Europa: Migrantenkinder hinter Gittern

Der aggressive Umgang der US-Regierung von Donald Trump mit Migrantenkindern ist bekannt und berüchtigt: Zu Hunderten werden sie in den USA von den Eltern getrennt und inhaftiert. Dass auch die EU-Regierungen eingewanderte Kinder und Minderjährige schlecht behandeln und massenhaft hinter Gitter und Stacheldraht bringen, haben jetzt zwei neue Studien bestätigt.

Die Studie „Minor Migrants“ des europäischen Journalistenteams „Investigate Europe“ wird in Kürze veröffentlicht. Darauf machte am Dienstag der Berliner Tagesspiegel unter dem Titel, „Wie Europa geflüchtete Kinder einsperrt“, aufmerksam. Das Team von Reportern aus acht europäischen Ländern recherchierte drei Monate lang in ganz Europa, verschaffte sich Zugang zu den Lagern und sprach mit Hunderten Flüchtlingen, Beamten und Kinderärzten.

Kurz davor brachte die UN-Menschenrechtsbehörde Ende November 2019 ihre umfassende Studie „Children Deprived of Liberty“ zum Abschluss. Auch diese, vom österreichischen Soziologen Manfred Nowak geleitete Untersuchung benennt drastische Menschenrechtsverletzungen an den EU-Außengrenzen im Umgang mit Flüchtlingskindern.

Vor dreißig Jahren, am 20. November 1989, versprachen die Vereinten Nationen in ihrer Kinderrechtskonvention, dafür zu sorgen, „dass keinem Kind die Freiheit rechtswidrig oder willkürlich entzogen wird“. Doch die heutige Realität sieht sehr anders aus. Obwohl konkrete Zahlen fehlen, weil die meisten Regierungen sie nicht zur Verfügung stellen, ist klar, dass die EU-Regierungen tausenden Kindern und Jugendlichen die Freiheit vorenthalten.

Bis zu einem Drittel der in Europa einwandernden Flüchtlinge und Migranten sind Kinder und Jugendliche, und in beinahe allen europäischen Ländern landen sie in geschlossenen Zentren. An Orten, die offiziell „Transitzone“, „Familieneinheit“, „Welcome Center“, „Safe Zone“ oder „Ankerzentrum“ heißen, werden sie ihrer elementaren Rechte beraubt. Sie dürfen nicht mit Gleichaltrigen in die Schule gehen und werden oftmals von Eltern, Verwandten oder Bezugspersonen getrennt. Viele sind isoliert, traumatisiert und krank und entbehren der nötigen ärztlichen Hilfe. Wieder andere sind Gewalt und Missbrauch ausgesetzt.

Obwohl die Studien die Situation wohl nur streiflichtartig zeigen, ist schon der Eindruck der ersten Zusammenfassungen verheerend. So sollen in Frankreich laut mehreren NGO-Untersuchungen allein im Jahr 2017 mehr als 2500 Migrantenkinder inhaftiert worden sein. In Polen werden laut offiziellen Zahlen jährlich bis zu 200 Kinder in geschlossene Haftanstalten eingewiesen.

In Ungarn werden nahe der Grenze zu Serbien zwei sogenannte „Transitzonen“ betrieben, eine in Tompa und eine in Röszke. Diese effektiven Gefängnisse sind durch hohe Metallgitter abgesperrt. Ein Ausgang, der zurück nach Serbien führt, ist zwar offen, doch das Tor nach Ungarn ist es nicht. Dort sollen sich nach Schätzung der NGO Helsinki Commission derzeit 300 bis 360 Menschen aufhalten. Das Journalistenteam stieß dort auf Reza, einen iranischen Siebzehnjährigen, der sich seit mehr als einem Jahr in Röszke aufhält.

Wie bekannt wurde, kommt es in Ungarn immer wieder vor, dass Asylbewerbern die Nahrungsmittel entzogen werden. Obwohl sie in der geschlossenen Zone eingesperrt sind, werden sie zeitweise nicht mit Essen versorgt, bis sie fast verhungert sind.

Die wohl grauenhaftesten Zustände herrschen im Lager Moria auf der griechischen Insel Lesbos. Dort leben derzeit 18.800 Menschen in einem Lager, das für weniger als 3000 Menschen gebaut wurde. Das Lager ist von der pseudolinken Syriza-Regierung eingerichtet worden, die von 2015 bis 2019 an der Macht war.

In den griechischen Flüchtlingslagern Lesbos, Chios, Samos, Leros und Kos halten sich ungefähr 4.500 unbegleitete Minderjährige auf. Laut UNHCR erstach auf Lesbos ein 15-jähriger Afghane im August einen gleichaltrigen Jungen vor den Augen weiterer Kinder. In Moira ging Ende September eine Wohncontainerburg in Flammen auf. Eine Frau verbrannte und ein Kind wurde lebensgefährlich verletzt. Im November starb ein neunmonatiges Baby aus der Republik Kongo an den Folgen von Dehydrierung.

Flüchtlinge mit Kindern vor Patrick-Henry-Village (Heidelberg 2015)

Auch in Deutschland sind die Zustände für Migrantenkinder nicht besser. Die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung aus CDU/CSU und SPD ist mehr der „Abschreckung“ als den Menschenrechten verpflichtet und strebt offensichtlich danach, das Programm der AfD in die Tat umzusetzen. Seit Jahren ist das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) bemüht, so viele Asylsuchende wie möglich abzuweisen, und schreckt auch vor Abschiebungen in Kriegsgebiete nicht zurück. Am Abend des 14. Januar wurden erneut 37 zumeist junge Afghanen nach Kabul abgeschoben. Es war der 31. solche Charterflug nach Afghanistan.

Von den wenigen Familien, die es tatsächlich bis Deutschland schaffen, landen viele hinter Gittern. An den Flughäfen gilt das sogenannten Flughafenverfahren, das in Berlin-Schönefeld, Düsseldorf, Hamburg, München und Frankfurt am Main zur Anwendung kommt. Dort werden die Menschen, deren Einreise das Bamf nicht erlaubt, entweder sofort wieder abgeschoben oder bis zur Entscheidung im Transitbereich festgehalten. Das führt dazu, dass dort auch Kinder manchmal auf Wochen und Monate hinaus eingesperrt bleiben.

In den vergangenen zehn Jahren gab es über 6000 Flughafenverfahren, und in jedem vierten Fall war ein Kind betroffen. Laut Angaben des Innenministeriums wurden in Deutschland in der Zeit zwischen 2009 und 2019 fast 400 Kinder in Abschiebehaft eingesperrt.

1996 hat das Bundesverfassungsgericht in einem Grundsatzartikel entschieden, dass das Einsperren im Flughafentransit keine Freiheitsberaubung im Sinne des Grundgesetzes sei. Es ist jedoch völlig klar, dass auch diese Haftsituation für Minderjährige extrem belastend ist. Beispielsweise haben Pro Asyl und ein Rechtsanwalt bekannt gemacht, dass im Frankfurter Transitbereich Kinder miterleben mussten, wie ein Mitgefangener versuchte, sich im Innenhof zu erhängen.

Seit zwei Jahren gibt es in Deutschland darüber hinaus Horst Seehofers sogenannte Ankerzentren. Sie sind bereits in Bayern, Sachsen und dem Saarland errichtet worden, und Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern wollen sie einführen. Es sind große, abgeschlossene Flüchtlingslager, in denen hunderte Menschen, auch Familien mit Kindern, in Massenunterkünften kaserniert und von der Bundespolizei bewacht werden. Im Jahr 2017 sollen 45 Prozent der Menschen, die in Ankerzentren inhaftiert wurden, Kinder und Jugendliche gewesen sein. Dagegen haben zahlreiche Flüchtlings- und Familienverbände protestiert.

Der Bayerische Flüchtlingsrat hat immer wieder auf die Missstände in Ankerzentren hingewiesen. Wie er schreibt, kommt es dort zu den „verschiedensten Formen der Gewalt durch Sicherheitspersonal (…) Das Spektrum reicht von psychischer und physischer Gewalt bis hin zu sexuellen Grenzverletzungen und Übergriffen.“

Weiter heißt es: „Massenunterkünfte sind per se gewaltfördernd. Desto größer die Einrichtung ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit von gewalttätigen Übergriffen. Ein hoher Grad an Anonymität, mangelnde Privat- und Intimsphäre, fehlende Schutz- und Rückzugsmöglichkeiten, keine abschließbaren Sanitär- und Schlafräume, (…) die gemeinsame Nutzung von Zimmern und der sanitären Anlagen mit Fremden, der hohe Geräuschpegel, der Mangel an Tagesstruktur und Beschäftigung sowie die Isolation von der Gesellschaft, eingeschränkte Rechte und die kontinuierliche Kontrolle auch der Privaträume durch das Personal sind strukturelle Ursachen, die Gewalt begünstigen.“

Auch in den übrigen Bundesländern, die ihre Flüchtlingsunterkünfte noch nicht offiziell in Ankerzentren umgebaut haben, sind Kinder und Jugendliche keineswegs sicher.

Im vergangenen April hat die Bundesregierung das „Geordnete-Rückkehr-Gesetz“ von Innenminister Horst Seehofer (CDU) beschlossen, das die Inhaftierung und Abschiebung von Asylbewerbern erleichtert. Seitdem ist es möglich, asylsuchende Familien bis zu sechs Monate lang in einer Unterkunft festzuhalten.

Zwar sind die Erstaufnahmeeinrichtungen keine Gefängnisse, man darf sie tagsüber verlassen, doch meist befinden sie sich weitab von den Innenstädten mit ihren Einkaufsmöglichkeiten, Ärzten und Schulen, etc. Dies ist besonders für Kinder eine große Belastung.

Der Tagesspiegel zitiert dazu die Psychiaterin Ute Merkel, die Menschen in einer Dresdner Einrichtung betreut, mit den Worten: „Wer nicht schon traumatisiert ist, wird hier traumatisiert.“ So habe beispielsweise ein elfjähriges Mädchen aus Eritrea in Dresden aufgehört zu sprechen. Zuvor sei der kleine Bruder des Mädchens auf der Flucht durch die Wüste verdurstet. Wie die Ärztin erklärte, hat das Mädchen miterlebt, wie ihre Mutter mit einer Kinderleiche durch die Wüste lief.

Die deutschen Behörden gehen nicht davon aus, dass diese Kinder Schutz und Hilfe benötigen, sondern sie sind nur bestrebt, sie möglichst schnell wieder loszuwerden. Das zeigt auch das Beispiel des jungen Gambiers Jallow B. im hessischen Gießen. Er sitzt zurzeit seit über einem Monat in Abschiebehaft, weil die hessischen Behörden ihn für volljährig erklärt haben und nach Italien abschieben wollen. Wie „Investigate Europe“ berichtet, hat die Behörde das Geburtsdatum des 17-Jährigen willkürlich auf den 31. Dezember 2000 festgesetzt.

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