Wie die hessischen Behörden den NSU und die Lübcke-Mörder decken

Der Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes Andreas Temme war dienstlich mit dem Neonazi Stephan Ernst, dem mutmaßlichen Mörder des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke befasst. Das teilte Innenminister Peter Beuth (CDU) am Donnerstag dem Innenausschuss des hessischen Landtags mit.

Auch mögliche Beziehungen von Temme zu Markus H., der wegen Beihilfe zum Mord an Lübcke in Untersuchungshaft sitzt, schloss Beuth nicht aus. Lübcke war am 2. Juni auf der Terrasse seines Wohnhauses erschossen worden.

Die Informationen sind explosiv. Sie bestätigen die Existenz eines weitverzweigten Netzwerks, das vom Nationalsozialistischen Untergrund (NSU), auf dessen Konto mindestens zehn rassistische Morde gehen, über die Lübcke-Mörder bis in den Verfassungsschutz und höchste Regierungskreise reicht.

Der hessische Landtag wird nun voraussichtlich einen Untersuchungsausschuss einsetzen, der sich mit den Hintergründen des Lübcke-Mords befasst. Wirkliche Aufklärung ist von einem solchen Ausschuss allerdings nicht zu erwarten. Ein früherer Ausschuss zum NSU hatte sich von der Landesregierung, einem Bündnis aus CDU und Grünen, diktieren lassen, was er erfahren durfte und was nicht.

Wie man inzwischen weiß, hatte sich dieser Ausschuss im Februar 2016 auch mit Stephan Ernst beschäftigt. Dieser war damals auf einer internen Liste der Sicherheitsbehörden als einer von sieben relevanten nordhessischen Neonazis aufgeführt und als besonders gewaltbereit bezeichnet worden. Trotzdem behauptete der Verfassungsschutz nach dem Lübcke-Mord drei Jahre später, Ernst sei seit zehn Jahren nicht mehr auffällig gewesen und deshalb vom Radar des Geheimdienstes verschwunden – und niemand schlug Alarm.

Die direkte Verbindung zwischen Temme und Ernst bestätigt nun, wie eng die Beziehungen zwischen rechtsextremer Terrorszene und Sicherheitsbehörden sind und wie sehr sich die hessische Regierung bemüht hat, diese Beziehungen zu vertuschen.

Andreas Temme ist eine Schlüsselfigur im NSU-Komplex. Seine Rolle wurde nie vollständig aufgeklärt, weil der frühere hessische Innenminister und derzeitige Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) und seine Nachfolger Mitarbeitern des Verfassungsschutzes die Aussagegenehmigung verweigerten und relevante Dokumente für Jahrzehnte unter Geheimhaltung stellten.

Temme war beim hessischen Verfassungsschutz für V-Leute in der rechtsextremen Szene zuständig. Als im April 2006 Halit Yozgat in Kassel als neuntes Opfer vom NSU erschossen wurde, saß Temme in dem Internetcafé, in dem der Mord geschah. Obwohl er keine drei Meter vom Tatort entfernt saß, wollte er später weder etwas gesehen noch etwas gehört und auch die Leiche nicht bemerkt haben, als er das Café verließ – was mehrere Fachleute für unmöglich halten. Er meldete sich auch nicht bei der Polizei, als die Medien über den Mord berichteten.

Als die Ermittler seine Wohnung durchsuchten, fanden sie zahlreiche Waffen sowie Nazi-Literatur, darunter ein Exemplar von Hitlers „Mein Kampf“. Temme, der in seiner Jugend „Klein-Adolf“ genannt wurde, war offensichtlich selbst rechtsextrem. Doch die hessische Regierung hielt ihre schützende Hand über ihn. Innenminister Bouffier verfügte, dass alle V-Leute für die Vernehmung gesperrt wurden.

Temme musste zwar später als Zeuge im Münchener NSU-Prozess sowie vor dem hessischen NSU-Untersuchungsausschuss aussagen. Doch da der Verfassungsschutz wichtige Akten unter Verschluss hielt, gelang es nie, seine wirkliche Rolle aufzuklären.

Besondere Bedeutung hat dabei ein 230 Seiten langer interner Bericht, in dem der hessische Verfassungsschutz 2012 seine Erkenntnisse über die rechtsterroristische Szene in den vorangegangenen zwanzig Jahren zusammenfasste. Von diesem Bericht, der 2014 in einer revidierten Form an das Innenministerium übergeben wurde, bekam der Untersuchungsausschuss des Parlaments lediglich 30 Seiten zu sehen.

Der Rest wurde für 120 Jahre unter Geheimhaltung gestellt! Das Innenministerium begründete diese außergewöhnlich lange Frist damit, dass nicht nur die zahlreichen Informanten in der rechtsextremen Szene, sondern auch ihre Nachkommen geschützt werden müssten. Später reduzierte es die Frist auf 40 Jahre.

Während sich das Parlament mit dieser Zensurmaßnahme abfand, klagten die Welt am Sonntag und deren Herausgeber Stefan Aust, der ein Buch und zahlreiche Artikel zum NSU-Komplex verfasst hat, im Oktober 2017 dagegen. Nach zweijährigen Auseinandersetzungen hat das Verwaltungsgericht Wiesbaden nun entschieden, dass der Verfassungsschutz der Zeitung mitteilen muss, wie oft der Name des mutmaßlichen Lübcke-Mörders Stephan Ernst in dem geheimen Bericht genannt wird.

Dabei kam Erstaunliches zutage. Während Ernst in der ursprünglichen Fassung elf Mal erwähnt wird, taucht sein Name in der Endfassung kein einziges Mal auf. Warum sein Name getilgt wurde, ist nicht bekannt. Andreas Temme wird in der ursprünglichen Fassung zwei Mal und in der Endfassung sechs Mal genannt. Benjamin Gärtner, ein Kasseler Neonazi, den Temme damals als V-Mann führte, kommt in der ersten Fassung 19 Mal und in der zweiten lediglich sechs Mal vor.

Bereits im Laufe der NSU-Ermittlungen war bekannt geworden, dass Temme unmittelbar vor der Ermordung Halit Yozgats mit Gärtner telefoniert hatte. Der V-Mann mit dem Decknamen „Gemüse“ war bisher die einzige nachgewiesene Verbindung zwischen dem Verfassungsschutzmitarbeiter Temme und dem mutmaßlichen Lübcke-Mörder Ernst. Gärtner war, wie er im Februar 2016 – also drei Jahre vor dem Lübcke-Mord – als Zeuge vor dem hessischen NSU-Ausschuss aussagte, mit Ernst befreundet. Als ihn der Linkspartei-Abgeordnete Hermann Schaus auf Ernst ansprach, sagte er, er habe einen Stephan gekannt, „den haben wir NPD-Stephan genannt“.

Temmes direkte Verbindungen zu Ernst, die Innenminister Beuth nun eingestanden hat, zeigen, dass dessen Verhältnis zum Verfassungsschutz noch wesentlich enger war, als bisher bekannt. Innenminister Peter Beuth (CDU) dementierte denn vorsichtshalber auch, dass Ernst je als Informant des Verfassungsschutzes gearbeitet habe. „Stephan E. war zu keiner Zeit als V-Mann tätig“, betonte er – was bei der bisherigen Informationspolitik der hessischen Landesregierung eher den Verdacht bestärkt, dass es tatsächlich so war.

Auf alle Fälle lässt sich die Behauptung, Ernst sei vor dem Lübcke-Mord zehn Jahre lang vom Radar der Sicherheitsbehörden verschwunden, seit langem nicht mehr aufrecht erhalten. Allein die Tatsachen, dass er 2012 in dem internen Bericht des Verfassungsschutzes elf Mal erwähnt wurde und dass sich der NSU-Ausschuss des Landtags bereits 2016 mit ihm befasste, wiederlegen das. Außerdem wurde er auch immer weder in rechtsextremen Zirkeln beobachtet. Offensichtlich ist Ernst nicht aus dem Blickfeld des Verfassungsschutzes verschwunden, sondern dieser hat ihn gezielt verschwinden lassen. Die Frage ist warum.

Auch Temme genießt weiterhin offiziellen Schutz. Er wurde 2007, nach dem NSU-Mord in Kassel, in das Regierungspräsidium Kassel versetzt, das Lübcke ab 2009 bis zu seiner Ermordung leitete. Dort arbeitet er auch heute noch. Als der SPD-Landtagsabgeordnete Günter Rudolph aufgrund seiner dubiosen Beziehung zum Lübcke-Mörder seine Versetzung forderte, lehnten sowohl das Innenministerium wie das Regierungspräsidium ab. „Andreas Temme ist ein ganz normaler Mitarbeiter, der sehr ordentlich arbeitet,“ teilte dessen stellvertretender Sprecher Harald Merz mit.

Auch die Rolle von Ministerpräsident und Ex-Innenminister Volker Bouffier, der wie kein anderer dazu beigetragen hat, die Hintergründe des rechtsterroristischen Netzwerks und seiner Verbindungen zum Verfassungsschutz zu vertuschen, bleibt im Dunkeln. Laut dem Buch „Extreme Sicherheit“, das sich mit rechtsradikalen Netzwerken im Staatsapparat befasst, kannten sich Bouffier und Temme spätestens seit dem Jahr 2000 persönlich. Sie begegneten sich in einem inoffiziellen „CDU-Arbeitskreis“ innerhalb des hessischen Verfassungsschutzes, der sich regelmäßig traf.

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