Koch und Scharping

Neue Angriffe auf Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger

Der hessische Ministerpräsident Roland Koch (CDU) hat mit seinen Forderungen zum Abbau der Sozialhilfe eine breite Kampagne gegen die verbliebenen Überreste des deutschen Sozialstaats losgetreten. Inzwischen ist zwischen den Politikern aller Bundestagsparteien ein regelrechter Wettbewerb um die effektivsten Entwürfe für die Streichung der Sozialhilfe und der Arbeitslosenunterstützung entbrannt.

Koch hatte Anfang August den US-Bundesstaat Wisconsin besucht und sich von republikanischen Politikern über das Programm "Wisconsin works" (Wisconsin arbeitet) informieren lassen. Zurück in Deutschland gab er sich begeistert. Es sei so einfach: Sozialhilfeempfängern, die einen angebotenen Job ablehnen, streiche man einfach die finanzielle Unterstützung. Wer nur seine Rechte und nicht seine Pflichten kenne, müsse sich "auf ein sehr bescheidenes Leben bis hin zur Wohnunterkunft einrichten". Auf diese Weise, kündigte Koch an, wolle er auch die Zahl der Sozialhilfeempfänger in Hessen halbieren.

Die Forderungen, die Koch öffentlichkeitswirksam aufstellt, sind nicht neu. Er selbst war schon vor zwei Jahren einmal zu Besuch in Wisconsin, und erst vor wenigen Monaten war der niedersächsische CDU-Vorsitzende Christian Wulff dort. Dieser berichtete dem CDU-Präsidium in einem Papier voller Lob von dem dortigen Sozialhilfesystem. Das Modell könne als "Orientierungsmodell dienen, weil uns viele Instrumente nicht fremd sind".

Wenn Koch diese Debatte zum jetzigen Zeitpunkt neu entfacht, hängt dies wohl eher mit den sinkenden Wirtschaftsdaten zusammen. Er erwartet, dass seine Forderungen angesichts der allgemeinen Ratlosigkeit auf Resonanz stoßen, und hofft, dass er SPD und Grüne vor sich her treiben kann, wie 1998/99 mit seiner ausländerfeindlichen Kampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft.

In dieser Hinsicht hat er sich nicht getäuscht. Wie bei der Fabel vom Wettlauf zwischen Hase und Igel rufen SPD, Grüne und Gewerkschaften: "Ich bin schon da." Was Koch fordere, sei ein "alter Hut" (der niedersächsische Ministerpräsident Siegmar Gabriel, SPD) und werde von ihnen längst praktiziert.

Laut Angaben der Arbeits- und Sozialämter sind von den rund 2,7 Millionen Sozialhilfeempfängern nur etwa 700.000 bis 800.000 erwerbsfähig. Von diesen arbeiten 400.000. Sie säubern Parks, mähen öffentliche Rasenflächen, fegen Straßen usw. Die Instrumente, arbeitsfähige Bedürftige zur Ausübung gemeinnütziger Arbeiten zu zwingen, sind bereits vorhanden und werden in großem Umfang angewandt.

So berichtet der Sozialdezernent des hessischen Main-Kinzig-Kreises, Erich Pipa (SPD), dass die dortigen Sozialämter bei der ersten Ablehnung eines Jobangebots die Sozialhilfe um 20 Prozent und beim zweiten Mal um die Hälfte kürzen. Beim dritten Mal fällt sie ganz weg. Das Problem sei, dass der Großteil der Bedürftigen gar nicht erwerbsfähig sei: Kinder und Jugendliche, Alte und Kranke, alleinerziehende Mütter.

Die Reaktionen auf Kochs Vorstoß gehen allerdings weiter. Der Arbeitszwangs soll von den Sozialhilfeempfängern auch auf die wesentlich höhere Zahl von Arbeitslosen ausgeweitet werden. Nur zwei Wochen nach Kochs Vorstoß forderte Bundesverteidigungsminister Rudolf Scharping (SPD) in seiner Funktion als Vorsitzender der SPD-Grundwertekommission, dass jugendlichen Sozialhilfeempfängern und Arbeitslosen, die gemeinnützige Arbeit ablehnen, die finanzielle Unterstützung vollständig gestrichen wird.

Daraufhin entwickelte sich eine regelrechte Hetze gegen Arbeitslose. Michael Rogowski, Vorsitzender des Bundesverbands der deutschen Industrie, forderte im Deutschlandfunk härtere Maßnahmen gegen "Arbeitsunwillige". Der Industrie-Chef verlangte, dass in Zukunft Arbeitslose ihren Arbeitswillen beweisen müssen, um Unterstützung zu erhalten. Bisher musste das Arbeitsamt dem Arbeitslosen eine Verweigerungshaltung nachweisen, um die Unterstützung zu kürzen oder zu verweigern.

Rogowski steht damit nicht allein. "Das eigentliche Problem ist doch nicht: Wo ist Arbeit?", erklärte SPD-Generalsekretär Franz Müntefering dem Spiegel, "sondern: Wer tut die Arbeit, die wir haben?" Der Vize-Direktor eines Arbeitsamtes wird in der gleichen Ausgabe mit der Klage zitiert: "Es gibt genügend Stellen für gering Qualifizierte. Sie können nur nicht besetzt werden, weil sich kein Arbeitnehmer findet".

Der Spiegel listet Vorschläge auf, wie dem abzuhelfen sei: Mehr Druck auf Dauerarbeitslose, Aufweichen des Kündigungsschutzes und Kombi-Einkommen, d. h. öffentlich bezuschusste Minimallöhne. Auf diese Weise, so das Magazin, könne ein "neuer Niedriglohnsektor" geschaffen werden.

Am vergangenen Wochenende verlangte dann der Grünen-Vorsitzende Fritz Kuhn "Arbeitsmarktreformen" noch in dieser Legislaturperiode. Er plädierte vor allem für die Zulassung von Kombi-Löhnen. Mit kleinen finanziellen Anreizen sollen Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger in Billigjobs gedrängt werden. Sozialhilfeempfänger, die eine schlecht bezahlte Arbeit annehmen, sollen die Hälfte ihres Zuverdienstes behalten dürfen und nicht wie bisher bis auf einen geringen Freibetrag auf die Sozialhilfe angerechnet bekommen. Arbeitslose, die einen Niedriglohnjob annehmen, sollen einen Zuschuss zu den Sozialabgaben erhalten.

Auch diese Vorschläge laufen auf die Einrichtung eines Niedriglohnsektors hinaus. In diesem sollen Arbeitslose dann als Parkwächter, Hundeausführer, Fahrradkuriere, Schuhputzer, Wagenwäscher usw. den Besserverdienenden dienen. In Berlin sieht man bereits heute schon Rikschafahrer auf den Straßen - wie in Bombay.

Siehe auch:
In Milwaukee wächst jedes dritte Kind in einer armen Familie auf
(30. August 2001)
Regierung Schröder gerät unter Druck
( 17. August 2001)
Kanzler Schröder greift Arbeitslose an
( 18. April 2001)
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