt, geschweige denn bekanntgegeben, was für Angriffe auf israelische Arbeiterfamilien zukommen.

Der Streik schafft nun die Voraussetzung dafür, dass diese Fragen in den Mittelpunkt rücken, wenn es im Herbst zu Neuwahlen kommt. Diese sind notwendig, weil Netanjahu bisher nicht in der Lage ist, eine Regierung zu bilden, was die enorme politische und wirtschaftliche Krise der herrschenden Klasse Israels offenlegt.

Der Streik, den die National Nurses Union ausgerufen hat, ist Teil eines größeren Arbeitskonflikts, der schon seit Monaten schwelt. Die Krankenpfleger und -schwestern protestieren immer lauter gegen die seit Jahren völlig unzureichende Personalausstattung.

Eine Vergleichsstudie der OECD hat ergeben, dass Israel in 2018 nur halb so viele Pflegekräfte pro 1.000 Einwohner hatte wie der Durchschnitt aller OECD-Länder. Während der Durchschnitt bei 10 Krankenpflegern pro 1.000 Einwohnern liegt, sind es in Israel fünf.

Dies erschwert die Einhaltung neuer Standards, die das Gesundheitsministerium vorschreibt. Sie verursachen zusätzliche Arbeit und können nur auf Kosten der Patientenversorgung eingehalten werden. Ihre Dokumentation ist in vielen Fällen reine Zeitverschwendung. Die Krankenschwestern weisen der Regierung die Schuld an Personalengpässen zu, die zu langen Wartelisten für bestimmte Behandlungen und zu unerträglichen Warteschlangen führen. In den Krankenhäusern werden Patienten unbeaufsichtigt auf dem Flur geparkt, während die Pflegekräfte nach einem freien Bett suchen. Die hohe Arbeitsbelastung der Krankenschwestern gefährdet die Patientensicherheit.

Die examinierte Krankenschwester Madlena Ashtrum, die im Shmuel Harofe Hospital arbeitet, sagte der Zeitung Israel Today: „Unsere Arbeitsbedingungen sind schon unmöglich, und jetzt wollen sie unsere Löhne noch um 20 Prozent senken? Wir haben die Krankenhäuser verlassen.“

Sie fügte hinzu: „Viele von uns arbeiten bereits 12 Stunden am Tag und verdienen kaum den Mindestlohn.“ Ihr Grundgehalt betrage 1.300 Dollar im Monat, aber mit den hohen Lebenshaltungs- und besonders Mietkosten in Israel müsse sie Zusatzschichten leisten, um über die Runden zu kommen. Sie sagte, die Entscheidung von Gesundheitsminister Ya'akov Litzman von der rechten Partei der Vereinigten Torah, das Gehalt der Pflegekräfte um 20 Prozent zu kürzen, werde es ihr unmöglich machen, weiter zu arbeiten, obwohl sie seit mehr als 25 Jahren als Krankenschwester arbeitet.

Ashtrum forderte Litzman auf, „zu kommen und die Patienten anzuschauen, die auf den Fluren schlafen, Krankenschwestern, die aufgrund von Personalengpässen Überstunden machen und selbst putzen müssen, weil es nicht genug Reinigungspersonal gibt. Die schlechten Arbeitsbedingungen und die schweren Fallbelastungen führen dazu, dass die Patienten nicht richtig versorgt werden.“

Auch an Krankenhausbetten besteht akuter Mangel. Die Arzt-Patienten-Relation ist auf einem Rekordtief. Nur wenige Krankenhäuser in den großen Ballungszentren verfügen über die neuesten Geräte, und anderswo ist der Zugang zu fortschrittlichen medizinischen Behandlungen sehr eingeschränkt. Das bedeutet, dass in der Praxis nur die Reichen Zugang zu einer hochwertigen Gesundheitsversorgung haben, während die Armen Schmerzen leiden oder einen frühen Tod sterben müssen.

In Israel kommt der Verteidigungshaushalt a priori an erster Stelle. Während die Regierung für ihre Maßnahmen zur Unterdrückung der Palästinenser und ihre militärischen Angriffe in der Region Milliarden ausgibt, gehören ihre Ausgaben für das Gesundheitswesen zu den niedrigsten aller Industrieländer. In diesem Jahr hat sie den Gesundheitsetat sogar noch reduziert.

Letzte Woche veröffentlichte das israelische Taub Centre for Social Policy Studies einen Bericht, der zu dem Schluss kam, dass das Versäumnis der Regierung, das Gesundheitssystem zu planen, zu finanzieren und zu regulieren, zu einem gravierenden Mangel an Betten, Ineffizienz und Lücken in der Zugänglichkeit der Behandlung geführt habe. Die Studie stellte fest, dass Israel über weniger Krankenhausbetten, kürzere Krankenhausaufenthalte und höhere Belegungsraten als andere OECD-Mitglieder verfügt.

Israel hat 2,2 Krankenhausbetten pro 1.000 Einwohner gegenüber 3,6 in der OECD. Der Rückgang der Betten ist besonders stark und betrug von 2002 bis 2017 22 Prozent gegenüber 15 Prozent in der OECD im gleichen Zeitraum. Der Zugang zu Gesundheitsversorgung und Krankenhauseinrichtungen ist außerhalb der drei größten Städte (Jerusalem, Tel Aviv und Haifa) besonders akut, was die soziale Ungleichheit weiter verschärft.

Der Bericht besagt, dass der kürzere durchschnittliche Krankenhausaufenthalt in Israel von etwa 5 Tagen pro Patient im Vergleich zu 6,7 Tagen in allen OECD-Ländern und die hohe Auslastung von etwa 94 Prozent im Vergleich zu 75 Prozent in der OECD die Fähigkeit der Krankenhäuser, Notfälle zu bewältigen, verringert und auf ein potenziell niedrigeres Niveau der Behandlungsqualität hinweist.

Die öffentliche Frustration über die unzureichende Gesundheitsversorgung ist so groß, dass in allen Abteilungen, aber besonders in Notaufnahmen und Ambulanzen, Krankenschwestern und Pfleger Opfer von Gewalt geworden sind. Das stand auch in einem Bericht aus dem Jahr 2017 im Israel Journal of Health Policy Research. Im vergangenen August streikten die Krankenschwestern, weil die Regierung nicht auf ihre Beschwerden über Angriffe auf ihre Kolleginnen und Kollegen reagierte. Empfehlungen eines Ausschusses zur Beseitigung von Gewalt im Gesundheitswesen, welche die Installation von Überwachungskameras und die Einstellung von zusätzlichem Sicherheitspersonal forderten, wurden von der Regierung nicht beachtet.

Solche Bedingungen sind nicht nur eine Anklage an die Regierung Netanjahu, sondern richten sich auch gegen frühere Labour-Regierungen und die Medizinergewerkschaft, die zu Histadrut gehört. Histadrut, der gewerkschaftliche Dachverband Israels, ist eine korporatistische und rassistische Organisation, die sich bis vor kurzem sogar weigerte, Wanderarbeiter – die am stärksten ausgebeuteten Arbeiter Israels – zu vertreten. Sie besitzt und kontrolliert seit Jahrzehnten einen Großteil der israelischen Wirtschaft, einschließlich ihrer größten Krankenkasse.

Der Organisationsgrad der Gewerkschaften in einem Land, in dem einmal 85 Prozent der Arbeiter Gewerkschaftsmitglied waren, befindet sich im freien Fall, denn wie auch in andern Ländern, hat Histadrut einen Arbeitskampf nach dem andern ausverkauft.

Auch in dem jetzigen Streik hat die Gewerkschaft der Pflegekräfte nicht vor, den Streik auszuweiten. Dies obwohl auch die Krankenhausärzte Forderungen nach mehr medizinischem Personal aufgestellt haben. Auch die ganze Bevölkerung ist über die schlechte Gesundheitsversorgung zutiefst unzufrieden, und die Probleme in den anderen öffentlichen Diensten (Bildung, Soziales und Verkehr) haben schon mehrmals zu Streik geführt.

Die traditionelle Verbindung von Histadrut zur Arbeitspartei wurde zerrissen, als Labour in den 1980er Jahren der vom Likud geführten Regierung der Nationalen Einheit beitrat und deren neoliberale Wirtschaftspolitik umsetzte. Als die Labour-Regierung das Krankenversicherungssystem reorganisierte, beseitigte sie damit jeden noch bestehenden Anreiz für die Arbeitnehmer, in der Gewerkschaft zu bleiben. Seitdem kommt es im Gesundheitswesen zu immer neuen Kürzungen.

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