Öffnungen und Sonderrechte für Geimpfte: Die Regierung spielt mit dem Feuer

Eine endlose Debatte über Vorrechte für Geimpfte und Genesene wird derzeit in den deutschen Medien geführt. „Schon ab Samstag“ sollen sie zahlreiche Ausnahmefreiheiten genießen, verkündigte Gesundheitsminister Spahn am Dienstag, den 4. Mai. Das Thema dient in erster Linie dazu, die rasche Öffnung der Tourismusbranche und der gesamten Wirtschaft voranzutreiben. Inmitten der dritten Corona-Welle kommt dies einem Spiel mit dem Feuer gleich.

Mehr als 3,4 Millionen Menschen haben sich in Deutschland nachweislich mit Sars-CoV-2 infiziert, und über 84.000 Covid-19-Patienten sind verstorben. Aktuell sind weltweit fast 20 Millionen Menschen an Corona erkrankt. In Deutschland sind es 300.000 Corona-Patienten, von denen über 4800 in einer Intensivstation um Atem ringen. Diesen Kampf verlieren täglich mehrere hundert Covid-19-Patienten, und sie sterben eines völlig unnötigen Todes.

Intensivbett (Foto: Calleamanecer / Wikimedia)

Solche erschreckenden Zahlen und Fakten blenden die Politiker gerne aus. Stattdessen behaupten sie wie Olaf Scholz, allein der Umstand, dass jetzt etwa dreißig Prozent der Bevölkerung erstmals geimpft seien, vermittle „schon das Gefühl, dass der Sommer besser laufen wird“. Der Vizekanzler und Spitzenkandidat der SPD sagte dies am Montag in der ZDF-Sendung „Was nun, Herr Scholz?“. „Das Impftempo nimmt gerade dramatisch zu“, so Scholz. „Wir sind schon sehr weit gekommen.“

Wie alle führenden Politiker vermittelt Scholz ein völlig falsches Gefühl der Sicherheit. Zweimal geimpft sind tatsächlich gerade einmal acht Prozent der Bevölkerung, das ist noch meilenweit entfernt von jeder Art verlässlichem Schutz. Im Corona-Podcast des NDR mahnte deshalb Sandra Ciesek, Leiterin der Virologie am Uniklinikum Frankfurt am Main, jede positive Prognose bezüglich der Corona-Pandemie sei „störanfällig“. Die Impfkampagne müsse mindestens weitere vier Wochen konsequent fortgesetzt werden, ehe eine Impfquote von 50 Prozent erreichbar und Lockerungen überhaupt denkbar wären.

In Verbindung mit den aktuellen 7-Tages-Inzidenzen vermitteln die bisherigen Impfzahlen sogar ein deutlich höheres Risiko für die Nicht-Immunisierten, d.h. für die meisten Arbeiter und Jugendlichen. Für sie ist die Infektionsgefahr offenbar heute deutlich höher als in der ersten und zweiten Welle. Denn damals trugen die Infektionsfälle unter den Über-Achtzigjährigen besonders viel zur Gesamtinzidenz bei. Heute dagegen, in der dritten Welle, ist das schon sehr anders. Ein großer Teil der Senioren ist mittlerweile geimpft, für sie bedeutet deshalb eine Gesamtinzidenz von 100 kaum mehr eine große Gefahr – umso mehr dagegen für junge und mittlere Altersgruppen.

Denn die Zahlen sind insgesamt nach wie vor hoch. Wer die Coronavirus-Karte von Deutschland betrachtet, stellt erschrocken fest, dass trotz der Impfungen nur ganz wenige Landkreise und kreisfreie Städte eine 7-Tages-Inzidenz unter 50 Infektionen pro 100.000 Einwohner aufweisen (was einst die Obergrenze für erlaubte Öffnungen war). Die Obergrenze der sogenannten „Bundesnotbremse“, die 7-Tages-Inzidenz von 100, wird in der großen Mehrzahl aller Landkreise deutlich überschritten.

Jetzt zu öffnen, birgt die mit einer glimmenden Glut vergleichbare Gefahr: Der erste Windstoß kann sie zum hellen Auflodern bringen.

Das ist in Indien passiert, einem Land von 1,3 Milliarden Einwohnern, in dem die Zahl der Neuinfektionen schon auf 9000 pro Tag gesunken war. Die Regierung ging davon aus, dass die Pandemie im Abklingen sei. Sie lockerte die Einschränkungen und setzte auf „Herdenimmunität“. Aber als sich eine neue, sogenannte Doppelmutation herausbildete, ging die Kurve steil und fast senkrecht in die Höhe. Derzeit infizieren sich fast 400.000 Menschen täglich, und die Erkrankten sterben auf offener Straße, weil die Krankenhäuser nicht mehr in der Lage sind, sie aufzunehmen und mit Sauerstoff zu versorgen.

Für solche Zusammenhänge haben die Politiker und Journalisten hierzulande keinen Blick. Viel wichtiger sind ihnen die aktuellen Öffnungen, zunächst für die Tourismusbranche, dann für die ganze Gesellschaft (während die Betriebe auch bisher offen waren). Doppelt Geimpfte und Menschen, die eine Sars-CoV-2-Erkrankung überstanden haben, sollen baldmöglichst ohne negativen Test wieder zum Friseur gehen, einen Laden betreten oder ein Restaurant oder Fitnessstudio besuchen dürfen. Sie sollen auch ohne Quarantäne und selbst ohne negativen Test aus anderen Ländern einreisen dürfen. Das hat die Bundesregierung am Dienstag beschlossen, und auch Bundestag und Bundesrat werden die neue Bestimmung noch vor dem Wochenende durchwinken.

Zahlreiche Stimmen warnen dringend vor diesen neuen Ausnahmeregeln, nicht zuletzt, weil die Impfpässe sehr leicht zu fälschen sind. Besorgt sind auch all diejenigen, die hautnah mit den Folgen der Pandemie zu kämpfen haben: Ärzte und Pflegekräfte in den Intensivstationen, Ambulanzfahrer, Beschäftigte der Senioren- und Pflegeheime. Sie arbeiten schon seit einem Jahr unter unfassbar schwierigen Bedingungen. Nun sind sie in der dritten Welle mit wesentlich jüngeren Patienten und den neuen, noch aggressiveren Virus-Mutanten konfrontiert.

Die Intensivstationen sind bis zum Rand belegt und vom Kollaps bedroht. Darauf verwies vor kurzem ein aktueller Fall im Landkreis Saale-Orla (Thüringen). In Schliez konnte ein schwerkranker Patient nicht rechtzeitig in die Intensivstation kommen, weil alle Betten belegt waren. Der 66-jährige Krebspatient starb im Krankenwagen, während er auf seine Aufnahme wartete. Orla im Südosten von Thüringen weist eine 7-Tages-Inzidenz von 530 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner auf.

Die Situation in den Intensivstationen beleuchtete auch ein aktueller Bericht der ARD-Sendung „FAKT“ vom Dienstagabend aus dem Saalekreis (Sachsen-Anhalt). Ein Arzt des Carl-von-Basedow-Klinikums in Merseburg, Dr. Sven-Uwe Hake, bestätigte dort, dass immer jüngere Corona-Patienten eingeliefert würden. „Erschreckenderweise geht es auch in die Jahrgänge unter Dreißig (…) Sie sind im Alter meiner Kinder.“ Dies sei inzwischen schon Routine und „traurige Realität“ geworden.

Dann kommentierte Dr. Karsten zur Nieden, ärztlicher Leiter des Rettungsdienstes in Halle, die Lockerungskampagne der Regierung. „Als Arzt, der jeden Tag schwerstkranke Covid-Patienten betreut“, sei er sich „nicht sicher, ob das jetzt schon der richtige Zeitpunkt ist. … Es gibt noch keine deutliche Erholung, und wir müssen befürchten, wenn wir zu früh öffnen, dass wir es später bitter bezahlen.“

Das Virus hat eine klar ausgeprägte soziale Komponente. Je prekärer die Arbeits- und Wohnsituation, desto gefährdeter sind die Menschen. Beengte Lebens- und Arbeitsverhältnisse und mangelnde Schutzmaßnahmen begünstigen das Virus, und die Pandemie hat die soziale Ungleichheit massiv verschärft. Während die Aktienkurse steigen und die Konzerne, Banken und Superreichen sich an milliardenschweren staatlichen „Rettungspaketen“ bereichern, tragen die Arbeiter und Armen die ganze Last der Pandemie.

Immer wieder kommt es zu gefährlichen Massenausbrüchen in den Betrieben, Schulen und Kitas. Beispielhaft ist ein neuer Großausbruch beim Spargelhof Thiermann im Landkreis Diepholz (Niedersachsen). Als erstes wurden Infektionen in mehreren Kitas des Landkreises festgestellt. Bei Massentests wurden daraufhin von rund 1000 Beschäftigten des Spargelhofes 120 positiv getestet. Es sind hauptsächlich rumänische Saisonarbeiter, die sich in Diepholz mit der hochansteckenden britischen Virus-Mutation B.1.1.7 infiziert haben. Um die Ernte nicht zu unterbrechen, wurde für den Spargelhof die berüchtigte Arbeitsquarantäne verhängt.

Die Arbeiterklasse hat die größte Corona-Last zu tragen, während sich die Reichen deutlich besser dagegen schützen können. Das bekannteste Beispiel dafür ist zurzeit der soziale Brennpunkt Chorweiler in Köln. Dort lag die 7-Tages-Inzidenz in letzter Zeit über 500; seit Pandemiebeginn haben sich dort 963 Menschen infiziert. Im Kölner Villenviertel Hahnwald dagegen wurde in letzter Zeit keine einzige neue Infektion gemeldet.

Das Beispiel Chroweiler widerlegt zudem die gängige Propaganda über die angebliche Impf-Unwilligkeit der arbeitenden Bevölkerung. Seit Montag wird in Köln-Chorweiler ein mobiler Impf-Bus eingesetzt, um die Bewohner gegen das Coronavirus zu impfen. Der Ansturm hat alle Erwartungen übertroffen: Täglich stehen die Menschen in langen Schlangen, die um den ganzen Platz herumreichen, und warten geduldig darauf, geimpft zu werden.

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