David North
Gerry Healy und sein Platz in der Geschichte der Vierten Internationale

Ein Zerrbild des Marxismus

Die opportunistische Degeneration Gerry Healys fand ihre organisatorische Gestalt mit der Gründung der Workers Revolutionary Party, und ihren praktischen Ausdruck in der Herausgabe der täglichen News Line. Ihre theoretische Grundlage jedoch war eine grobe Verdrehung des Marxismus, die Healy als „Praxis der Erkenntnis“ bezeichnete. Keine Untersuchung von Healys Leben wäre vollständig ohne eine, wenn auch kurze, Darstellung des Zusammenhangs zwischen den theoretischen Konzeptionen, die er in den siebziger Jahren mit der Hilfe und Förderung Cliff Slaughters entwickelte, und dem Verrat der WRP am Trotzkismus. Aber nicht nur Erwägungen biographischer Art zwingen uns zu einem Ausflug in weit abstraktere Gebiete als bisher in dieser Serie behandelt. Genau wie das Internationale Komitee jeden Versuch entlarvt, das stolze Banner des Trotzkismus mit den schäbigen Intrigen des Opportunismus zu besudeln, ist es auch verpflichtet, die philosophischen Grundlagen des wissenschaftlichen Sozialismus gegen diejenigen zu verteidigen, die sie erst verdrehen und sich dann zynisch auf seine methodologischen Prinzipien berufen, um sie als Deckmantel für ihre eigene reaktionäre Politik zu benutzen.

Ebenso wie Healy Mitte der siebziger Jahre gegenüber dem Programm der Vierten Internationale eine ganz andere Haltung entwickelt hatte als Anfang der sechziger, hatte sich auch seine Auffassung der philosophischen Grundlagen des Marxismus und deren Bedeutung für die Entwicklung der Partei gewandelt. Im Jahr 1962 hatte Healy die entscheidenden Fragen der philosophischen Methode, die Trotzki im Kampf gegen Burnham und Shachtman 1939-40 in brillanter Weise dargelegt hatte, im Kampf gegen den Revisionismus wieder aufgebracht. Er leistete damit einen wichtigen Beitrag zur Wiederbewaffnung der Vierten Internationale. Healy erinnerte daran, wie Trotzki die methodologischen Voraussetzungen analysiert hatte, auf Grund derer Burnham die Verteidigung der Sowjetunion ablehnte. Healy trat dafür ein, den Kampf gegen die Socialist Workers Party in diesen Bereich auszudehnen: durch eine konkrete Untersuchung der Beziehung zwischen ihrem Verrat an den Prinzipien des Trotzkismus und dem vulgären Pragmatismus, den Joseph Hansen vertrat.

Diejenigen, die ihr subjektiver Hass blind gemacht hat, wie Cliff Slaughter und Peter Fryer, leugnen Healys Leistungen für die Vierte Internationale entweder vollständig, oder beschränken sie auf seine Rolle als praktischer Organisator. Aber die besten Arbeiten der „Parteiintellektuellen“ – besonders derjenigen, die nach der Ungarischen Revolution von 1956 aus den Reihen der Stalinisten heraus gewonnen worden waren – waren in nicht geringem Maße von Healys scharfsinnigen und tiefen Einsichten inspiriert worden. Treffende Formulierungen und gehaltvolle Gedanken, die Healy im Verlauf eines politischen Berichts oder selbst beiläufig in einer Diskussion äußerte, fanden nicht selten Eingang in die Dokumente und Artikel der Parteiintellektuellen, die im Gegensatz zu Healy die Möglichkeit gehabt hatten, ihre schriftstellerischen Fähigkeiten in Oxford oder Cambridge aufzupolieren. Cliff Slaughter war zwar der Verfasser wichtiger Dokumente von bleibendem Wert wie „Opportunismus und Empirismus“ oder „Lenin zur Dialektik“, aber die theoretischen Errungenschaften der Socialist Labour League im Kampf gegen den Opportunismus waren das Ergebnis gemeinsamer Arbeit, an der Healy zweifellos entscheidenden Anteil hatte.

Die wichtigste Frage ist allerdings nicht, wem der Löwenanteil der Verdienste um die theoretische Arbeit der britischen Trotzkisten in den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren gebührt. Weit wichtiger ist, zu verstehen, weshalb das Interesse der SLL an der Philosophie und ihre Haltung dazu damals so grundlegend anders geartet waren als gute zehn Jahre später. Die Antwort auf diese Frage liegt in ihrer Politik. Wie die Geschichte der internationalen sozialistischen Bewegung und die Arbeit großer Marxisten wie Plechanow, Lenin, Trotzki und Luxemburg beweist, erringt der dialektische Materialismus seine größten Siege in jenen Perioden, in denen er gegen den Opportunismus zu Felde zieht. Als im Jahr 1961 zum ersten Mal Lenins Philosophische Hefte in englischer Sprache erschienen (als Band 38 seiner gesammelten Werke), führte die Socialist Labour League bereits einen intensiven Kampf gegen die Pablisten und erkannte daher auf der Stelle die Bedeutung dieses Werks. Slaughter stellte in seinem wertvollen Kommentar zu den Philosophischen Heften fest:

Lenin studierte Hegel in den Jahren 1914-16 mitten in einem leidenschaftlichen Kampf gegen den Revisionismus in der internationalen sozialistischen Bewegung... Zweifellos sah Lenin seine Arbeit an Hegels Logikals einen absolut notwendigen Bestandteil seines Kampfs gegen den Revisionismus an. Weshalb? Weil es im Kampf, falsche Ideen in der Sozialistischen Internationale zu besiegen und auszumerzen, notwendig war, die wesentliche dialektische Auffassung der Beziehung zwischen Theorie und Praxis neu zu entdecken. (Lenin on Dialectics, New York 1971, S. 34)

Slaughter betonte, dass Lenin die Fortschritte in der Methodologie der wissenschaftlichen Dialektik, die er aus einer kritischen Überarbeitung der Hegelschen Dialektik gewonnen hatte, zur Lösung der komplexen Probleme von Programm und Perspektiven anwendete, mit denen die russische und internationale Arbeiterklasse konfrontiert war. Die theoretische Bedeutung der Philosophischen Hefte versteht man in der Tat am besten, wenn man sie im Zusammenhang mit den großen Werken der politischen Analyse liest, die Lenin zwischen 1914 und 1917 verfasste. Arbeiten wie Sozialismus und Krieg, Der Imperialismus und Staat und Revolution zeigen, dass die wissenschaftliche Weltanschauung und Methode des dialektischen Materialismus die Partei in die Lage versetzen, die objektive Entwicklung des Klassenkampfs zu verstehen und die politische Unabhängigkeit der Arbeiterklasse zu begründen.

Die SLL erkannte, welche Bedeutung Lenins konzentrierte Arbeit an der Dialektik für ihren Kampf gegen den Opportunismus hatte. Die Pablisten beriefen sich damals auf „Tatsachen“ wie den Sieg Ben Bellas in Algerien und Castros in Kuba, die angeblich bewiesen, dass kleinbürgerliche Nationalisten eine sozialistische Revolution führen könnten. Damit rechtfertigten sie, dass sie die Theorie der permanenten Revolution aufgaben. Die SLL wies in dieser Situation auf die reaktionäre Rolle hin, die der bürgerliche Empirismus bei der Erarbeitung derartiger, populärer revisionistischer Ideen spielte.

„Wir haben gesehen“, schrieb Slaughter,

dass die ,Tatsachen‘, wie sie sich unmittelbar darstellen, für eine marxistische Analyse nicht ausreichen. Ja, wenn man die Summe dieser Tatsachen für die Realität ansieht, dann kann das nur zu einer opportunistischen Anpassung an die bestehende Gesellschaft führen. Der empirische oder ,impressionistische‘ Beobachter bildet sich ein, er gehe unparteiisch und vorurteilslos, ohne Theorie an die Tatsachen heran. Darin sieht er seine Überlegenheit gegenüber dem ,dogmatischen‘ Marxisten mit seiner ,vorgefaßten‘ Theorie. Aber es gibt niemanden, der nicht von einer Theorie ausginge. Schon die Auswahl bestimmter Fakten, die zusammengezählt werden (oder von denen er sich beeindrucken lässt) deutet darauf hin, dass diesen im Vergleich zu den zahllosen anderen ,Tatsachen‘ oder ,Seiten‘ der Realität besondere Bedeutung beigemessen wird. Wer behauptet, objektiv zu sein und jede Theorie von vornherein zu meiden, benutzt in Wirklichkeit eine verworrene und weniger klar ersichtliche Theorie; und eine solche Theorie wird in Wirklichkeit von der herrschenden Ideologie der Gesellschaft bestimmt, in der er lebt. Deren tagtägliche Vorurteile mögen als ,gesunder Menschenverstand‘ gelten, sie sind jedoch ganz eindeutige Vorurteile einer ganz bestimmten Klassengesellschaft. (ebd. S. 32)

Die theoretische Arbeit der SLL in ihrem Kampf gegen die Pablisten zeichnete sich dadurch aus, dass sie in enger Beziehung zur Weiterentwicklung der Perspektive der sozialistischen Weltrevolution stand. Später, in der Periode ihrer politischen Degeneration, wiesen die WRP-Führer automatisch jeden Gedanken daran zurück, dass die dialektische Methode zur Analyse konkreter politischer Erscheinungen angewendet werden müsse. Aber Anfang der sechziger Jahre betonte die SLL den unauflösbaren Zusammenhang zwischen einer wissenschaftlichen Methode und der Erarbeitung einer revolutionären Orientierung für das internationale Proletariat. Darüber hinaus wies sie nach, wie der Empirismus der Pablisten unweigerlich zu opportunistischen politischen Schlussfolgerungen führte:

Wenn wir den Empirismus angreifen, dann greifen wir die Methode an, die behauptet, dass allen Aussagen nur insofern Bedeutung zukommt, wie sie sich auf beobachtbare oder messbare Daten in ihrer unmittelbar gegebenen Form beziehen. Die Anhänger dieser Methode beharren darauf, dass ,abstrakte‘ Begriffe, welche den allgemeinen und historischen Gehalt dieser ,Fakten‘ ausdrücken, bedeutungslos sind. Sie lassen gänzlich außer acht, dass unsere allgemeinen Begriffe die Gesetze der Entwicklung und des Zusammenhangs jenes Prozesses widerspiegeln, zu dem diese ,Fakten‘ gehören. Die sogenannten harten Tatsachen der konkreten Erfahrung sind in der Tat selbst Abstraktionen dieses Prozesses. Sie sind das Ergebnis einer ersten Annäherung unseres Denkens an die wesentlichen Zusammenhänge, Bewegungsgesetze und Widersprüche der ewig in Veränderung begriffenen komplexen Welt der Materie... deren Teil sie sind. Nur höhere Abstraktionen in einer fortgeschrittenen Theorie können uns zur Bedeutung dieser Tatsachen führen. Was Lenin als ,konkrete Analyse der konkreten Bedingungen‘ bezeichnete, ist das Gegenteil eines Abstiegs in den Empirismus. Um konkret zu sein, muss die Analyse die vorgefundenen Tatsachen in ihrem historischen Zusammenhang sehen und beim Studium der Gesellschaft von den Entdeckungen der Theorie ausgehen, von der Notwendigkeit, jedes Ereignis und jede Erscheinung in Klassenbegriffen zu bewerten. Der Empiriker, der vorgibt, sich ausschließlich auf die ,Tatsachen‘ zu beschränken, zwängt diese ,Tatsachen‘ in Wirklichkeit in nicht ausgesprochene Zusammenhänge, ohne zu erklären, woraus er diese abgeleitet hat. Die ,neue Realität‘ von Hansen und den Pablisten besteht in Wirklichkeit aus aufgelisteten Abstraktionen wie ,die koloniale Revolution‘, ,der Prozess der Entstalinisierung‘, ,unumkehrbare Tendenzen‘, ,sich nach links entwickelnde Kräfte‘, ,Massendruck‘, etc. Wie alle Aussagen über gesellschaftliche Phänomene sind auch diese bedeutungslos, wenn nicht nachgewiesen wird, dass sie einen bestimmten Klasseninhalt haben, denn Klassenkampf und Ausbeutung sind der Inhalt aller gesellschaftlichen Erscheinungen. Diese Entdeckung von Marx ist der theoretische Eckpfeiler, den Hansen bei seinem ganzen Gerede über die ,Fakten‘ aus den Augen verloren hat.

Dieses Argument, dass die ,Fakten‘ die objektive Realität seien und wir ,davon ausgehen‘ müssten, soll lediglich die Rechtfertigung für eine Politik in die Wege leiten, die sich an nichtproletarische Führungen anpasst. ...

Der Marxismus bewaffnet die Avantgarde der Arbeiterklasse in ihrem Kampf für die unabhängige Aktion der Arbeiterbewegung; der Empirismus passt sie an die bestehenden Zustände an: den Kapitalismus und seine Agenturen in den Arbeiterorganisationen. (Trotskyism Versus Revisionism, Bd. 4, S.81-82)

In der langen Geschichte der marxistischen Bewegung hat sich die dialektische Methode als unverzichtbares theoretisches Instrument für die politische Prognose, Orientierung und Analyse erwiesen. Aber während die dialektische Methode, richtig angewandt, die Erarbeitung weitsichtiger Analysen und wirkungsvoller taktischer Initiativen erleichtert, liefert sie keine ein für alle Mal wirksame Garantie gegen politische Degeneration. Der dialektische Materialismus ist nicht eine Art ideologischer Talisman, der, einmal erworben, seine Besitzer gegen den dauernden Druck der Klassenkräfte schützt. Der Prüfstein der dialektischen Methode ist eine kritisch-revolutionäre Haltung gegenüber den bestehenden Produktionsverhältnissen der Gesellschaft und den Erscheinungsformen, die diese spontan hervorbringen. Sie ist eine strenge Wissenschaft und verlangt einen unermüdlichen Kampf, programmatisch und praktisch die unabhängige Haltung der revolutionären Arbeiterklasse zu jeder politischen Frage herauszuarbeiten, die durch die Entwicklung des Klassenkampfs gestellt wird. Eine revolutionäre Partei bleibt nur in dem Maße „marxistisch“, wie sie darum kämpft, den umfangreichen politischen und ideologischen Einfluss der Bourgeoisie und ihrer Agenten auf die Arbeiterklasse zu überwinden. Die marxistische Herangehensweise an jedes bedeutende Ereignis beinhaltet eine Überarbeitung der historischen Erfahrungen der internationalen Arbeiterbewegung. Nur wenn sie ständig die neuen Probleme, die durch die objektive Entwicklung des Klassenkampfs aufkommen, dem gesamten Schatz ihres theoretischen Wissens gegenüberstellt, kann eine marxistische Partei ihr politisches Kapital ergänzen und erweitern.

Der politische Rückzug der Socialist Labour League vom Kampf gegen den Opportunismus hatte einen Niedergang des theoretischen Niveaus zur Folge, das im Kampf gegen die Wiedervereinigung von SWP und Pablisten erreicht worden war. Immer abstraktere Bemerkungen über die Notwendigkeit des Kampfes für den dialektischen Materialismus wurden zum Ersatz für die tatsächliche Entwicklung revolutionärer Perspektiven. Als darüber hinaus der Druck des kleinbürgerlichen Radikalismus politische Meinungsverschiedenheiten innerhalb des Internationalen Komitees und der SLL sichtbar werden ließ, wurde die formale Anrufung des dialektischen Materialismus immer mehr zu einem Mittel, den konkreten Fragen auszuweichen, mit denen die trotzkistische Bewegung konfrontiert war. Die WRP-Führer benutzten die Ausdrucksweise der Dialektik, während ihre Praxis gleichzeitig mit dem kritischen Geist des Marxismus unvereinbar war. Das „Festhalten der Gegensätze“, ein Ausdruck, den Healy Lenins Philosophischen Heften entnommen hatte, wurde in ein organisatorisches Prinzip verwandelt, mit dem allerlei faule Kompromisse innerhalb der zentralen Führung gerechtfertigt wurden. Die Dialektik wurde in ein System von Sophistereien verwandelt, das einen pompösen Deckmantel für das Ausweichen vor politischen Verantwortlichkeiten und für den Verrat an Prinzipien lieferte.

In den frühen siebziger Jahren begann die SLL dann eine Theorie der „dialektischen Erkenntnis“ zu entwickeln, die das Abgleiten in Richtung Opportunismus widerspiegelte und rechtfertigte. Healy spielte bei diesem Unternehmen eine beträchtliche Rolle, aber die revisionistischen Neuerungen auf dem Weg zur „Praxis der Erkenntnis“ waren, ebenso wie positive Arbeit der vorangegangenen zehn Jahre, eine gemeinsame Schöpfung der wichtigsten Führer der Socialist Labour League. Wie wir bereits festgestellt haben, behauptete Slaughter nach der Spaltung mit der OCI, die Erfahrungen des Parteiaufbaus in Großbritannien hätten gezeigt, „dass ein gründlicher und schwieriger Kampf gegen idealistische Denkweisen notwendig war, der viel tiefer ging als Fragen der Übereinstimmung in Programm und Politik“.

Er argumentierte, der „Kampf für ein tieferes Verständnis des dialektischen Materialismus als Erkenntnistheorie des Marxismus“ bedeute, dass es notwendig sei, „die Bewegung auf die grundlegenden Fragen über den Charakter des Bewusstseins zu orientieren, darauf, was mit einem Bewusstseins,sprung‘ gemeint ist... (Trotskyism Versus Revisionism, Bd. 6, S. 83)

Welchen Inhalt die von Slaughter empfohlenen Übungen zur Hebung des Bewusstseins hatten, zeigte sich in der Polemik, die Alan Thornetts Ausschluss aus der WRP folgte. Die Parteiführung begann, die wesentlichen politischen Fragen, die hinter der Spaltung standen, zu mystifizieren. Sie stellte die Auseinandersetzung als eine gigantische Schlacht zwischen unversöhnlich feindlichen Weltanschauungen dar. Bandas großes Opus Wohin geht Thornett? war in weiten Teilen einer „Entlarvung“ von Thornetts „totaler Zurückweisung der marxistischen Erkenntnistheorie“ gewidmet, als sei der Autoarbeiter aus Cowley ein bekannter Anhänger Bertrand Russells oder Ludwig Wittgensteins gewesen. Den Inhalt des Buchs kann man an einigen Kapitelüberschriften ersehen: „Die Beziehung zwischen Mensch und Natur“, „Vom Vulgärmaterialismus... zum subjektiven Idealismus“, „Eine idealistische Erkenntnistheorie“ und „Kantianisches Gewäsch“ Der Gründlichkeit halber wurde noch ein Anhang mit zwei Aufsätzen hinzugefügt, „Theorie und Praxis des Marxismus“ von Slaughter und „Zurück zu Kant“ von Geoff Pilling.

Wohin geht Thornett war eine Vorwegnahme der Kost, die Healy in seinen kommenden Vorlesungen und Artikeln auftischen sollte. Es bestand aus abstrusen, mit Hegelscher Phraseologie verbrämten Beschreibungen der „Momente“ des Erkenntnisprozesses, der mit der „lebendigen Wahrnehmung“ begann und mit der praktischen Aktion endete.

„Dialektische Denkkonzepte“, schrieb Banda in einem solchen Absatz,

„dringen nun in die Materie durch uns ein, in Folge des Eigenantriebs der universellen Bewegung der Materie. Wo dies stattfindet, kommen wir zu dem Moment der Wirklichkeit, der die Kausalität ist... In diesem dialektischen Moment der Kausalität hebt sich die Ursache (Wesen) selbst in der Wirkung (das abstrakte Denken, das schon in unserem Kopf existiert, als Teil des vorangegangenen dialektischen Prozesses) auf. Gleichermaßen hebt sich die Wirkung selbst in der Ursache auf.“ (Michael Banda, Whither Thornett?, London 1975, S. 24-25)

Pilling „erklärte“ in seinem im Anhang angefügten Aufsatz die Bedeutung dieses Absatzes mit folgenden Worten:

Wir betonen hier, dass der Übergang vom Schein zur Erscheinung (die im Moment des Wesens dialektisch vereint sind) und vom Wesen zum Begriff und dann durch die Praxis zur Idee die allgemeine Selbstbewegung der Materie widerspiegelt, aber im Übergang vom Wesen zur Erscheinung bleiben sie eine Widerspiegelung von ihr (,objektiver Idealismus‘). In dem Moment, wo die lebendige Anschauung (die Momente der universellen Selbstbewegung der Materie enthält) beginnt, unser vorhandenes Wissen zu durchdringen, wird der Moment der Kausalität erreicht. (ebd. S. 147)

Diese und andere Abschnitte des Buchs waren den meisten Mitgliedern der Workers Revolutionary Party mit Sicherheit unverständlich. Der blasierte und praktisch unverständliche Jargon war an sich schon ein Zeichen dafür, dass sich die Klassenachse der WRP verschoben hatte. Das Dokument war nicht mit dem Ziel geschrieben, die Mitglieder oder die fortgeschrittenen Arbeiter zu erziehen, welche die politische Literatur der Workers Revolutionary Party lasen. Die mystifizierende Sprache sollte die wirkliche, opportunistische Bedeutung der neuen philosophischen Positionen verschleiern, die von der WRP abgesteckt wurden. Wenige vermuteten oder verfügten über die nötigen Voraussetzungen, um zu verstehen, dass sich hinter dem aufgeblasenen und mystifizierenden Jargon von Banda, Geoff Pilling und Slaughter ein wütender Angriff auf die politische Priorität verbarg, welche die Vierte Internationale traditionell der Verteidigung ihres Programms eingeräumt hat.

Der Zusammenhang zwischen den theoretischen Auffassungen der WRP und ihrem Abdriften in Richtung Opportunismus zeigte sich besonders deutlich daran, wie in Wohin geht Thornett auf die Vorwürfe geantwortet wurde, die WRP gebe das Übergangsprogramm auf. Ironischerweise zeichnete sich Thornetts eigene Haltung gegenüber dem „Übergangsprogramm“ durch opportunistische Zweideutigkeit aus. Aber anstatt ihr Feuer gegen Thornetts politische Inkonsequenz zu richten, redete die WRP einer im Wesentlichen pragmatischen und opportunistischen Haltung gegenüber dem Parteiprogramm das Wort. Der grobschlächtigste Fürsprecher des Opportunismus war Banda:

Anders als Thornett hat die Partei aus diesem Programm nie einen Fetisch gemacht. Es bleibt völlig tot, wenn die Partei in ihrer Arbeit nicht beständig von der gegenwärtigen wirtschaftlichen und sozialen Krise ausgeht und diese Situation auf das Programm anwendet. Thornett stellt diese Methode direkt auf den Kopf. Während der dialektische Materialismus immer von dem höchsten Punkt der Entwicklung ausgeht, um die wirkliche Bedeutung aller vorhergehenden, niedrigeren Etappen der Entwicklung zu erfassen, beginnt Thornett immer von dem niedrigsten Punkt der Entwicklung. Er beginnt nicht beim Jahr 1975, sondern 1938. Er geht nicht von der Praxis der Partei aus, die sie dann mit ihrem bisherigen theoretischen Wissen zusammenbringt, sondern er geht von dieser (für ihn toten und leblosen) Theorie aus und schneidert sie zurecht, um seiner Anpassung an die Arbeiter- und Gewerkschaftsbürokratie gerecht zu werden... In der Tat hat die Geschichte des Kampfs für den Trotzkismus erwiesen, daß die formale Übereinstimmung mit dem Programm als Ding an sich betrachtet niemals die entscheidende Frage war. Was entscheidend gewesen ist, war der Charakter und die Methode der Partei selbst. (ebd. S. 80-82)

Die Behauptung, dass Marxisten „von der Praxis der Partei“ ausgehen, sagt nichts darüber aus, wovon diese Praxis sich leiten lässt. Und ohne die „formale Übereinstimmung mit dem Programm“, die Banda als bedeutungslos abtat, ist es unmöglich, den „Charakter und die Methoden“ der Partei im marxistischen Sinne zu bestimmen. Bandas Polemik wimmelte von derartigen antimarxistischen Formulierungen. An einer anderen Stelle erklärte er, das Programm sei „der nationalen und internationalen Perspektive untergeordnet, und die Perspektive ist dem Konflikt zwischen der Praxis der Partei und ihrer Theorie untergeordnet“ (S. 83). Aber eine marxistische Perspektive nimmt als ihren Ausgangspunkt den Kampf für ein bestimmtes Programm, d.h. für die sozialistische Weltrevolution. Insoweit Bandas Formulierungen einen Sinn ergeben, dann nur den, dass das Parteiprogramm durch eine Bewertung der politischen Konjunktur bestimmt wird. Der Schluss des oben zitierten Absatzes war ein noch subtilerer Ausdruck des Abgleitens der Partei. Der Charakter des Programms der WRP, so schien er zuzugeben, werde schließlich von dem Ausgang des zunehmenden Konflikts zwischen der opportunistischen Praxis der Partei und ihrem formalen Festhalten an der revolutionären Theorie bestimmt![1]

Pilling versuchte eine Erkenntnistheorie zu entwickeln, die den von Banda vertretenen Opportunismus untermauern würde. Er schrieb:

Unser abstraktes Wissen ist hier die Form, und unsere lebendigen Anschauungen sind der Inhalt. Zusammen machen sie eine Einheit der Gegensätze in einem ständigen Prozess des Konflikts, der Durchdringung und der Verwandlung aus. Dies ist der Grund dafür, dass der Marxismus kein starres Wissensgebäude, kein Dogma ist, das in Büchern oder in Programmen zu finden ist, wie Thornett es will. (S. 145)

Diese ganzen pseudodialektischen Phrasen waren nur ein Versuch, heimlich, still und leise eben jenen pragmatischen Impressionismus wiederherzurichten, den die Socialist Labour League in den frühen sechziger Jahren bekämpft hatte. Die materialistische Dialektik anerkennt zwar, dass die Empfindungen, die durch die Einwirkung der äußeren Welt auf die Sinnesorgane hervorgerufen werden, der Ausgangspunkt der Erkenntnis sind, sie besteht aber darauf, dass ein wissenschaftliches Bild der objektiven Welt nur erreicht wird, wenn diese Empfindungen durch historisch entwickelte und zunehmend abstrakte Begriffe vermittelt werden. Der Marxismus baut kritisch auf den wirklichen Entdeckungen Hegels auf und betrachtet daher das Bild der Welt, wie es unmittelbar durch die Sinne gegeben wird, als oberflächlich konkret; d.h., es ist zwar reich an Wahrnehmungen, aber arm an den abstrakten theoretischen Bestimmungen, welche die Voraussetzung für wissenschaftliche Erkenntnis sind. Die von der wissenschaftlichen Erkenntnis angestrebte Konkretheit bewegt sich von der lebendigen Wahrnehmung zu immer höheren Ebenen der Abstraktion; sie geht von der „imaginären Konkretheit“ der sinnlichen Wiedergabe zur wissenschaftlichen Konkretheit, die auf der Ebene des fortgeschrittenen begrifflichen Denkens erreicht wird.

Pillings Verweise auf „Form“ und „Inhalt“ waren nicht nur willkürlich. Diese Worte wurden verwendet, um die wirkliche Beziehung zwischen der angenommenen Theorie und der Sinneswahrnehmung im Sinne des Pragmatismus zu verwirren: Er stellte die Sache so dar, als sei das „abstrakte Wissen“ lediglich eine tote Masse von „Dogmen“ und „vorgefassten Meinungen“, die der Erkenntnis der Welt eher im Weg stünden, als sie zu fördern.

Healy war weder im Unklaren noch unbeteiligt an dieser opportunistischen Mystifikation. Er arbeitete eng mit Slaughter, Pilling und den beiden anderen Universitätsprofessoren, Tom Kemp und Cyril Smith zusammen. Je mehr die theoretische Arbeit der Partei vom Kampf für den Trotzkismus getrennt und gegen ihn gerichtet wurde, desto mehr wurde sie zum Spezialgebiet einer kleinbürgerlichen „Denkfabrik“, die aus den vier Professoren und Healy bestand. Der Status, den diese Männer auf Grund ihrer akademischen Ausbildung in der Partei inne hatten, stand in keinerlei Verhältnis zu ihrer tatsächlichen Beteiligung an der politischen Arbeit. Im krassen Gegensatz zu der überwältigenden Mehrheit der Parteimitglieder, die durchschnittlich 18 Stunden am Tag arbeiteten und große persönliche Opfer für den Aufbau der Bewegung brachten, führten diese Herren ein komfortables Mittelklasse-Leben. Sie kamen und gingen, wie es ihnen gerade passte. Slaughters Sommerurlaub in Griechenland und Kemps jährliche, dreimonatige Aufenthalte in Südfrankreich waren legendär. Pilling trat unzählige Male aus der Partei aus und verschwand. Er war für seine politische Instabilität so berüchtigt, dass bei diesen Gelegenheiten nur ironische Bemerkungen über „Geoffs flinke Beine“ fielen. Irgendwann würde Pilling dann zurückkehren und in Healys Büro geleitet werden, um neue theoretische Projekte zu diskutieren.

Durch all ihre Jahrzehnte hindurch sind die Erfahrungen der sozialistischen Bewegung mit dem Universitätsvolk alles andere als glücklich gewesen. Es war keineswegs ungewöhnlich, dass die WRP Probleme mit ihren „ab und zu vorbeischauenden Professoren“ hatte; und es wäre falsch, Healy Vorwürfe zu machen, weil er ihre Fähigkeiten zu nutzen versuchte, oder ihm das doppelte Spiel, den Zynismus, den Egoismus und die Feigheit anzulasten, die diese „marxistischen Professoren“ gegenüber der revolutionären Partei an den Tag legten. Aber was man Healy vorwerfen muss, ist, dass er diese unzuverlässigen Elemente in Führungspositionen brachte und im Kampf gegen seine Gegner innerhalb der Workers Revolutionary Party und dem Internationalen Komitee ihre politische Unterstützung beanspruchte.

Die vier Professoren schufen die theoretischen Grundlagen für die völlige Revision des Marxismus durch die WRP. Heute zieren sie sich, die Lorbeeren anzunehmen, die sie sich mit dieser Rolle verdient haben. Lieber schreiben sie alles Healys „Tyrannei“, „Verrücktheit“ und „Kulturlosigkeit“ zu. Aber sie förderten und ermutigten Healy bei der Entwicklung der „Praxis der Erkenntnis“, und bei Bedarf versicherten sie ihn des wissenschaftlichen Werts und der historischen Bedeutung seines Theoriegebräus. Nachdem die „Praxis der Erkenntnis“ im Internationalen Komitee angegriffen worden war, schrieb Slaughter an Healy: „Ich möchte nur sagen, dass ich Deinen Bericht (und die Diskussion, die er hervorrief) für den unwiderlegbarsten Beweis der Richtigkeit des Kampfes für Theorie und Praxis halte, den Du geführt hast. Dies ist das ,Konkrete‘, das durch die Arbeit der Abstraktion, die auf die ,lebendige‘ Wahrnehmung gesetzt wird, geschaffen wurde. Diese Konkretheit – der Weg zur Diktatur des Proletariats in England – komme nicht aus ,konkreten‘ Fragen und ,Aktionen‘, sondern aus dem qualitativen Kampf für die dialektische Praxis der Erkenntnis.“ (Zitiert aus dem handgeschriebenen Originalbrief in Das IKVI verteidigt den Trotzkismus, Vierte Internationale, Jg. 13, Nr. 2, S. 95)


[1]

Bandas Feinschaft gegen die Autorität des marxistischen Programms hatte einen sehr bestimmten Inhalt. Er war bereits zu der Überzeugung gelangt, dass der Maoismus Trotzkis Theorie der permanenten Revolution widerlegt habe und das Übergangsprogramm revidiert werden müsse.