Trotz Ausbreitung der indischen Variante: Europäische Regierungen heben Einschränkungen auf

Während Wissenschaftler vor den gefährlichen Folgen der Ausbreitung der ansteckenderen indischen Variante des Coronavirus warnen, forcieren die Regierungen in ganz Europa die vollständige Öffnung ihrer Wirtschaften und heben alle noch verbliebenen beschränkten Lockdown-Maßnahmen auf.

Die Wiederöffnung ereignet sich vor dem Hintergrund eines Wettbewerb zwischen den europäischen Staaten, wer die Wirtschaft am schnellsten wieder hochfahren kann. Dabei geht es vor allem um die Einnahmen für den Tourismus in der Sommerurlaubssaison.

Die Variante B.1.617, die erstmals in Indien identifiziert wurde, könnte laut einem Beraterkomitee der britischen Regierung noch bis zu 50 Prozent ansteckender sein als die so genannte britische Variante B.1.17, was jedoch noch weiter untersucht werden muss. Die britische Variante wurde erstmals im September identifiziert und hat sich seither zum dominanten Virenstamm entwickelt, der für die Mehrheit der Neuinfektionen in Europa verantwortlich ist. In Großbritannien ist die Zahl der identifizierten Fälle der indischen Variante in den letzten zehn Tagen rapide auf mehr als 2.300 angestiegen.

Allein in den letzten vier Tagen stieg die Zahl der Infizierten mit der indischen Variante um 75 Prozent auf 2.300 an. Der neue Stamm ist mittlerweile für mindestens zwanzig Prozent der Neuinfektionen verantwortlich, laut Wissenschaftlern wird er innerhalb weniger Tage der dominante Virenstamm werden. Allerdings gab die Regierung am Mittwoch zu, dass die offizielle Fallzahl des neuen Stammes bereits seit eine Woche veraltet ist. Die Johnson-Regierung wurde von ihren eigenen wissenschaftlichen Beratern ermahnt, von der geplanten Aufhebung der Lockdown-Maßnahmen abzusehen.

Da nur ein kleiner Teil der europäischen Bevölkerung geimpft ist, birgt die Öffnung der Wirtschaft eindeutig die Gefahr einer neuen katastrophalen Überlastung der Krankenhäuser und massiver Todeszahlen. Dennoch wird dieser Kurs fortgesetzt, da die Europäische Union die Profite der Konzerne höher bewertet als Menschenleben. Die Fallzahlen sind bereits jetzt zu hoch, um systematisch zu testen, Kontakte zu verfolgen und Isolationssysteme durchzusetzen.

In Frankreich wurde am Mittwoch die Außenbewirtung in Restaurants wieder erlaubt. Auch Theater, Museen, öffentliche Monumente und Kinos wurden wieder geöffnet. Der Beginn der nächtlichen Ausgangssperre wurde von 19 Uhr auf 21 Uhr verlegt. Sport wurde innen und außen wieder erlaubt, wobei Kontaktsportarten die Ausnahme bilden. Am 9. Juni sollen die Restaurants wieder vollständig geöffnet werden.

Dabei sind nur knapp über dreizehn Prozent der französischen Bevölkerung geimpft, während laut wissenschaftlichen Schätzungen zwischen 80 und 90 Prozent der Bevölkerung immunisiert sein müssten, um die Ausbreitung des Virus zu verhindern. Auch in Frankreich wurde die indische Variante bereits entdeckt, allerdings ist ihr Anteil an den täglichen Fällen noch unbekannt. Am Dienstag wurden mehr als 17.000 Fälle gemeldet, bei den Todesfällen liegt der Sieben-Tages-Durchschnitt bei fast 200.

Eine Krankenschwester hält für einen Corona-Patienten das Telefon, während er mit seiner Familie spricht. Aufgenommen in der Intensivstation des Joseph-Imbert-Krankenhauszentrums im südfranzösischen Arles am 28. Oktober 2020 (AP Photo/Daniel Cole)

Die Schulen sind in Frankreich vollständig in den Präsenzunterricht zurückgekehrt. Die Macron-Regierung versucht gar nicht, diese Entscheidung wissenschaftlich zu rechtfertigen. So bekräftigte Premierminister Jean Castex am 23. April in einem Interview, dass das Virus „in Schulen kaum kursiert“ und dass Schulen nicht „der wichtigste Ansteckungsort sind“.

Am 11. Mai erklärte Castex in einem Interview mit France 2 jedoch das Gegenteil: „Was bedeutet ein Lockdown? Wir sollten konkret sein. Es bedeutet die Schließung von Schulen. Das ist die entscheidende Variable, die die größten Auswirkungen hat: die Schließung der Schulen.“ Diese Maßnahme wurde jedoch abgelehnt, da in diesem Falle Eltern zu Hause bleiben und entschädigt werden müssten, weil sie nicht arbeiten.

Im benachbarten Deutschland sind nur 11,9 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft, erst 38,2 Prozent haben eine erste Impfung erhalten. Laut dem Robert Koch-Institut wurden fünf Prozent der unter 59-Jährigen vollständig geimpft, ein Drittel der über 80-Jährigen wurde noch nicht geimpft. Gleichzeitig ist die indische Variante bereits für zwei Prozent aller Neuinfektionen im Land verantwortlich, was jedoch vermutlich zu niedrig geschätzt ist. In Velbert in der Region Mettmann wurden am Dienstag die Bewohner von zwei Hochhäusern unter Quarantäne gestellt, nachdem dort mehrere Fälle der indischen Variante entdeckt wurden.

Allerdings übertreffen sich die deutschen Bundesländer und Regionen mit ihrer Öffnungspolitik. In Nordrhein-Westfalen, dem bevölkerungsreichsten Bundesland, wird der Präsenzunterricht an Schulen am 31. Mai wieder geöffnet, sofern die Sieben-Tages-Inzidenz weiter bei unter 100 bleibt. In Berlin, das von einer Koalition aus Linkspartei, SPD und Grünen regiert wird, wurden die Kitas bereits Anfang der Woche wieder vollständig geöffnet. In Schleswig-Holstein sind seit Montag Innen- und Außencafés geöffnet. Andere Bundesländer werden in den kommenden Tagen folgen.

In Spanien endete am 9. Mai der seit sechs Monaten andauernde Ausnahmezustand, womit selbst die beschränkten Einschränkungen für Reisen zwischen den Regionen und die nächtlichen Ausgangssperren aufgehoben wurden. Letzten Monat lehnte David Lopez-Acuña, ein ehemaliger Vertreter der Weltgesundheitsorganisation, die Aufhebung der Einschränkungen ab und warnte: „Die Impfkampagne hatte bis Mai noch keine nennenswerten Auswirkungen. Es gibt vielleicht weniger Druck auf das Gesundheitssystem, aber Tatsache ist, dass die Gesundheitsbehörden zu sehr darauf vertrauen, dass die Immunisierungskampagne die Wellen beenden kann.“

In Italien wurden am 26. April Einschränkungen aufgehoben, sodass Außengastronomie in Bars, Restaurants und Cafés wieder erlaubt ist. Ebenfalls wiedereröffnet wurden Schwimmbäder, Sporteinrichtungen, Kinos und Theater, auch der Präsenzunterricht wurde für alle Schüler wieder aufgenommen.

In Belgien ist Außenbewirtung bereits seit dem 8. Mai wieder erlaubt, auch die Sporteinrichtungen wurden an diesem Tag geöffnet. Mitte April wurden bereits die Schulen wieder geöffnet, Friseure und nicht systemrelevante Geschäfte am 26. April.

In der Schweiz wurden Konzerthallen, Sporteinrichtungen, Museen, Bibliotheken, Außencafés, Restaurants und Kinos schon am 19. April wieder geöffnet. Auch in den Niederlanden wurde die Außengastronomie am 18. April zwischen Mittag und 18 Uhr wieder erlaubt.

Der rücksichtslose Öffnungskurs der europäischen Regierungen birgt große Gefahren für die arbeitende Bevölkerung Europas. Er wird von ihrer Entschlossenheit angetrieben, jede weitere Einschränkung der Geschäftsaktivitäten und der Profitanhäufung der Konzerne zu verhindern, egal was die Folgen für das Leben der Bevölkerung sein werden. Beispielhaft dafür waren die Aussage des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, der offen erklärte, die Bevölkerung müsse „mit dem Virus leben“, und der Ausruf des britischen Premierminister Boris Johnson, der laut geleakten Dokumenten letztes Jahr in einem Kabinettstreffen forderte: „Keine verdammten Lockdowns mehr - sollen sich doch die Toten zu Tausenden auftürmen.“

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