David North
Die Russische Revolution und das unvollendete Zwanzigste Jahrhundert

Lenins Theorie des sozialistischen Bewusstseins: Die Ursprünge des Bolschewismus und »Was tun?«

Vortrag auf der Sommerschule der Socialist Equality Party (US) in Ann Arbor, Michigan, am 15. August 2005.

Unser heutiger Vortrag beschäftigt sich mit einem der wichtigsten theoretischen Werke der sozialistischen Politik, mit Lenins »Was tun?«. Kaum ein anderes Werk ist derart entstellt und verfälscht worden. Die unzähligen Lenin-Hasser im bürgerlichen Wissenschaftsbetrieb – von denen sich einige bis 1991 zu Lenin bekannt hatten – machen dieses Buch letzten Endes für viele, wenn nicht für alle Übel des 20. Jahrhunderts verantwortlich. Ich werde auf diese Verleumdungen antworten und auch erklären, warum dieses Werk, das im Jahre 1902 für die kleine sozialistische Bewegung im zaristischen Russland geschrieben wurde, auch im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts für die sozialistische Bewegung von außergewöhnlich großer theoretischer und praktischer Bedeutung ist.

Viele Jahre später, als die Bolschewisten an der Macht waren, schrieb Lenin, dass sich Russland »den Marxismus – die einzige richtige revolutionäre Theorie – wahrhaft durch Leiden errungen hat, durch ein halbes Jahrhundert unerhörter Qualen und Opfer, beispiellosen revolutionären Heldentums, unglaublicher Energie und hingebungsvollen Suchens, Lernens, praktischen Erprobens, der Enttäuschungen, des Überprüfens, des Vergleichens mit den Erfahrungen Europas«.[1]

Diese Erfahrungen umfassten fast ein ganzes Jahrhundert. Ab dem Jahre 1825, als eine Gruppe hochrangiger Offiziere in der russischen Armee den erfolglosen Versuch unternahm, die zaristische Autokratie zu stürzen, entwickelte ein kleiner Teil der russischen Intelligenzija eine Tradition der Selbstaufopferung, Unbestechlichkeit und furchtlosen Leidenschaft. Sie suchte nach einem Weg, die fürchterliche und erniedrigende Realität der Armut und gesellschaftlichen Rückständigkeit, über der die zaristische Selbstherrschaft thronte, zu überwinden. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts nahm langsam eine revolutionäre Bewegung Gestalt an, die sich dem Sturz des autokratischen Regimes widmete. In seiner Biographie »Der junge Trotzki« beschreibt Max Eastman (der damals noch Sozialist war) in einer schönen Passage die Persönlichkeit des russischen Revolutionärs:

Eine wunderbare Generation von Männern und Frauen war dazu bestimmt, diese Revolution in Russland zu vollbringen. Man kann in einem beliebigen, entlegenen Teil des Landes reisen und man sieht ein stilles, starkes, nachdenkliches Gesicht in einem Bahnabteil oder Omnibus – einen Mann mittleren Alters mit einer weißen philosophischen Stirn und einem sanften braunen Bart, oder eine ältere Frau mit scharf geschnittenen Augenbrauen und einem strengen mütterlichen Zug um den Mund, oder vielleicht einen Mann mittleren Alters oder eine jüngere Frau, die immer noch sinnlich schön ist, aber ihrem Verhalten nach einen schweren Weg hinter sich hat – man wird nachfragen und herausfinden, dass sie »alte Parteiarbeiter« sind. Erzogen in der Tradition der terroristischen Bewegung, einem strengen und erhabenen Erbe des Märtyrerglaubens, schon als Kind dazu angehalten, die Menschheit zu lieben, unsentimental zu denken, ihr eigener Herr zu sein und den Tod als Begleiter zu akzeptieren, lernten sie in ihrer Jugend etwas Weiteres hinzu – praktisch zu denken. Sie wurden im Feuer des Kerkers und des Exils gehärtet. Sie wurden fast zu einem adligen Orden, zu einer auserlesenen Gruppe von Männern und Frauen, auf deren Heroismus man sich verlassen konnte, wie die Ritter der Tafelrunde oder die Samurai, mit dem Unterschied, dass ihr Adelsnachweis in der Zukunft lag, und nicht in der Vergangenheit.[2]

Die russische revolutionäre Bewegung wandte sich anfangs nicht der Arbeiterklasse zu. Sie war vielmehr an der Bauernschaft orientiert, die den allergrößten Teil der Bevölkerung ausmachte. Die formale Befreiung der Bauern aus der Leibeigenschaft, im Jahre 1861 von Zar Alexander II. angeordnet, verschärfte die Widersprüche in der sozialen und ökonomischen Struktur des Russischen Reiches. In den 1870er Jahren entstand eine Bewegung der studentischen Jugend, die aufs Land und zu den Bauern ging, um sie aufzuklären und in das bewusste politische Leben zu führen. Der wichtigste politische Einfluss auf diese Bewegung ging von den Theorien des Anarchismus aus, insbesondere von Lawrow und Bakunin. Vor allem Letzterer hoffte auf die revolutionäre Umgestaltung Russlands durch eine Erhebung der Bauernmassen. Das Zusammenspiel von bäuerlicher Gleichgültigkeit und staatlicher Repression brachte die Bewegung dazu, sich konspirativer und terroristischer Kampfmethoden zu bedienen. Die wichtigste dieser terroristischen Organisationen war »Narodnaja Wolja«, der »Volkswille«.

G.W. Plechanow: Der Vater des russischen Marxismus

Die theoretischen und politischen Grundlagen der marxistischen Bewegung in Russland wurden in den 1880er Jahren gelegt, als G.W. Plechanow (1856–1918) seinen Kampf gegen die Volkstümler und ihre terroristische Orientierung führte. Im Konflikt zwischen den Volkstümlern und der neuen marxistischen Tendenz ging es um Grundfragen der historischen Perspektive: War Russlands Weg zum Sozialismus durch eine Bauernrevolution zu verwirklichen, in der die traditionellen Formen des bäuerlichen Gemeinschaftseigentums die Grundlage für den Sozialismus bilden würden? Oder würden der Sturz des Zarismus, die Errichtung einer demokratischen Republik und der Beginn des Übergangs zum Sozialismus auf die Entwicklung des russischen Kapitalismus und das Auftreten eines modernen Industrieproletariats folgen?

Plechanow, der ein führendes Mitglied der Volkstümler gewesen war, lehnte den Terrorismus und die Charakterisierung der Bauernschaft als entscheidende revolutionäre Kraft ab. Er beharrte darauf, dass sich Russland auf kapitalistischer Grundlage entwickle und dass das Anwachsen eines Industrieproletariats die unvermeidliche Folge dieser Entwicklung sein werde. Diese neue gesellschaftliche Klasse werde die entscheidende Kraft beim Sturz der Autokratie, der Demokratisierung Russlands, der Beseitigung aller politischen und wirtschaftlichen Überbleibsel des Feudalismus und dem Beginn des Übergangs zum Sozialismus sein.

Im Jahr 1883, dem Todesjahr von Karl Marx, gründete Plechanow die Gruppe Befreiung der Arbeit und bewies damit politischen Weitblick, geistige Kühnheit und persönlichen Mut. Mit seiner Argumentation gegen die Volkstümler legte Plechanow die programmatischen Grundlagen für die spätere Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands. Er nahm auch viele entscheidende Fragen der Klassenorientierung und der revolutionären Strategie vorweg, die die sozialistische Bewegung über das gesamte 20. Jahrhundert hinweg und bis zum heutigen Tag beschäftigen sollten.

Heute erinnert man sich Plechanows hauptsächlich – aber meist ohne ihn ausreichend zu würdigen – als eines der wichtigsten Interpreten der marxistischen Philosophie in der Ära der Zweiten Internationale (1889–1914). Ein großer Teil seines diesbezüglichen Werks ist zum Gegenstand zumeist ignoranter Kritik geworden – insbesondere des Vorwurfs, Plechanow habe die Bedeutung Hegels und der dialektischen Methode verkannt. Liest man dieses polemische Gezeter, kann man nur wünschen, die Autoren würden sich die Zeit nehmen, Plechanows Werk zu studieren, bevor sie es verurteilen.[3]

Plechanows Beitrag zur revolutionären Strategie hat einen weiteren Aspekt, der im Allgemeinen unterschätzt, wenn nicht völlig übergangen wird: Er beharrte darauf, dass der unabhängige Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie eine wesentliche Voraussetzung für die Entstehung von sozialistischem Bewusstsein darstellte.

In seinem Frühwerk »Sozialismus und politischer Kampf«, das er kurz nach der Gründung der Gruppe Befreiung der Arbeit schrieb, wandte sich Plechanow gegen die Ansichten der russischen Anarchisten, die der Politik jede Bedeutung absprachen und sogar den Standpunkt vertraten, die Arbeiter sollten sich nicht durch ein Interesse an Politik besudeln. Plechanow bemerkte dazu, dass »keine einzige Klasse, die die politische Herrschaft errungen hat, Gründe hat, ihr Interesse für die ›Politik‹ zu bereuen; wenn im Gegenteil jede von ihnen den höchsten, den Kulminationspunkt ihrer Entwicklung erst erreichte, nachdem sie die politische Herrschaft erlangte, so müssen wir zugeben, dass der politische Kampf ein Mittel der sozialen Umgestaltung ist, dessen Tauglichkeit durch die Geschichte bewiesen ist.«

Plechanow ging dann der Frage nach, in welchen Stufen sich Klassenbewusstsein entwickelt. Ein längeres Zitat ist hier angebracht, da dieser Passage eine bleibende Bedeutung zukommt:

Die unterjochte Klasse macht sich nur allmählich den Zusammenhang zwischen ihrer ökonomischen Lage und ihrer politischen Rolle im Staate klar. Lange Zeit begreift sie nicht einmal ihre ökonomische Aufgabe in ihrer ganzen Fülle. Die Individuen, aus denen sie besteht, führen einen harten Kampf um ihre tägliche Existenz und denken nicht einmal darüber nach, welchen Seiten der gesellschaftlichen Organisation sie ihre Notlage schulden. Sie bemühen sich, den Schlägen, die ihnen versetzt werden, auszuweichen, und fragen nicht, woher und durch wen ihnen diese Schläge in letzter Instanz versetzt werden. Sie haben noch kein Klassenbewusstsein, in ihrem Kampf gegen die einzelnen Unterdrücker ist keine richtungsweisende Idee. Die unterdrückte Klasse existiert noch nicht für sich; in der Zukunft wird sie die führende Klasse der Gesellschaft sein, aber sie ist noch nicht dabei, es zu werden. Der bewusst organisierten Kraft der herrschenden Klasse stehen nur unkoordinierte, vereinzelte Bemühungen einzelner Personen oder einzelner Personengruppen gegenüber. So ist es zum Beispiel auch heute noch keine Seltenheit, einen Arbeiter zu treffen, der einen besonders energischen Ausbeuter hasst, aber noch nicht ahnt, dass die gesamte Klasse der Ausbeuter bekämpft und selbst die Möglichkeit der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen beseitigt werden muss.

Nach und nach tut indes der Prozess der Verallgemeinerung das Seine, und die Unterdrückten beginnen, sich als Klasse zu verstehen. Aber sie verstehen die Besonderheiten ihrer Klassenlage noch zu einseitig: die treibenden Kräfte des gesellschaftlichen Mechanismus in seiner Gesamtheit bleiben noch vor ihrem geistigen Auge verborgen. Die Klasse der Ausbeuter stellt sich ihnen als die einfache Gesamtheit der einzelnen Unternehmer dar, unverbunden durch die Fäden der politischen Organisation. Auf dieser Stufe der Entwicklung ist in den Vorstellungen der Unterdrückten … der Zusammenhang zwischen »Gesellschaft« und »Staat« noch nicht klar. Man nimmt an, die Staatsgewalt stünde höher als der Antagonismus der Klassen, ihre Vertreter scheinen die natürlichen Richter und Aussöhner der sich befehdenden Seiten zu sein. Die unterdrückte Klasse wendet sich in vollem Vertrauen an sie und gerät in große Verwunderung, wenn die von ihrer Seite an sie gerichteten Bitten um Hilfe ohne Antwort bleiben …

Erst auf der folgenden letzten Stufe der Entwicklung macht sich die unterdrückte Klasse allseitig ihre Lage klar. Jetzt versteht sie, welcher Zusammenhang zwischen Gesellschaft und Staat besteht, und appelliert auf die Schikanen ihrer Ausbeuter hin nicht an den, der das politische Organ eben dieser Ausbeutung ist. Sie weiß, dass der Staat eine Festung ist, die ihren Unterdrückern zur Stütze und Verteidigung dient, eine Festung, die man einnehmen kann und muss, die man nach den Interessen der eigenen Verteidigung umgestalten kann und muss, die man aber nicht im Vertrauen auf ihre Neutralität umgehen kann … Lange Zeit suchen sie nur Zugeständnisse zu erreichen, fordern sie nur solche Reformen, die ihnen nicht die Herrschaft geben werden, sondern nur die Möglichkeit zu erstarken und reif zu werden für die zukünftige Herrschaft; Reformen, die ihre lebensnotwendigsten, allernächsten Bedürfnisse befriedigen und, wenn auch nur ein wenig, die Sphäre ihres Einflusses auf das gesellschaftliche Leben des Landes verbreitern. Nur durch eine harte Schule des Kampfes um einzelne Stückchen feindlichen Territoriums erwirbt die unterdrückte Klasse die Hartnäckigkeit, Entschlossenheit und Reife, die für die Entscheidungsschlacht unentbehrlich sind. Hat sie aber einmal diese Fähigkeiten erworben, so kann sie ihre Gegner als eine endgültig von der Geschichte verurteilte Klasse betrachten; sie kann an ihrem Sieg nicht mehr zweifeln. Die sogenannte Revolution ist nur der letzte Akt in dem langen Drama des revolutionären Klassenkampfs, der nur in dem Maße bewusst wird, wie er zum politischen Kampf wird.[4]

Plechanow legte so die Aufgabe der späteren Sozialisten fest: Die Konzentration aller Anstrengungen auf die Entwicklung des politischen Klassenbewusstseins der Arbeiterklasse und deren Vorbereitung auf ihre historische Rolle als Führerin der sozialistischen Revolution. Daraus ergibt sich auch die historische Bedeutung der Partei. Sie ist das Instrument, das dieses Bewusstsein hervorbringt, entwickelt und auf der Grundlage eines bestimmten politischen Programms organisiert.

Die Schriften Plechanows stürzten die Volkstümler in die Krise. In den späten 1880er Jahren befanden sie sich eindeutig in der Defensive gegenüber den Schlägen eines Mannes, den sie nur zehn Jahre zuvor als Abweichler von der »Volkssache« beschimpft hatten. Der politische Bankrott des Terrorismus wurde immer deutlicher. Plechanow wies nach, dass der Terrorismus das Ziel verfolgte, den Zarismus in Schrecken zu versetzen und die Herrschenden so zu einer Kursänderung zu bewegen. Er und die wachsende Schar von Marxisten bezeichneten daher die Terroristen als »Liberale mit Bomben« – eine Bezeichnung, die heute genau so angemessen ist wie vor hundert Jahren. Der Terrorismus wich dem schwierigen Kampf für eine Hebung des Bewusstseins der Arbeiterklasse aus, wie Plechanow erklärte. Sein Versuch, die Massen durch Racheakte heldenhafter Individuen aufzurütteln, führte lediglich dazu, sie zu demoralisieren und abzustumpfen.

Das bahnbrechende Werk von Plechanow beeinflusste eine ganze Generation von Intellektuellen und Jugendlichen, die sich in den späten 1880er und frühen 1890er Jahren dem revolutionären Kampf anschlossen. Die Wirkung seiner Polemiken war umso stärker, als die gesellschaftlichen Veränderungen in Stadt und Land immer genauer mit seiner Analyse übereinstimmten.

Lenin tritt auf

In den 1890er Jahren machte Russland eine schnelle wirtschaftliche Entwicklung durch, und mit der Zunahme der Industrie wuchs eine erstarkende Arbeiterklasse heran. Dies waren die Bedingungen, unter denen sich Wladimir Iljitsch Uljanow, der jüngere Bruder eines hingerichteten revolutionären Terroristen, der revolutionären Bewegung anschloss. 1893 veröffentlichte er unter dem Titel »Was sind die ›Volksfreunde‹ und wie kämpfen sie gegen die Sozialdemokraten?« eine Kritik an den Volkstümlern und erwarb sich einen Ruf als Theoretiker. Ein großer Teil dieser Schrift von Uljanow-Lenin war dem Angriff auf die, wie er sie nannte, »subjektive Soziologie« von Michailowski gewidmet. Er wies nach, dass sich die Politik der Narodniki (Volkstümler) nicht auf ein wissenschaftliches Verständnis der gesellschaftlichen Beziehungen in Russland gründete. Die Volkstümler verschlossen die Augen vor der Tatsache, dass sich die Warenproduktion stark entwickelt hatte und dass in großem Maßstab Industrien entstanden waren. Diese konzentrierten sich in den Händen von Individuen, die die Arbeitskraft einer besitzlosen Masse von Arbeitern kauften und ausbeuteten. Noch wichtiger als die ökonomische Analyse – die er in seinem nächsten Werk »Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland« weiter ausbaute – war Lenins Einschätzung des Klassenstandpunkts der Narodniki. Er erklärte, dass es sich dem Wesen nach um kleinbürgerliche Demokraten handle, deren Ansichten die gesellschaftliche Stellung der Bauernschaft widerspiegelten.

Lenin betonte zwar die Bedeutung demokratischer Fragen – d.h. aller Fragen, die sich auf die Abschaffung der zaristischen Autokratie, auf die Zerschlagung der Überreste des Feudalismus auf dem Lande und auf die Vergesellschaftung des Grundbesitzes bezogen –, doch er vertrat ebenso leidenschaftlich die Ansicht, dass es grundlegend falsch wäre, den Unterschied zwischen der demokratischen und der sozialistischen Bewegung zu ignorieren. Das größte Hindernis, das der Entwicklung des Klassenbewusstseins der Arbeiterklasse im Wege stehe, sei die Tendenz, das Proletariat den bürgerlichen und kleinbürgerlichen demokratischen Gegnern der Zarenherrschaft unterzuordnen.

In seinem Angriff auf Michailowskis Ansichten argumentierte Lenin, dass der so genannte »Sozialismus« der kleinbürgerlichen Demokraten nichts mit dem Sozialismus des Proletariats gemein hat. Bestenfalls reflektiere der »Sozialismus« des Kleinbürgertums dessen Frustration über das starke Anwachsen des Kapitals und über dessen Konzentration in den Händen von Finanz- und Industriemagnaten. Der kleinbürgerliche Sozialismus sei unfähig, die Entwicklung des Kapitalismus wissenschaftlich und historisch zu analysieren. Eine solche Analyse würde die hoffnungslose Stellung des Kleinbürgertums selbst ans Licht bringen, die keine aufstrebende Klasse, sondern ein Überbleibsel der ökonomischen Vergangenheit sei.

Für die revolutionäre sozialistische Bewegung zog Lenin die Schlussfolgerung, dass sie den Einfluss der kleinbürgerlichen demokratischen Ideologie innerhalb der Arbeiterbewegung bekämpfen müsse. Sie müsse den Unterschied zwischen sozialistischen und bürgerlich-demokratischen Forderungen verstehen. Die Abschaffung der Autokratie und die Zerschlagung des Feudalbesitzes sei zwar historisch fortschrittlich, bedeute aber nicht das Ende der Ausbeutung der Arbeiterklasse. Die Erfüllung dieser Forderungen würde die Entwicklung des Kapitalismus und eine stärkere Ausbeutung der Arbeiterklasse sogar erleichtern. Das bedeute nicht, dass die Arbeiterklasse den demokratischen Kampf nicht unterstützen solle. Sie müsse sich im Gegenteil an seine Spitze stellen. Aber unter keinen Bedingungen dürfe sie diesen Kampf unter dem Banner der Bourgeoisie oder des Kleinbürgertums führen. Sie müsse für Demokratie kämpfen, um den Kampf gegen die Bourgeoisie selbst zu erleichtern.

Lenin griff die »Herren Vereiniger« und »Befürworter eines Bündnisses« an, die dafür eintraten, dass die Arbeiter ihre unabhängigen Klasseninteressen im Namen des Kampfs gegen den Zarismus zurückstecken und ohne Rücksicht auf programmatische Fragen Bündnisse mit allen politischen Gegnern des Regimes eingehen sollten. Marxisten kämpften nicht für Demokratie, indem sie sich an die Liberalen und kleinbürgerlichen Demokraten anpassten, sondern indem sie die Arbeiter in einer eigenen, unabhängigen Partei organisierten, die sich auf ein revolutionäres sozialistisches Programm stützt. Den Charakter der Volkstümler fasste Lenin mit den Worten zusammen:

Glaubt man den schwülstigen Phrasen über die »Volksinteressen« nicht aufs Wort und versucht man, tiefer zu schürfen, so wird man sehen, dass man es mit Ideologen des Kleinbürgertums von reinstem Wasser zu tun hat …[5]

Am Ende seines Werkes betonte Lenin, es sei die vordringliche Aufgabe der revolutionären Partei, den Arbeiter über die politisch-ökonomische Struktur des ihn unterdrückenden Systems und über die Notwendigkeit und Unvermeidlichkeit des Klassenantagonismus in diesem System aufzuklären.

Wenn die fortgeschrittenen Repräsentanten der Arbeiterklasse sich die Ideen des wissenschaftlichen Sozialismus zu eigen gemacht haben, wenn sie sich der historischen Rolle des russischen Arbeiters bewusst geworden sind, wenn diese Ideen weite Verbreitung erlangt, die Arbeiter feste Organisationen gegründet und diese den heute zersplitterten ökonomischen Kampf der Arbeiter in bewusst geführten Klassenkampf verwandelt haben – dann wird sich der russische ARBEITER erheben, sich an die Spitze aller demokratischen Elemente stellen, den Absolutismus stürzen und das RUSSISCHE PROLETARIAT (Schulter an Schulter mit dem Proletariat ALLER LÄNDER) auf dem direkten Wege des offenen politischen Kampfes der SIEGREICHEN KOMMUNISTISCHEN REVOLUTION entgegenführen.[6]

In diesem bahnbrechenden Werk entwickelte Lenin die Konzeptionen, die den Aufbau der bolschewistischen Partei anleiten sollten. Die Idee der Partei oder der unabhängigen politischen Organisation der Arbeiterklasse stammte nicht von Lenin. Aber er verlieh diesen Ideen eine politische Konkretheit von bislang unerreichter Schärfe. Er war überzeugt, dass die politische Organisation der Arbeiterklasse einen intensiven Kampf gegen Theorien und Programme erforderte, die die politischen Interessen der Bourgeoisie zum Ausdruck brachten. 1900 schrieb er im Artikel »Die dringendsten Aufgaben unserer Bewegung«:

Die Sozialdemokratie ist die Vereinigung von Arbeiterbewegung und Sozialismus, ihre Aufgabe besteht nicht darin, der Arbeiterbewegung in jedem einzelnen Stadium passiv zu dienen, sondern darin, die Interessen der Gesamtbewegung als Ganzes zu vertreten, dieser Bewegung ihr Endziel, ihre politischen Aufgaben zu weisen, ihre politische und ihre ideologische Selbständigkeit zu wahren. Von der Sozialdemokratie losgerissen, verflacht die Arbeiterbewegung und verfällt unweigerlich in Bürgerlichkeit: führt die Arbeiterklasse nur den ökonomischen Kampf, so verliert sie ihre politische Selbständigkeit, wird sie zum Anhängsel anderer Parteien und übt Verrat an dem großen Vermächtnis: »Die Befreiung der Arbeiter muss das Werk der Arbeiter selbst sein.« In allen Ländern hat es eine Periode gegeben, in der Arbeiterbewegung und Sozialismus getrennt voneinander bestanden und getrennte Wege gingen – und in allen Ländern hat diese Trennung Schwäche des Sozialismus und der Arbeiterbewegung zur Folge gehabt; in allen Ländern hat erst die Vereinigung des Sozialismus mit der Arbeiterbewegung eine feste Grundlage für beide geschaffen.[7]

Der Kampf gegen den Ökonomismus

Mit dem Ökonomismus war innerhalb der russischen Sozialdemokratie eine neue Strömung entstanden, deren Existenz mit dem Anwachsen des Bernsteinschen Revisionismus in Deutschland verbunden war. Die Ökonomisten setzten die Bedeutung des politischen Kampfs herab. Sie passten sich an die spontanen Bewegungen an, die Mitte der 1890er Jahre in der Arbeiterklasse entstanden, und traten dafür ein, dass sich die sozialdemokratische Bewegung auf die Entwicklung von Streiks und auf andere Aspekte des ökonomischen Kampfs der Arbeiterklasse konzentriere. Aus dieser Anschauung ergab sich implizit, dass die Arbeiterbewegung ihre revolutionären sozialistischen Ziele aufgeben sollte. Die führende Rolle im politischen Kampf gegen die Autokratie sollte der liberal-demokratischen bürgerlichen Opposition überlassen werden. Das unabhängige revolutionäre Programm, das Plechanow und Lenin verkündet hatten, sollte zugunsten von Gewerkschaftsaktivitäten aufgegeben werden, die darauf abzielten, die ökonomischen Bedingungen der Arbeiterklasse im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaft zu verbessern. So schrieb E.D. Kuskowa im berüchtigten »Credo« von 1899:

Der unduldsame Marxismus, der verneinende Marxismus, der primitive Marxismus (der eine allzu schematische Vorstellung von der Klassenteilung der Gesellschaft hat) wird dem demokratischen Marxismus Platz machen, und die soziale Stellung der Partei in der heutigen Gesellschaft muss sich radikal ändern. Die Partei wird die Gesellschaft anerkennen, ihre eng korporativen, in den meisten Fällen sektiererischen Aufgaben erweitern sich zu gesellschaftlichen Aufgaben, und ihr Streben nach Ergreifung der Macht wird zum Streben nach Änderung, Reformierung der heutigen Gesellschaft in demokratischer Richtung, angepasst an die heutige Lage der Dinge, mit dem Ziel möglichst erfolgreicher, möglichst vollständiger Verteidigung der Rechte (jeder Art) der werktätigen Klassen.[8]

Aber das war noch nicht Alles. Das »Credo« erklärte: Das »Gerede von einer selbständigen politischen Arbeiterpartei ist nichts anderes als ein Produkt der Übertragung fremder Aufgaben, fremder Resultate auf unseren Boden«.[9]

Der Ökonomismus war ein internationales Phänomen: Unter Bedingungen, unter denen der Marxismus zur vorherrschenden politischen und ideologischen Kraft in der Arbeiterbewegung Westeuropas geworden war, entwickelte sich innerhalb dieser Arbeiterbewegung eine bürgerliche Opposition gegen den Marxismus. Das Anwachsen des Revisionismus ergab sich aus dem Versuch kleinbürgerlicher Ideologen des Kapitalismus, der Ausbreitung des marxistischen Einflusses innerhalb der Arbeiterbewegung entgegenzutreten und ihn zu unterlaufen. Im Jahre 1899 waren die Auswirkungen des Revisionismus mit dem Eintritt des französischen Sozialisten Millerand in eine bürgerliche Regierung bereits recht klar geworden.

Das Aufkommen des Opportunismus rief eine Krise in der internationalen Sozialdemokratie hervor. Als Erster bezog Plechanow dagegen Stellung. Später leistete Rosa Luxemburg mit ihrer Broschüre »Sozialreform oder Revolution?« einen großartigen Beitrag. Widerstrebend wurden die deutschen Sozialdemokraten in die Auseinandersetzung hineingezogen. Aber nirgendwo wurde der Kampf gegen den Opportunismus so weit vorangetrieben wie in Russland unter der Führung von Lenin.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die russische sozialistische Bewegung keine einheitliche politische Organisation. Es gab zahllose Strömungen und Gruppen, die sich als sozialistisch und sogar als marxistisch bezeichneten, aber ihre politische und praktische Tätigkeit auf die lokale Ebene oder eine bestimmte ethnische oder religiöse Gruppe der Arbeiterklasse beschränkten. Der jüdische Bund war die bekannteste unter den letztgenannten Organisationen.

Als die russische Arbeiterbewegung in der zweiten Hälfte der 1890er Jahre an Stärke gewann, wurde die programmatische und organisatorische Geschlossenheit zur offensichtlichen und dringenden Aufgabe. Der erste Versuch, 1898 einen gesamtrussischen Kongress der Sozialdemokraten in Minsk abzuhalten, scheiterte an der Repression durch die Polizei und der Verhaftung von Delegierten. Nach diesem Rückschlag wurde die Einberufung eines Parteitags durch den zunehmend heterogenen Charakter der russischen sozialistischen Bewegung erschwert, der sich vor allem im Aufkommen der ökonomistischen Strömung zeigte.

»Iskra«

Auch wenn Plechanow nach wie vor als theoretischer Führer des russischen Sozialismus geachtet wurde, trat Uljanow-Lenin im Verlauf der Vorbereitungsarbeiten für die Einberufung eines Vereinigungsparteitags der russischen Sozialdemokraten als wichtigste Persönlichkeit hervor. Grundlage seines Einflusses war seine führende Rolle bei der Herausgabe der neuen politischen Zeitung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands, »Iskra« (»Der Funke«). In der Emigrantenbewegung und unter den Marxisten, die in Russland praktische revolutionäre Arbeit leisteten, gewann die »Iskra« Geltung, weil sie einer Bewegung, die ansonsten zersplittert geblieben wäre, auf gesamtrussischer Basis theoretische, politische und organisatorische Geschlossenheit bot.

Die erste Ausgabe der »Iskra« erschien im Dezember 1900. Lenin erklärte in einer Stellungnahme auf der Titelseite:

Die politische Entwicklung und die politische Organisation der Arbeiterklasse zu fördern – das ist unsere wichtigste und grundlegende Aufgabe. Jeder, der diese Aufgabe in den Hintergrund schiebt, der ihr nicht alle Teilaufgaben und einzelnen Kampfmethoden unterordnet, beschreitet einen falschen Weg und fügt der Sache ernsten Schaden zu.[10]

In Worten, die auch nach Ablauf eines Jahrhunderts noch aktuell sind, kritisierte Lenin jene, »die es für möglich und angebracht halten, den Arbeitern nur in besonderen Momenten ihres Lebens, nur bei feierlichen Anlässen ›Politik‹ vorzusetzen …« In einem vernichtenden Angriff auf die Ökonomisten, für die eine militante Gewerkschaftsarbeit und die Agitation für wirtschaftliche Forderungen das A und O radikaler Aktivitäten in der Arbeiterklasse bedeuteten, beharrte Lenin darauf, dass die entscheidenden Aufgaben von Sozialisten die politische Erziehung der Arbeiterklasse und der Aufbau ihrer unabhängigen sozialistischen Partei seien.

»Keine einzige Klasse in der Geschichte ist zur Herrschaft gelangt«, schrieb Lenin, »ohne ihre eigenen politischen Führer, ihre fortschrittlichen Vertreter hervorgebracht zu haben, die fähig waren, die Bewegung zu organisieren und zu leiten.« Etwas einsilbig schloss er mit dem Vorschlag: »Den Organisationsfragen beabsichtigen wir in den nächsten Nummern eine Reihe von Artikeln zu widmen. Das ist einer unserer wundesten Punkte.«[11]

»Was tun?«

Das Ergebnis dieses Vorschlags war die wahrscheinlich einflussreichste und umstrittenste politische Schrift des 20. Jahrhunderts, Lenins »Was tun?«. Angesichts der erbitterten Kontroversen, die dieses Buch insbesondere nach der bolschewistischen Revolution von 1917 hervorgerufen hat, ist es bemerkenswert, dass »Was tun?« bei seiner Erstveröffentlichung 1902 von führenden russischen Sozialdemokraten – insbesondere von Plechanow – als maßgebliche Darlegung der Grundsätze der Partei zu den Fragen der politischen Aufgaben und der Organisation anerkannt wurde. Das ist politisch wichtig, weil viele Angriffe auf Lenins Broschüre behaupten, »Was tun?« habe ein konspiratives und totalitäres Element in den Sozialismus eingeführt, das dem klassischen Marxismus fremd sei.

Lenin beginnt seine Broschüre, indem er sich mit der Forderung der russischen Ökonomisten, d.h. der russischen Anhänger von Eduard Bernstein, nach »Freiheit der Kritik« auseinandersetzt. Er stellt diese Parole, die zunächst einmal demokratisch und ansprechend klingt, in Zusammenhang mit der heftigen Auseinandersetzung zwischen den Verteidigern des orthodoxen Marxismus und den Revisionisten, die diesen theoretisch und politisch auf allen Ebenen angriffen, in den Reihen der internationalen Sozialdemokratie.

Lenin stellt fest, dass die Revision der programmatischen Grundlagen der deutschen Sozialdemokratie, die Bernstein auf theoretischer Ebene vornahm, auf der politischen Ebene zum Eintritt des französischen Sozialisten Alexandre Millerand in die Regierung von Waldeck-Rousseau führte, und folgert, dass

die »Freiheit der Kritik« die Freiheit der opportunistischen Richtung in der Sozialdemokratie ist, die Freiheit, die Sozialdemokratie in eine demokratische Reformpartei zu verwandeln, die Freiheit bürgerliche Ideen und bürgerliche Elemente in den Sozialismus hineinzutragen.[12]

Niemand verweigere den Revisionisten das Recht auf Kritik, fährt Lenin fort, aber die Marxisten hätten ebenso das Recht, diese Kritik zurückzuweisen und gegen die Verwandlung der Sozialdemokratie in eine reformistische Partei zu kämpfen.

Nach einem kurzen Überblick über den Ursprung der russischen Ökonomisten geht Lenin auf deren Gleichgültigkeit gegenüber theoretischen Fragen ein. Er stellt fest, dass die von ihnen »vielgerühmte Freiheit der Kritik nicht das Ablösen einer Theorie durch eine andere bedeutet, sondern das Freisein von jeder geschlossenen und durchdachten Theorie, dass sie Eklektizismus und Prinzipienlosigkeit bedeutet«. Die Revisionisten rechtfertigten diese Gleichgültigkeit mit dem aus dem Zusammenhang gerissenen Ausspruch von Marx, jeder Schritt wirklicher Bewegung sei wichtiger als ein Dutzend Programme. »Diese Worte in einer Zeit der theoretischen Zerfahrenheit wiederholen«, erwidert Lenin, »ist dasselbe, als wolle man beim Anblick eines Leichenbegängnisses ausrufen: ›Mögen euch immer so glückliche Tage beschieden sein!‹«[13]

Es folgen die Worte, die nicht oft genug zitiert werden können: »Ohne revolutionäre Theorie kann es auch keine revolutionäre Bewegung geben. Dieser Gedanke kann nicht genügend betont werden in einer Zeit, in der die zur Mode gewordene Predigt des Opportunismus sich mit der Begeisterung für die engsten Formen der praktischen Tätigkeit paart.«[14] Lenin erklärt, dass nur eine Partei,«die von einer fortgeschrittenen Theorie geleitet wird«, der Arbeiterklasse revolutionäre Führung geben könne, und betont: »Engels spricht nicht von zwei Formen des großen Kampfes der Sozialdemokratie (dem politischen und dem ökonomischen) – wie das bei uns üblich ist –, sondern von drei, indem er neben diese auch den theoretischen Kampf stellt[15] Dann zitiert er Engels’ Aussage: »Ohne Vorausgang der deutschen Philosophie, namentlich Hegels, wäre der deutsche wissenschaftliche Sozialismus – der einzige wissenschaftliche Sozialismus, der je existiert hat – nie zustande gekommen. Ohne theoretischen Sinn unter den Arbeitern wäre dieser wissenschaftliche Sozialismus nie so sehr in ihr Fleisch und Blut übergegangen, wie dies der Fall ist.«[16]

Das zweite Kapitel von »Was tun?« trägt die Überschrift »Spontaneität der Massen und Bewusstheit der Sozialdemokratie«. Es ist zweifellos der wichtigste Teil von Lenins Broschüre und war deshalb den hartnäckigsten Angriffen und Falschdarstellungen ausgesetzt. In diesem Teil, heißt es häufig, erweise sich Lenin als arrogant und elitär, verächtlich gegenüber den Arbeitermassen und ihren Erwartungen, geringschätzig gegenüber ihren tagtäglichen Kämpfen, erpicht auf persönliche Macht und begierig auf den Tag, an dem er und seine verfluchte Partei mit eiserner Faust ihre totalitäre Diktatur über die arglose russische Arbeiterklasse errichten könnten. Es lohnt sich, diesen Teil besonders sorgfältig zu untersuchen.

Lenin analysiert hier, in welcher Beziehung der Marxismus und die revolutionäre Partei zur spontanen Bewegung der Arbeiterklasse und den Formen gesellschaftlichen Bewusstseins stehen, das Arbeiter im Laufe dieser Bewegung entwickeln. Er vollzieht nach, in welchen Formen sich das Bewusstsein der russischen Arbeiter seit den ersten Klassenkonflikten der 1860er und 1870er Jahre herausgebildet hat.

Diese Kämpfe waren äußerst primitiv. Die spontanen, von Maschinenstürmerei begleiteten Ausbrüche waren Ausdruck der Verzweiflung, es fehlte ihnen jedes Verständnis für den sozialen und den Klassencharakter der Revolte, Klassenbewusstsein existierte nur in »Keimform«. Drei Jahrzehnte später war die Lage bedeutend fortgeschrittener. Verglichen mit den frühen Kämpfen zeigten die Arbeiter in den Streiks der 1890er Jahre einen wesentlich höheren Bewusstseinsstand. Die Streiks waren viel besser organisiert und stellten bestimmte Forderungen auf. Aber das Bewusstsein, das die Arbeiter in diesen Kämpfen zeigten, war gewerkschaftlich und nicht sozialdemokratisch geprägt. Das heißt, in den Streiks wurden keine politischen Forderungen erhoben, es fehlte ihnen ein Verständnis des tiefen und unversöhnlichen Konflikts zwischen den Arbeitern und dem gegenwärtigen politischen und sozialen System. Die Arbeiter versuchten lediglich, ihr Los im Rahmen der bestehenden Gesellschaftsordnung zu verbessern.

Diese Beschränkung war unvermeidlich, weil die spontane Bewegung der Arbeiterklasse nicht aus sich heraus, nicht »spontan« sozialdemokratisches, d.h. revolutionäres Bewusstsein hervorbringen kann. An dieser Stelle entwickelt Lenin die Argumentation, die zahllose Angriffe ausgelöst hat. Er schreibt:

Wir haben gesagt, dass die Arbeiter ein sozialdemokratisches Bewusstsein gar nicht haben konnten. Dieses konnte ihnen nur von außen gebracht werden. Die Geschichte aller Länder zeugt davon, dass die Arbeiterklasse ausschließlich aus eigener Kraft nur ein trade-unionistisches Bewusstsein hervorzubringen vermag, d.h. die Überzeugung von der Notwendigkeit, sich in Verbänden zusammenzuschließen, einen Kampf gegen die Unternehmer zu führen, der Regierung diese oder jene für die Arbeiter notwendigen Gesetze abzutrotzen u.a.m. Die Lehre des Sozialismus ist hingegen aus den philosophischen, historischen und ökonomischen Theorien hervorgegangen, die von den gebildeten Vertretern der besitzenden Klassen, der Intelligenz, ausgearbeitet wurden. Auch die Begründer des modernen wissenschaftlichen Sozialismus, Marx und Engels, gehörten ihrer sozialen Stellung nach der bürgerlichen Intelligenz an. Ebenso entstand auch in Russland die theoretische Lehre der Sozialdemokratie ganz unabhängig von dem spontanen Anwachsen der Arbeiterbewegung, entstand als natürliches und unvermeidliches Ergebnis der ideologischen Entwicklung der revolutionären sozialistischen Intelligenz.[17]

Um diese Auslegung der Beziehung zwischen dem Marxismus und dem sich spontan entwickelnden trade-unionistischen, d.h. bürgerlichen Bewusstsein der Arbeiterklasse zu untermauern, zitiert Lenin den Programm­entwurf der österreichischen Sozialdemokratischen Partei und Karl Kautskys Kommentar dazu:

»Je mehr die Entwicklung des Kapitalismus das Proletariat anschwellen macht, desto mehr wird es gezwungen und befähigt, den Kampf gegen ihn aufzunehmen. Es kommt zum Bewusstsein« der Möglichkeit und Notwendigkeit des Sozialismus etc. In diesem Zusammenhang erscheint das sozialistische Bewusstsein als das notwendige direkte Ergebnis des proletarischen Klassenkampfes. Das ist aber falsch. Der Sozialismus als Lehre wurzelt allerdings ebenso in den heutigen ökonomischen Verhältnissen wie der Klassenkampf des Proletariats, entspringt ebenso wie dieser aus dem Kampfe gegen die Massenarmut und das Massenelend, das der Kapitalismus erzeugt; aber beide entstehen nebeneinander, nicht auseinander, und unter verschiedenen Voraussetzungen. Das moderne sozialistische Bewusstsein kann nur entstehen auf Grund tiefer wissenschaftlicher Einsicht. In der Tat bildet die heutige ökonomische Wissenschaft ebenso eine Vorbedingung sozialistischer Produktion wie etwa die heutige Technik, nur kann das Proletariat beim besten Willen die eine ebenso wenig schaffen wie die andere; sie entstehen beide aus dem heutigen gesellschaftlichen Prozess. Der Träger der Wissenschaft ist aber nicht das Proletariat, sondern die bürgerliche Intelligenz (hervorgehoben von K.K.); in einzelnen Mitgliedern dieser Schicht ist denn auch der moderne Sozialismus entstanden und durch sie erst geistig hervorragenden Proletariern mitgeteilt worden, die ihn dann in den Klassenkampf des Proletariats hineintragen, wo die Verhältnisse es gestatten. Das sozialistische Bewusstsein ist also etwas in den Klassenkampf des Proletariats von außen Hineingetragenes, nicht etwas aus ihm urwüchsig Entstandenes. Dem entsprechend sagt auch das alte Hainfelder Programm ganz richtig, dass es zu den Aufgaben der Sozialdemokratie gehöre, das Proletariat mit dem Bewusstsein (hervorgehoben von K.K.) seiner Lage und seiner Aufgabe zu erfüllen. Das wäre nicht notwendig, wenn dies Bewusstsein von selbst aus dem Klassenkampf entspränge.[18]

Aus dieser Passage zieht Lenin den folgenden Schluss:

Kann nun von einer selbständigen, von den Arbeitermassen im Verlauf ihrer Bewegung selbst ausgearbeiteten Ideologie keine Rede sein, so kann die Frage nur so stehen: bürgerliche oder sozialistische Ideologie. Ein Mittelding gibt es hier nicht (denn eine »dritte« Ideologie hat die Menschheit nicht geschaffen, wie es überhaupt in einer Gesellschaft, die von Klassengegensätzen zerfleischt wird, niemals eine außerhalb der Klassen oder über den Klassen stehende Ideologie geben kann). Darum bedeutet jede Herabminderung der sozialistischen Ideologie, jedes Abschwenken von ihr zugleich eine Stärkung der bürgerlichen Ideologie. Man redet von Spontaneität. Aber die spontane Entwicklung der Arbeiterbewegung führt eben zu ihrer Unterordnung unter die bürgerliche Ideologie, sie verläuft eben nach dem Programm des »Credo«, denn spontane Arbeiterbewegung ist Trade-Unionismus, ist Nur-Gewerkschaftlerei, Trade-Unionismus aber bedeutet eben ideologische Versklavung der Arbeiter durch die Bourgeoisie. Darum besteht unsere Aufgabe, die Aufgabe der Sozialdemokratie, im Kampf gegen die Spontaneität, sie besteht darin, die Arbeiterbewegung von dem spontanen Streben des Trade-Unionismus, sich unter die Fittiche der Bourgeoisie zu begeben, abzubringen und sie unter die Fittiche der revolutionären Sozialdemokratie zu bringen.[19]

Diese Passagen sind immer wieder als Inbegriff des »Elitismus« und als Keim der zukünftigen totalitären Entwicklung des Bolschewismus angeprangert worden.[20] In einem Buch mit dem Titel »Die Saat des Bösen« bezeichnet Robin Blick den oben zitierten Satz (über das »spontane Streben des Trade-Unionismus, sich unter die Fittiche der Bourgeoisie zu begeben«) als »absolut außergewöhnliche Formulierung für jemanden, der sich normalerweise so bemüht, als Verteidiger der marxistischen ›Orthodoxie‹ zu gelten. Sie steht in ihrer Unverfrorenheit nicht hinter den Revisionen des Marxismus zurück, die der deutsche Sozialdemokrat Eduard Bernstein vorgenommen hat … Marx und Engels haben in ihren Schriften nie eine ausgearbeitete Doktrin des politischen Elitismus und der organisatorischen Manipulation entwickelt.«[21]

Kolakowskis Angriff auf »Was tun?«

Diese Argumentation wird vom akademischen Philosophen Leszek Kolakowski in seinem bekannten dreibändigen Werk »Die Hauptströmungen des Marxismus« aus dem Jahr 1978 noch weitaus gründlicher ausgearbeitet. Kolakowski tut Lenins Behauptung, die spontane Arbeiterbewegung könne keine sozialistische Ideologie entwickeln und müsse daher eine bürgerliche Ideologie haben, als »Novum« ab. Noch beunruhigender findet er die Schlussfolgerung, die Arbeiterbewegung müsse einen bürgerlichen Charakter haben, wenn sie nicht von einer sozialistischen Partei geführt werde:

Diese erste wird durch eine zweite Schlussfolgerung ergänzt: Die Arbeiterbewegung im eigentlichen Wortsinne, also die politische, revolutionäre Bewegung, definiert sich überhaupt nicht dadurch, dass sie eine Bewegung der Arbeiter ist, sondern durch die Tatsache, dass sie die »richtige«, d.h. marxistische, d.h. per definitionem »proletarische« Ideologie besitzt. Anders gesagt, spielt die klassenmäßige Zusammensetzung der revolutionären Partei für die Bestimmung ihres Klassencharakters keine Rolle.[22]

Kolakowski äußert ein paar anzügliche Sticheleien und höhnt: »Die Partei weiß, was im ›historischen‹ Interesse des Proletariats liegt und wie jeweils das wahre Bewusstsein des Proletariats beschaffen sein muss, an welches das empirische Bewusstsein in der Regel nicht heranreicht.«[23] Solche Bemerkungen findet er sehr klug. Sie entlarven seiner Meinung nach die absurden Vorstellungen einer kleinen politischen Partei, die sich einbildet, ihr Programm artikuliere die Interessen der Arbeiterklasse, auch wenn die große Mehrheit der Arbeiter damit nicht übereinstimmt oder das Programm noch nicht einmal versteht. Doch Argumente dieser Art erscheinen nur klug, solange man nicht allzu genau darüber nachdenkt.

Wenn Kolakowskis Argument zuträfe, weshalb bräuchte man dann überhaupt noch politische Parteien, sei es eine Arbeiterpartei oder bürgerliche Parteien? Beanspruchen nicht alle politischen Parteien und ihre Führer, im Namen einer größeren gesellschaftlichen Gruppe zu sprechen und deren Interessen zu artikulieren? Betrachtet man die Geschichte der Bourgeoisie, so wurden ihre Klasseninteressen von politischen Parteien bestimmt, festgelegt und ausgesprochen, deren Führer nicht selten gezwungen waren, als kleine Minderheitsfraktion oder sogar illegal in der Opposition zu arbeiten, bevor sie ihre Klasse oder zumindest deren wichtigste Teile für ihre Perspektive und ihr Programm gewannen.

Der Puritanismus existierte in England über ein halbes Jahrhundert lang als religiös-politische Bewegung, bevor er zur vorherrschenden Strömung in der aufsteigenden Bourgeoisie wurde und unter der Führung Cromwells den Sieg der Revolution über die Stuart-Monarchie sicherstellte. Einhundertfünfzig Jahre später gingen die Jakobiner, eine Partei politisch engagierter Rousseau-Anhänger, aus den erbitterten Fraktionskämpfen, die zwischen 1789 und 1792 innerhalb der Bourgeoisie und des Kleinbürgertums tobten, als Führung der Französischen Revolution hervor. Nicht weniger bedeutende Beispiele finden sich in der amerikanischen Geschichte von der vorrevolutionären Periode bis heute.

Ein Programm, das die »objektiven« Interessen einer Klasse zum Ausdruck bringt – d.h. das bestimmt und programmatisch festlegt, mit welchen Mitteln die Voraussetzungen für die Verwirklichung der politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Interessen einer Klasse geschaffen werden können –, mag zu einem gegebenen Zeitpunkt nicht von der Mehrheit oder nicht einmal von einem nennenswerten Teil einer Klasse unterstützt werden. Wie die Geschichte eindeutig gezeigt hat, sollte die Abschaffung der Sklaverei zur Konsolidierung des amerikanischen Nationalstaats und zu einer enormen Beschleunigung des Wachstums der kapitalistischen Industrie und Wirtschaft führen. Trotzdem mussten die Abolitionisten, die politischen Gegner der Sklaverei, jahrzehntelang gegen den heftigen Widerstand der Bourgeoisie der Nordstaaten ankämpfen, die eine Konfrontation mit den Südstaaten scheute und ablehnte. Die wenigen Abolitionisten verstanden weitaus besser als die große Mehrzahl der Unternehmer, Kaufleute, Bauern und auch städtischen Arbeiter des Nordens, was im besten Interesse der langfristigen Entwicklung des amerikanischen Nationalstaats und des Kapitalismus in den Nordstaaten war. Natürlich erklärten die Abolitionisten des frühen 19. Jahrhunderts ihr Programm und ihr Handeln nicht mit solch deutlichen Klassenbegriffen. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass sie in der Sprache ihrer Zeit die Interessen der aufsteigenden Bourgeoisie des Nordens, so wie sie von den politisch weitsichtigsten Teilen dieser Klasse wahrgenommen wurden, artikulierten.

Ein jüngeres Beispiel für eine politische Partei, die die objektiven Interessen der Bourgeoisie bestimmte und gegen den Widerstand großer Teile der eigenen Klasse dafür kämpfte, ist die Demokratische Partei unter Roose­velt. Er verkörperte den Flügel der amerikanischen Bourgeoisie, eindeutig eine Minderheit, der zur Überzeugung gelangt war, dass der Kapitalismus in den Vereinigten Staaten nur durch umfassende Sozialreformen und bedeutende Zugeständnisse an die Arbeiterklasse zu retten sei.

Es sei auch darauf hingewiesen, dass die herrschenden Eliten Hunderttausende Experten aus Politik, Soziologie, Ökonomie, Außenpolitik usw. beschäftigen, die ihnen helfen, ihre eigenen Interessen zu verstehen. Auch wenn es für den durchschnittlichen Bourgeois deutlich einfacher ist, seine wirklichen Interessen wahrzunehmen, als für den Durchschnittsarbeiter, kann die Politik der herrschenden Klasse nie einfach nur eine direkte Widerspiegelung dessen sein, was der »durchschnittliche« amerikanische Unternehmer oder der »durchschnittliche« millionenschwere Vorstandsvorsitzende denkt.

Kolakowski kann nur behaupten, Lenins Auffassung der Beziehung zwischen der sozialistischen Partei und der Entwicklung von Bewusstsein habe im Marxismus keine Grundlage, weil er ignoriert, was Marx und Engels zu dieser Frage geschrieben haben. 1844 erklärten sie in »Die heilige Familie« zur Entwicklung eines sozialistischen Programms:

Es handelt sich nicht darum, was dieser oder jener Proletarier oder selbst das ganze Proletariat als Ziel sich einstweilen vorstellt. Es handelt sich darum, was es ist und was es diesem Sein gemäß geschichtlich zu tun gezwungen sein wird. Sein Ziel und seine geschichtliche Aktion ist in seiner eignen Lebenssituation wie in der ganzen Organisation der heutigen bürgerlichen Gesellschaft sinnfällig, unwiderruflich vorgezeichnet.[24]

Eine postmoderne Leninkritik

Ein anderer Autor, der »Was tun?« angreift, zitiert die oben angeführte Passage. Anders als Kolakowski greift er nicht nur Lenin an. Der britische Historiker Neil Harding vertritt die Auffassung, Lenin sei tatsächlich orthodoxer Marxist gewesen. Die Vorstellungen, die er in »Was tun?« entwickelt habe, basierten auf dem, was Marx selbst in »Die heilige Familie« geschrieben habe. Daher ist nach Harding

die privilegierte Rolle, die der sozialistischen Intelligenz bei der Organisation und Artikulation der Anliegen des Proletariats und bei der Führung seines politischen Kampfs zugewiesen wird, keineswegs eine leninistische Abweichung vom Marxismus, sondern kennzeichnend für die Arroganz des Marxismus als Ganzem. Marx (und alle nachfolgenden Marxisten) mussten behaupten, dass sie sich der langfristigen Interessen und Ziele des Proletariats viel tiefer bewusst seien, als dies irgendein Proletarier oder eine Gruppe von Proletariern jemals sein konnten.[25]

Obwohl Kolakowski behauptet, Lenin habe Marx revidiert, während Harding darauf besteht, dass Lenin sich auf Marx stütze, greifen beide »Was tun?« vom gleichen Ausgangspunkt an: Sie weisen die Auffassungen zurück, sozialistisches Klassenbewusstsein müsse durch eine politische Partei in die Arbeiterklasse getragen werden und eine Partei könne von sich behaupten, die objektiven Interessen der Arbeiterklasse zu vertreten. Die marxistische Bejahung einer objektiven Wahrheit entspringe einer Vernarrtheit in die Wissenschaft sowie dem Glauben, dass die Welt objektiv erkennbar und Gesetzen unterworfen sei und »dass die systematische, verallgemeinerte (oder ›objektive‹) wissenschaftliche Erkenntnis dem ›subjektiven‹ Wissen, das durch unmittelbare Erfahrung gewonnen wird, überlegen« sei.[26] Harding greift die marxistische Auffassung an, dass die objektive Wahrheit etwas Anderes sei als die Ergebnisse von Meinungsumfragen, und sogar im Gegensatz zu ihnen stehen könne. Er schreibt:

Was die Grundlagen seiner Parteitheorie betrifft, ist der Leninismus gänzlich ein Kind des Marxismus. Er beruht auf einem ähnlichen Anspruch, über eine besondere Art des Wissens zu verfügen, und auf einer ähnlich arroganten Auffassung, die proletarische Sache könne nicht verstanden werden, indem man einfach eine Umfrage unter Arbeitern macht.[27]

Harding bedient sich des modischen postmodernen Jargons, der bei ehemals linken Akademikern so beliebt ist und der wissenschaftliche Erkenntnisse lediglich als »privilegierten« Diskurs definiert, dem es völlig unabhängig von der Qualität seines Inhalts gelungen ist, seine Überlegenheit über andere, kulturell weniger bevorzugte Ausdrucksweisen durchzusetzen. Auf dieser Grundlage weist er den »zwielichtigen Begriff der historischen Immanenz« zurück, dem sich Marx und Lenin verschrieben hätten, die Vorstellung, »dass ein umfassendes Studium der gesellschaftlichen Entwicklung bestimmte allgemeine Tendenzen aufdecken würde, die, einmal da und vorherrschend, den Menschen dazu bringen, auf bestimmte Art zu handeln«.[28]

Die philosophischen Auffassungen, auf denen »Was tun?« beruht

Dies bringt uns zu den theoretischen und philosophischen Kernfragen, auf denen nicht nur Lenins Vorstellung von der Rolle der Partei, sondern das gesamte marxistische Unterfangen beruht. Wenn Wahrnehmungen und Ansichten, die Arbeiter aufgrund ihrer unmittelbaren Erfahrung entwickeln, ebenso gültig und begründet sind wie Erkenntnisse, die durch Einsicht in die Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung gewonnen werden, wie Harding behauptet, dann benötigen die Arbeiter keine politische Partei, die sich bemüht, ihre Praxis in Einklang mit den gesetzmäßigen Tendenzen zu bringen, die die Wissenschaft entdeckt hat. Gestützt auf Hardings Argument kann man die Notwendigkeit jeglicher Wissenschaft bestreiten. Ausgangspunkt jeder Wissenschaft ist der Unterschied zwischen der Wirklichkeit, wie sie sich in unmittelbaren Sinneseindrücken zeigt, und der Wirklichkeit, wie sie durch einen komplexen und langen Prozess der Analyse und theoretischen Abstraktion sichtbar wird.

Die entscheidende Frage lautet: Kann die objektive gesellschaftliche Wirklichkeit – ihre Existenz vorausgesetzt (was für viele Akademiker fraglich ist) – von einem einzelnen Arbeiter oder der Arbeiterklasse als Ganzer auf Grundlage der unmittelbaren Erfahrung verstanden werden? Der Beantwortung dieser Frage widmete Lenin sehr viel Zeit, insbesondere, als er sieben Jahre später die theoretische Abhandlung »Materialismus und Empiriokritizismus« verfasste. Darin schrieb er:

Wenn die Menschen miteinander in Verkehr treten, sind sie sich in allen einigermaßen komplizierten Gesellschaftsformationen – und insbesondere in der kapitalistischen Gesellschaftsformation – nicht bewusst, was für gesellschaftliche Verhältnisse sich daraus bilden, nach welchen Gesetzen sie sich entwickeln usw. Zum Beispiel: der Bauer, der Getreide verkauft, tritt mit den Weltgetreideproduzenten auf dem Weltmarkt in »Verkehr«, aber er ist sich dessen nicht bewusst, ebensowenig, wie er sich bewusst ist, welche gesellschaftlichen Beziehungen aus dem Austausch entstehen. Das gesellschaftliche Bewusstsein widerspiegelt das gesellschaftliche Sein – darin besteht die Lehre von Marx. Die Widerspiegelung kann eine annähernd richtige Kopie des Widergespiegelten sein, aber es ist unsinnig, hier von Identität zu sprechen.[29]

… Jeder einzelne Produzent in der Weltwirtschaft ist sich bewusst, dass er die und die Änderung in die Produktionstechnik hineinbringt, jeder Warenbesitzer ist sich bewusst, dass er die und die Produkte gegen andere austauscht, doch diese Produzenten und Warenbesitzer sind sich nicht bewusst, dass sie dadurch das gesellschaftliche Sein verändern. Die Summe aller dieser Veränderungen in allen ihren Verästelungen hätten innerhalb der kapitalistischen Weltwirtschaft auch 70 Marxe nicht bewältigen können. Das Höchste, was geleistet werden konnte, war, dass die Gesetze dieser Veränderungen entdeckt wurden, dass die objektive Logik dieser Veränderungen und ihrer geschichtlichen Entwicklung in den Haupt- und Grundzügen aufgezeigt wurde – objektiv nicht in dem Sinne, dass eine Gesellschaft von bewussten Wesen, von Menschen, existieren und sich entwickeln könnte unabhängig von der Existenz bewusster Wesen (nur diese Albernheit unterstreicht aber Bogdanow gerade mit seiner »Theorie«), sondern in dem Sinne, dass das gesellschaftliche Sein unabhängig ist von dem gesellschaftlichen Bewusstsein der Menschen. Aus der Tatsache, dass ihr lebt und wirtschaftet, Kinder gebärt und Produkte erzeugt, sie austauscht, entsteht eine objektiv notwendige Kette von Ereignissen, eine Entwicklungskette, die von eurem gesellschaftlichen Bewusstsein unabhängig ist, die von diesem niemals restlos erfasst wird. Die höchste Aufgabe der Menschheit ist es, diese objektive Logik der wirtschaftlichen Evolution (der Evolution des gesellschaftlichen Seins) in den allgemeinen Grundzügen zu erfassen, um derselben ihr gesellschaftliches Bewusstsein und das der fortgeschrittenen Klassen aller kapitalistischen Länder so deutlich, so klar, so kritisch als möglich anzupassen.[30]

Inwieweit sind sich Menschen, die arbeiten gehen, des weltweiten Geflechts wirtschaftlicher Beziehungen bewusst, von dem ihre eigene Arbeit ein winziger Bestandteil ist? Man kann davon ausgehen, dass selbst der intelligenteste Arbeiter nur eine vage Vorstellung von der Beziehung hat, in der seine Arbeit oder sein Unternehmen zu den komplexen Abläufen der modernen transnationalen Produktion und des weltweiten Handels mit Waren und Dienstleistungen steht. Der einzelne Arbeiter ist auch nicht in der Lage, die Geheimnisse der internationalen kapitalistischen Finanzwelt, die Rolle globaler Hedge Fonds und die verborgenen, selbst für Experten auf diesem Gebiet oft rätselhaften Wege zu ergründen, auf denen täglich Dutzende Milliarden Dollar Vermögenswerte über internationale Grenzen hinweg bewegt werden. Die Gegebenheiten der modernen kapitalistischen Produktion, des Handels und der Finanzen sind so komplex, dass selbst Unternehmensleiter und führende Politiker auf die Analysen und Ratschläge großer Forschungseinrichtungen angewiesen sind, die in der Regel meist uneins über die Bedeutung der verfügbaren Daten sind. Aber das Problem des Klassenbewusstseins beschränkt sich nicht auf die offensichtliche Schwierigkeit, die komplexen Erscheinungen des modernen Wirtschaftslebens zu verstehen und zu meistern. Grundlegender ist, dass die genaue gesellschaftliche Beziehung zwischen einem einzelnen Arbeiter und seinem Arbeitgeber, ganz zu schweigen von der Beziehung zwischen der gesamten Arbeiterklasse und der Bourgeoisie, nicht auf der Ebene der sinnlichen Wahrnehmung und der unmittelbaren Erfahrung zu begreifen sind.

Selbst ein Arbeiter oder eine Arbeiterin, die überzeugt sind, dass sie ausgebeutet werden, können aufgrund ihrer eigenen bitteren Erfahrung die gesellschaftlichen und ökonomischen Mechanismen nicht wahrnehmen, auf denen diese Ausbeutung beruht. Der Begriff der Ausbeutung ist überdies nicht leicht zu verstehen. Er lässt sich nicht direkt aus dem instinktiven Gefühl ableiten, man werde schlecht bezahlt. Der Arbeiter, der sich um eine Stelle bewirbt, nimmt nicht wahr, dass er seine Arbeitskraft zum Kauf anbietet, oder dass diese Arbeitskraft die besondere Eigenschaft besitzt, einen höheren Wert zu erzeugen als der Preis (Lohn), den sie selbst gekostet hat. Der Arbeiter nimmt nicht wahr, dass der Profit aus diesem Unterschied zwischen den Kosten der Arbeitskraft und dem durch sie erzeugten Wert gewonnen wird.

Wenn ein Arbeiter eine Ware für eine bestimmte Summe Geld kauft, ist er sich auch nicht bewusst, dass es sich bei diesem Austausch dem Wesen nach nicht um eine Beziehung zwischen Dingen (ein Mantel oder eine andere Ware gegen eine bestimmte Summe Geld), sondern um eine Beziehung zwischen Menschen handelt. Er versteht den Charakter des Geldes nicht, wie es historisch als Ausdruck der Wertform entstanden ist und wie es in einer Gesellschaft, in der die Produktion und der Austausch von Waren verallgemeinert worden sind, die tiefer liegenden sozialen Beziehungen der kapitalistischen Gesellschaft verschleiert.

Das eben Gesagte könnte als allgemeine Einführung in die theoretischen und erkenntnistheoretischen Grundlagen von Marx’ wichtigstem Werk, dem »Kapital«, dienen. Im Schlussteil des ersten Kapitels des ersten Bands entwickelt Marx die Theorie des Warenfetischismus. Sie erklärt die Ursache der Mystifikation der sozialen Beziehungen in der kapitalistischen Gesellschaft, den Grund, weshalb in diesem Wirtschaftssystem die gesellschaftlichen Beziehungen zwischen den Menschen notwendigerweise als Beziehungen zwischen Dingen erscheinen. Auf der Grundlage sinnlicher Wahrnehmung und unmittelbarer Erfahrung ist es für einen Arbeiter nicht ersichtlich, und kann es auch nicht sein, dass der Wert jeder Ware der kristallisierte Ausdruck der Summe abstrakter Arbeit ist, die in ihrer Produktion verausgabt wurde. Die Entdeckung des Wesens der Wertform war ein historischer Meilenstein des wissenschaftlichen Denkens. Ohne diese Entdeckung wäre es unmöglich gewesen, die objektiven sozialen und ökonomischen Grundlagen des Klassenkampfs und deren revolutionäre Konsequenzen zu verstehen.

Ein Arbeiter mag die sozialen Auswirkungen des Systems, in dem er lebt, hassen, er ist aber nicht in der Lage, aufgrund seiner unmittelbaren Erfahrung die Ursprünge, die internen Widersprüche und die historische Begrenztheit dieses Systems zu begreifen. Die Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise, das Ausbeutungsverhältnis zwischen Kapital und Lohnarbeit, die Unvermeidlichkeit des Klassenkampfs und dessen revolutionärer Konsequenzen wurden erst dank der wissenschaftlichen Arbeit erkennbar, mit der Marx’ Name für immer verbunden sein wird. Diese wissenschaftlichen Erkenntnisse und das Analyseverfahren, mit dem sie erzielt wurden, müssen in die Arbeiterklasse hineingetragen werden. Das ist die Aufgabe der revolutionären Partei.

Wenn man Lenin als elitär bezeichnet, dann gilt dasselbe für alle, die unter dem Banner der wissenschaftlichen Wahrheit gegen ungezählte Formen des Obskurantismus gekämpft haben. Schrieb nicht Thomas Jefferson, er habe jeder Form der Ignoranz und Tyrannei über den Geist der Menschen ewige Feindschaft geschworen? In Wirklichkeit trifft der Vorwurf des Elitismus besser auf jene zu, die die politische und kulturelle Aufklärung der Arbeiterklasse ablehnen und sie dadurch auf Gedeih und Verderb ihren Ausbeutern ausliefern.

Befassen wir uns zuletzt mit dem Vorwurf, Lenins Haltung sei »undemokratisch« oder sogar »totalitär«, weil er gegen die Bewusstseinsformen der Arbeiterklasse kämpfte, die sich spontan in der kapitalistischen Gesellschaft herausbilden, und weil er die vulgäre öffentliche Meinung verabscheute, die sich unter dem Propagandahagel der Massenmedien herausbildet. Diese Anschuldigung beruht auf einer sozialen Erbitterung, die tief in Klasseninteressen und gesellschaftlichen Vorurteilen verankert ist. Sie ist eine Reaktion auf die Bemühungen der sozialistischen Bewegung, eine andere Form der öffentlichen Meinung zu erzeugen, die sich von der bürgerlichen unterscheidet und die wirklichen politischen und historischen Interessen der Arbeiterklasse zum Ausdruck bringt.

Kein anderes Vorhaben ist so zutiefst demokratisch wie das Bemühen der marxistischen Bewegung, das Klassenbewusstsein der Arbeiterklasse zu entwickeln. Lenin hat sein wissenschaftlich begründetes Programm der Arbeiterklasse nicht »aufgezwungen«. Vielmehr widmete er vor 1917 über ein Vierteljahrhundert lang seine gesamte politische Arbeit der Aufgabe, das gesellschaftliche Denken der fortgeschrittensten Teile der russischen Arbeiterklasse auf ein wissenschaftliches Niveau zu heben. Damit hatten er und die bolschewistische Partei Erfolg. Lenin war so, wie John Reed schrieb, »ein Volksführer eigener Art – Führer nur dank der Überlegenheit seines Intellekts; … mit der Fähigkeit, tiefe Gedanken in einfachste Worte zu kleiden, die Analyse konkreter Situationen zu geben, und verbunden mit großem Scharfsinn eine außerordentliche Kühnheit des Denkens.«[31]

Lenin war nicht der Erste, der die Notwendigkeit betonte, sozialistisches Bewusstsein in die Arbeiterklasse zu tragen. Es steht außer Zweifel, dass sich seine Streitschrift gegen die Ökonomisten und ihre Verherrlichung des »spontanen Elements« auf eine gründliche Lektüre von Marx’ »Kapital« stützte; auf ein Verständnis, wie der Kapitalismus, ein System von Produktionsverhältnissen zwischen Menschen, die wirklichen, gesellschaftlich bedingten Ausbeutungsmechanismen verschleiert. Lenins Originalität als politischer Denker bestand nicht darin, dass er die Notwendigkeit betonte, Bewusstsein in die Arbeiterklasse zu tragen – diese Auffassung wurde von Marxisten in ganz Europa weitgehend geteilt –, sondern in der Konsequenz und dem Nachdruck, mit denen er dieses Prinzip anwandte und daraus weitreichende politische und organisatorische Schlussfolgerungen zog.

»Politische Enthüllungen« und Klassenbewusstsein

Wie also sollte das politische Bewusstsein der Arbeiterklasse entwickelt werden? Lenins Antwort auf diese Frage verlangt ein aufmerksames Studium. Den Ökonomisten galt die Agitation für »Brot und Butter«-Fragen und zu unmittelbaren Problemen im Betrieb als wichtigstes Mittel zur Entwicklung des Klassenbewusstseins. Die Vorstellung, auf einer derart beschränkten ökonomischen Grundlage könne wirkliches Klassenbewusstsein geschaffen werden, wies Lenin ausdrücklich zurück. Die Agitation zu unmittelbaren wirtschaftlichen Fragen genüge lediglich zur Entwicklung gewerkschaftlichen Bewusstseins, d.h. des bürgerlichen Bewusstseins der Arbeiterklasse. Die Entwicklung von revolutionärem Klassenbewusstsein erfordere dagegen, so Lenin, dass Sozialisten ihre Agitation auf »politische Enthüllungen« konzentrierten.

Anders als durch diese Enthüllungen kann das politische Bewusstsein und die revolutionäre Aktivität der Massen nicht herangebildet werden. Darum ist diese Art Tätigkeit eine der wichtigsten Funktionen der gesamten internationalen Sozialdemokratie, denn auch die politische Freiheit beseitigt keineswegs die Sphäre, auf die diese Enthüllungen gerichtet sind, sondern verschiebt sie nur.[32]

In Worten, die in unserer heutigen Zeit aufgrund des enormen Niedergangs des sozialistischen Bewusstseins noch an Bedeutung gewonnen haben, schrieb Lenin:

Das Bewusstsein der Arbeiterklasse kann kein wahrhaft politisches sein, wenn die Arbeiter nicht gelernt haben, auf alle und jegliche Fälle von Willkür und Unterdrückung, von Gewalt und Missbrauch zu reagieren, welche Klassen diese Fälle auch betreffen mögen, und eben vom sozialdemokratischen [d.h. revolutionären] und nicht von irgendeinem anderen Standpunkt aus zu reagieren. Das Bewusstsein der Arbeitermassen kann kein wahrhaftes Klassenbewusstsein sein, wenn die Arbeiter es nicht an konkreten und dazu unbedingt an brennenden (aktuellen) politischen Tatsachen und Ereignissen lernen, jede andere Klasse der Gesellschaft in allen Erscheinungsformen des geistigen, moralischen und politischen Lebens dieser Klassen zu beobachten; wenn sie es nicht lernen, die materialistische Analyse und materialistische Beurteilung aller Seiten der Tätigkeit und des Lebens aller Klassen, Schichten und Gruppen der Bevölkerung in der Praxis anzuwenden. Wer die Aufmerksamkeit, die Beobachtungsgabe und das Bewusstsein der Arbeiterklasse ausschließlich oder auch nur vorwiegend auf sie selbst lenkt, der ist kein Sozialdemokrat, denn die Selbsterkenntnis der Arbeiterklasse ist untrennbar verbunden mit der absoluten Klarheit nicht nur der theoretischen … sogar richtiger gesagt: nicht so sehr der theoretischen als vielmehr der durch die Erfahrung des politischen Lebens erarbeiteten Vorstellungen von den Wechselbeziehungen aller Klassen der modernen Gesellschaft. Darum eben ist die Predigt unserer Ökonomisten, dass der ökonomische Kampf das weitest anwendbare Mittel zur Einbeziehung der Massen in die politische Bewegung sei, so überaus schädlich und ihrer praktischen Bedeutung nach so überaus reaktionär.[33]

Wie Lenin betonte, trugen die Revisionisten mit ihrem Beharren darauf, dass die Aufmerksamkeit und Unterstützung von Arbeitern am schnellsten und einfachsten durch die Konzentration auf wirtschaftliche und »betriebliche« Fragen zu gewinnen sei, dass die Hauptaktivität der Sozialisten sich auf den tagtäglichen ökonomischen Kampf der Arbeiter konzentrieren solle, nichts Bedeutendes zur Entwicklung des sozialistischen Bewusstseins der spontanen Arbeiterbewegung bei. In Wirklichkeit betätigten sie sich nicht als revolutionäre Sozialisten, sondern als bloße Gewerkschaftler. Sozialisten hatten nicht die Aufgabe, mit den Arbeitern über das zu sprechen, was sie bereits wussten – über tagtägliche Betriebsfragen –, sondern über das, was sie aus ihrer unmittelbaren ökonomischen Erfahrung nicht gewinnen konnten: über politisches Wissen.

»Dieses Wissen könnt ihr, Intellektuelle, erwerben«, lässt Lenin einen Arbeiter sagen, »und ihr seid verpflichtet, es uns in hundert- und tausendfach größerem Ausmaß zu übermitteln, als ihr es bis jetzt getan habt, und zwar nicht nur in der Form von Abhandlungen, Broschüren und Artikeln (die oft – entschuldigt unsere Offenheit! – etwas langweilig sind), sondern unbedingt in der Form von lebendigen Enthüllungen dessen, was gerade jetzt unsere Regierung und unsere herrschenden Klassen auf allen Lebensgebieten tun.«[34]

Lenin riet nicht zur Gleichgültigkeit oder Enthaltsamkeit gegenüber den ökonomischen Kämpfen der Arbeiterklasse. Aber er widersetzte sich der schädlichen Fixierung der Sozialisten auf solche Kämpfe, ihrer Neigung, die Agitation und die praktische Aktivität auf ökonomische Fragen und Gewerkschaftskämpfe zu beschränken, und ihrer Vernachlässigung der entscheidenden politischen Fragen, vor denen die Arbeiterklasse als revolutionäre gesellschaftliche Kraft stand. Wenn Sozialisten in gewerkschaftliche Kämpfe eingriffen, schrieb Lenin, hätten sie die Verantwortung, »die Funken politischen Bewusstseins, die der ökonomische Kampf in den Arbeitern entstehen lässt, auszunutzen, um die Arbeiter auf das Niveau des sozialdemokratischen politischen Bewusstseins zu heben«.[35]

Ich habe der Besprechung von »Was tun?« so viel Zeit eingeräumt, weil es dabei nicht nur um ein über hundert Jahre altes Buch geht, sondern um die theoretische Konzeption der Entwicklung sozialistischen Bewusstseins in der Arbeiterklasse, auf der die »World Socialist Web Site« beruht.


[1]

W.I. Lenin, »Der ›linke Radikalismus‹, die Kinderkrankheit im Kommunismus«, in: Werke, Bd. 31, Berlin 1964, S. 10.

[2]

Max Eastman, The Young Trotsky, London 1980, S. 53f. (aus dem Englischen).

[3]

Zu Plechanows wichtigsten Schriften über marxistische Philosophie zählen »Zur Frage der Entwicklung der monistischen Geschichtsauffassung«, »Beiträge zur Geschichte des Materialismus«, »Materialismus oder Kantianismus?« und »Zu Hegels sechzigstem Todestag«.

[4]

G.W. Plechanow, Sozialismus und politischer Kampf, Frankfurt/Gelsenkirchen 1980, S. 70ff.

[5]

W.I. Lenin, »Was sind die ›Volksfreunde‹ und wie kämpfen sie gegen die Sozialdemokraten?«, in: Werke, Bd. 1, Berlin 1984, S. 299.

[6]

Ebd., S. 304.

[7]

W.I. Lenin, »Die dringendsten Aufgaben unserer Bewegung«, in: Werke, Bd. 4, Berlin 1960, S. 367.

[8]

Zitiert in: W.I. Lenin, »Protest russischer Sozialdemokraten« [1899], in: Werke, Bd. 4, S. 165.

[9]

Ebd., S. 166.

[10]

W.I. Lenin, »Die dringendsten Aufgaben unserer Bewegung«, in: Werke, Bd. 4, S. 368.

[11]

Ebd., S. 369.

[12]

W.I. Lenin, »Was tun?«, in: Werke, Bd. 5, Berlin 1959, S. 364.

[13]

Ebd., S. 379.

[14]

Ebd.

[15]

Ebd., S. 380f.

[16]

Ebd., S. 381.

[17]

Ebd., S. 385f.

[18]

Ebd., S. 394f.

[19]

Ebd., S. 395f.

[20]

Ein Jahr nach diesem Vortrag, 2006, veröffentlichte der freie Wissenschaftler Lars Lih eine Studie und Neuübersetzung von »Was tun?«, die zusammen 867 Seiten umfassen. Sein Buch trägt den Titel »Lenin neu entdeckt« (Lars Lih, Lenin Rediscovered, Boston 2006). Er bezeichnet die Absätze in »Was tun?«, in denen Lenin darauf beharrt, dass sozialistisches Bewusstsein von außen in die Arbeiterklasse hineingetragen werden müsse, als »skandalös«. Sie hätten in dem Buch nichts zu suchen und seien von Lenin eher zufällig eingefügt worden. Der Absatz, in dem es heißt, sozialistisches Bewusstsein müsse in die Arbeiterklasse hineingebracht werden, wurde laut Lih »in letzter Minute eingefügt, angeregt von einigen Bemerkungen, die Kautsky veröffentlichte, nachdem Lenin die Arbeit an ›Was tun?‹ bereits ernsthaft begonnen hatte«. (S. 655) Lih behauptet, Lenin habe den Absatz nur eingefügt, »weil er in seinem Entwurf eine Stelle brauchte, an der er sich auf Kautskys Autorität berufen konnte«. (S. 637) In Erwartung des Einwands, der Wortlaut von »Was tun?« unterstütze diese exzentrische These nicht, verkündet Lih: »Man kann Lenin nicht verstehen, indem man ihn nur liest.« (S. 21) Es ist bemerkenswert, dass Lih diesen riesigen Wälzer nur verfasst hat, um zu beweisen, dass die wichtigsten Absätze von »Was tun?« in Lenins Buch nichts zu suchen haben!

[21]

Robin Blick, The Seeds of Evil: Lenin and the Origins of Bolshevik Elitism, London 1995, S. 17 (aus dem Englischen).

[22]

Leszek Kolakowski, Die Hauptströmungen des Marxismus, Bd. 2, München 1978, S. 436.

[23]

Ebd., S. 437.

[24]

Karl Marx/Friedrich Engels, »Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik«, in: MEW, Bd. 2, S. 38.

[25]

Neil Harding, Leninism, Durham NC 1996, S. 34 (aus dem Englischen).

[26]

Ebd., S. 173 (aus dem Englischen).

[27]

Ebd., S. 174 (aus dem Englischen).

[28]

Ebd., S. 172 (aus dem Englischen).

[29]

W.I. Lenin, »Materialismus und Empiriokritizismus«, in: Werke, Bd. 14, S. 326.

[30]

Ebd., S. 328f.

[31]

John Reed, 10 Tage, die die Welt erschütterten, Essen 2011, S. 115.

[32]

W.I. Lenin, »Was tun?«, in: Werke, Bd. 5, Berlin 1959, S. 425.

[33]

Ebd., S. 426.

[34]

Ebd., S. 430.

[35]

Ebd., S. 429.