Bush drängt auf rasche Entwicklung der US-Raketenabwehr

In den vergangenen Wochen hat die amerikanische Regierung ihre Bemühungen verstärkt, noch vor dem Ende der Amtszeit Bushs im Jahre 2004 ein Raketenabwehrsystems zu bauen. Im Zusammenhang mit der allgemeinen Neuorientierung in der amerikanischen Militär- und Außenpolitik, die sich durch zunehmende Aggressivität und Unilateralismus auszeichnet, hat es die Regierung eilig, sich aus den existierenden Abkommen über Rüstungskontrolle und -begrenzung zurückzuziehen.

Sogar von Teilen des US-Militärs und des außenpolitischen Establishments wird Bushs Eile in Bezug auf den Bau der Raketenabwehr als leichtsinnig und gefährlich angesehen. Aber den Bemühungen, das System der Atomwaffenkontrolle aus den Zeiten des Kalten Krieges zu zerstören, liegt eine objektive Logik zugrunde. Trotz des Geredes von einer rein "defensiven" Maßnahme steht hinter dem Bau des nationalen Raketenabwehrsystems die Perspektive, die derzeitige militärische Überlegenheit der Vereinigten Staaten auszunutzen und zu verstärken, um den Bestrebungen des amerikanischen Kapitalismus nach einer "Pax Americana" Vorschub zu leisten.

Am 12. Juli umriss der stellvertretende Verteidigungsminister Paul Wolfowitz vor dem Militärausschuss des Senats die Pläne des Pentagons für den schnellen Aufbau einer Raketenabwehr-Testanlage in Alaska, die letztendlich in ein Kontroll- und Befehlszentrum eines elementaren nationalen Raketenabwehrsystems (NMD) umgewandelt werden soll. Das Zentrum in Alaska wird schließlich aus einer Raketenbasis mit fünf bis zehn Abfanganlagen bestehen, deren erklärter Zweck der Abschuss von Raketen ist, die ansonsten die Vereinigten Staaten mit Atombomben oder biologischen Kampfstoffe treffen würden. Diese Pläne, für deren Umsetzung die ersten Bauarbeiten in Alaska (Rodungen, Bodenbegradigungen) bereits im August dieses Jahres beginnen sollen, würden schnell mit dem ABM-Abrüstungsvertrag von 1972 "zusammenprallen", teilte Wolfowitz dem Ausschuss mit.

Am 14. Juli, zwei Tage nach Wolfowitzs Anhörung vor dem Senatsausschuss, führte die Bush-Regierung ihren ersten Raketenabwehrtest offensichtlich erfolgreich durch, obwohl Regierungsvertreter zugaben, dass es sich um einen elementaren Test handelte. Unterstützer der Raketenabwehr gaben sich vor Bekanntwerden der Ergebnisse große Mühe, die Bedeutung des Tests herunterzuspielen, um ihre Pläne für den Fall eines Versagens nicht zu gefährden. (Versuche, die in der Zeit der Clinton-Regierung durchgeführt worden waren, scheiterten oder erzielten höchstens Teilerfolge.) Obwohl der jüngste Test keinesfalls die technische Machbarkeit des NMD beweist, werden seine Ergebnisse von der Regierung Bush mit Sicherheit genutzt werden, um die schnelle Umsetzung des Systems voranzutreiben.

Kündigung des ABM-Vertrags

Die Debatten um diese Pläne konzentrieren sich auf den ABM-Vertrag, der zwischen den Vereinigten Staaten und der damaligen Sowjetunion ausgehandelt worden war. Er verbietet den Bau von umfassenden Raketenabwehrsystemen. Wie in allen anderen internationalen Verträgen ersetzte Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die UdSSR als ABM-Vertragspartner. Obwohl Sprecher der Bush-Regierung behaupten, dass die US-Regierung ein den ABM-Vertrag ersetzendes Abkommen mit Russland erreichen wolle, läuft ihre derzeitige Politik auf eine faktische Abschaffung des Vertrages hinaus, der eine Beschränkung für die amerikanische Militärpolitik darstellte.

Die Straffung der Zeitpläne für Tests und Konstruktion, die von Wolfowitz vorgestellt und vom Pentagon entwickelt wurden - unter anderem sind 17 Tests im nächsten Jahr vorgesehen, im Gegensatz zu insgesamt drei während der gesamten Amtszeit Clintons - ist ein durchsichtiger Versuch, den ABM-Vertrag vor den nächsten Präsidentschaftswahlen zu annullieren.

Verteidigungsminister Donald Rumsfeld kommentierte Wolfowitz‘ Anhörung vor dem Senatsausschuss folgendermaßen: "Wir müssen einen Weg finden, um über diesen Vertrag hinauszugehen. Wenn [...] wir es nicht schaffen, etwas Neues auszuhandeln, dann gibt es eine klare Bestimmung, dass wir innerhalb von sechs Monaten aussteigen können, und das würden wir machen." Wolfowitz bemerkte: "Keiner behauptet, [...] dass das, was wir tun, im Einklang mit dem Vertrag steht. Wir müssen ihn aufkündigen oder ersetzen." Dies, so fuhr er fort, geschehe wahrscheinlich "eher in den nächsten Monaten als in den nächsten Jahren".

Wolfowitz‘ Aussagen und die nachfolgenden Stellungnahmen von Rumsfeld und Außenminister Colin Powell sind insofern bedeutend, als sie bis jetzt am deutlichsten und nachdrücklichsten darauf verwiesen haben, dass die Bush-Regierung entschlossen ist, die Raketenabwehr trotz internationaler Opposition von Seiten Russlands, Chinas und Europas durchzusetzen.

Die russische Regierung reagierte zunächst auf Wolfowitz‘ Aussagen, indem sie Amerika beschuldigte, mit dem System einen Weg einzuschlagen, der, nach den Worten des Präsidenten Wladimir Putin, "eine neue mächtige Spirale des Wettrüstens in Gang setzt, vor allem im Weltraum". Putins Sicherheitsberater Igor Sergejew erklärte, die jüngste Beratungsrunde zwischen Bush und ausländischen Regierungen sei bloßer "Rauch", da die Vereinigten Staaten deutlich entschlossen seien, unabhängig von jeglichen Einwänden ihre Pläne durchzuführen. "Unglücklicherweise," sagte er, "bewahrheiten sich unsere Voraussagen - kein Grund oder Argument, das wir während der Beratungen mit der amerikanischen Seite vorbrachten, konnte dem amerikanische Streben nach Hegemonie im Bereich der strategischen Waffen Einhalt gebieten."

Während Wolfowitz andeutete, dass unklar sei, zu welchem Zeitpunkt der Errichtung der ABM-Vertrag gebrochen würde, haben einige russische Regierungsvertreter zu verstehen gegeben, dass sie den Beginn der Bauarbeiten in Alaska als Signal für den amerikanischen Rücktritt vom Vertrag ansehen werden. Dies werde dazu führen, dass Russland seinerseits von den bisherigen Rüstungskontrollabkommen zurücktrete.

Später schlug der russische Außenminister Igor Iwanow einen versöhnlicheren Ton an und verwies auf die Mehrdeutigkeit in den Stellungnahmen amerikanischer Regierungsvertreter hinsichtlich der Frage, ob die Vereinigten Staaten definitiv vom ABM-Vertrag zurücktreten werden. "Wir setzen immer noch auf geduldige Beratungen und werden sie führen," sagte er.

Nichtsdestotrotz hat die Bush-Regierung deutlich den Zorn Russlands und Chinas sowie eines großen Teils Europas provoziert. Besondere Sorge ruft die Geringschätzung der amerikanischen Regierung gegenüber dem ABM-Vertrag hervor; dies wird als Zeichen verstanden, dass die Vereinigten Staaten sich nicht länger an internationale Rüstungskontrollabkommen gebunden fühlen. Sogar Großbritannien, das sich von allen Großmächten am stärksten an den Vereinigten Staaten orientiert, schreckt davor zurück, die Kündigung des Vertrags zu unterstützen.

Wolfowitz‘ Aussagen trafen bei Senatoren der Demokratischen Partei auf Opposition, vor allem beim derzeitigen Vorsitzenden des Militärausschusses des Senats, Carl Levin. Viele Demokraten sind besorgt über Bushs Schritte zur Abschaffung des ABM-Vertrags und sehen diese als ein rücksichtsloses und leichtsinniges Vorgehen an, das den Interessen der Vereinigten Staaten schaden wird, indem es die internationale Stabilität erschüttert und ein neues Wettrüsten provoziert. Levin und andere Demokraten drohen damit, alle Militärausgaben zu blockieren, die zur Abschaffung des ABM-Vertrags führen könnten. Bushs vorgeschlagenes Verteidigungsbudget für das Jahr 2002 sieht 8,3 Milliarden Dollar für die Raketenabwehr vor und bedeutet eine Erhöhung der derzeitigen Ausgaben um 57 Prozent.

Obwohl die Übernahme der Senatsmehrheit durch die Demokratische Partei im Frühjahr dieses Jahres Bushs Pläne bis zu einem gewissen Grad durchkreuzt hat und sich hieraus auch erklärt, warum die Regierung nun eine derart aggressive Kampagne für die Raketenabwehr begonnen hat, ist die Kritik der Demokraten am NMD beschränkt. Unter der Clinton-Regierung wurden schließlich die ersten Schritte zur Errichtung des NMD unternommen, und obwohl die Demokraten Bedenken hinsichtlich der Abschaffung des ABM-Vertrages äußern, haben sie doch umsichtig betont, dass sie nicht gegen das NMD als solches sind.

Im vergangenen Jahr erklärte der demokratische Kandidat für den Posten des Vizepräsidenten, Senator Joseph Lieberman, offen seine Unterstützung für den Kurs der jetzigen Regierung. Er sagte: "Ich werde nicht davor zurückscheuen, eine Autorisierung oder Bewilligung zu unterstützen, die eventuell einen Rücktritt vom ABM-Vertrag notwendig macht, wenn ich davon überzeugt bin, dass dies für [...] die nationale Sicherheit notwendig ist und die Regierung jeden möglichen Versuch unternommen hat [...] mit den Russen zu verhandeln."

Aggressive Militärpolitik

Der grundlegende Antrieb für die Beschleunigung der Tests für das NMD ergibt sich aus zwei Überlegungen. Einerseits würde ein funktionierendes Raketenabwehrsystem die Einflussmöglichkeiten der Vereinigten Staaten vergrößern und dazu führen, dass sie weltweit ihre Interessen besser durchzusetzen könnten, indem sie militärisch eingreifen oder ein solches Eingreifen androhen. Der Leiter der Raketenabwehr-Abteilung, Lt. General Ronald Kadish, sagte in Hinblick auf die Testanlage in Alaska: "Wir haben das Programm so entworfen, dass wir im Notfall, und falls es angeordnet wird, gegen eine wachsende Bedrohung schnell Testraketen einsetzen könnten."

Das Argument von NMD-Unterstützern, bei dem System handle es sich um eine rein defensive Maßnahme, die die amerikanische Bevölkerung vor den Atomwaffen der sogenannten Schurkenstaaten (d.h. Nordkorea oder Irak) schützen solle, ist ein Vorwand, um ein System zu installieren, dass mehr amerikanische Aggressionen im Ausland erlauben wird. Die Fähigkeit, Vergeltungsschläge von kleinen und großen Staaten (wie China) gleichermaßen zu verhindern, würde es der amerikanischen Regierung erlauben, freier in Regionen wie dem Nahen Osten, Asien oder dem Balkan zu intervenieren. Um ein Beispiel anzuführen: Selbst ein elementares NMD, wie das Bauvorhaben in Alaska, hätte enorme Konsequenzen für die amerikanischen Beziehungen zu China, das nur über einen begrenzten Vorrat an Raketen verfügt. Das amerikanische Militärs hätte einen größeren Freiraum, um in solchen Regionen wie Taiwan zu intervenieren.

Die weitere Entwicklung der Raketenabwehr - Bush stellt sich ein umfassendes "vielschichtiges" System aus Land-, Luft- und Seebasen vor - könnte Russland und seine Interessen im Kaukasus und der Region um das Kaspische Meer direkt bedrohen. Die Raketenabwehr wäre auch eine Bedrohung für das zunehmend unabhängige Europa, das sich inzwischen in mehreren Fragen der amerikanischen Außenpolitik entgegenstellt.

Im Wesentlichen wäre ein funktionierendes Raketenabwehrsystem ein wichtiger Bestandteil einer aggressiven Militärpolitik. Dies ist der Hauptgrund, warum es von ausländischen Mächten kritisiert wird, vor allem von China und Russland.

Doch der aggressive Charakter des NMD liegt nicht nur in seinen unmittelbaren militärischen Folgen begründet, sondern grundlegender in der Rolle, die die Pläne des Pentagons bei einer allgemeinen Neuorientierung der amerikanischen Außenpolitik in Richtung von Unilateralismus und Militarismus spielen. Mit dem Ende des Kalten Krieges und dem Zusammenbruch der Sowjetunion betrachtet ein beachtlicher Teil des amerikanischen Establishments alle Beschränkungen der US-Militärmacht als unnötig und unerträglich - diese Schicht wird am bewusstesten von der Republikanischen Partei vertreten.

Zu den unerträglichen Beschränkungen zählt an erster Stelle der ABM-Vertrag, der zwischen den zwei Gegnern im Kalten Krieg ausgehandelt wurde. Warum, so fragen sich diese Leute, sollen die Vereinigten Staaten sich militärisch selbst beschränken, wenn der Hauptfaktor, der diese Beschränkungen erzwang - die UdSSR - nicht mehr existiert? Indem sie das NMD rasch umsetzt, versucht die Bush-Regierung diese Neuorientierung der amerikanischen Strategie zu einer vollendeten Tatsache zu machen.

Diese zugrundeliegenden strategischen und politischen Interessen erklären, warum die Bush-Regierung relativ unbesorgt ist über die enormen technologischen Probleme, die mit der Raketenabwehr verbunden sind. Für die Republikanische Partei ist es weniger einer Frage der funktionierenden Verteidigung - obwohl dies seit langem ein Traum der amerikanischen Militärplaner ist und sicherlich begrüßt würde -, sondern vielmehr eine Frage der Veränderung der grundlegenden strategischen Orientierung in eine extrem aggressive und unilaterale Richtung.

Daher hat die Regierung zu verstehen gegeben, dass die Ergebnisse der kommenden Tests für die Errichtung des Systems weitgehend irrelevant sind. Sie vertritt die Konzeption, dass im Laufe der Errichtung selbst die Tests erfolgen und die Technologie entwickelt wird.

Neue Atomwaffen

Diese neue strategische Orientierung zeigt sich nicht nur in der Haltung der Regierung zum NMD und dem ABM-Vertrag, sondern auch in ihrer Position zum Abkommen über den Stopp von Atomwaffentests (CTBT), das 1999 von Clinton unterzeichnet aber vom damals republikanisch kontrollierten Senat abgelehnt worden war. Das Abkommen verbietet in Zukunft das Testen von Nuklearwaffen und wird von Europa stark unterstützt. Bush versucht, den gesamten Vertrag zu zerreißen, der gemäß den Verfahrensregeln für Verträge immer noch dem Senat vorliegt und von der Führung der Demokraten irgendwann wieder hervorgezogen werden könnte. Die amerikanische Regierung hat auch versucht, eine Formulierung zu ändern, die in der Vergangenheit routinemäßig in internationale Dokumente aufgenommen wurde und die Ratifizierung des CTBT durch alle Unterzeichner empfiehlt.

Wie bei der Ablehnung des Vertrages durch den Senat 1999 basiert die Ablehnung der jetzigen Regierung auf ihrer fehlenden Bereitschaft, die zukünftige Entwicklung amerikanischer Atomwaffen einzuschränken, denn für die Neuentwicklung atomarer Waffen sind die Tests unerlässlich. In Übereinstimmung mit seiner politischen Linie hat Bush eine Studie in Auftrag gegeben, die erforschen soll, wie schnell die Testgebiete für Atomwaffen in der Wüste von Nevada wieder für diese Zweck genutzt werden können.

Trotz ihrer Weigerung, den CTBT zu ratifizieren, halten die Vereinigten Staaten derzeit an einem neun Jahre alten informellen Testmoratorium fest. Doch General John Gordon von der Nationalen Nuklearen Sicherheitsabteilung (NNSA) sagte bereits früher in diesem Monat vor dem Senat: "Im Verlauf dieses Jahres werden wir uns wieder vermehrt darum kümmern, die Verfügbarkeit der Testgelände zu verbessern, und wir werden überprüfen, ob dieses äußerst wichtigen Element der Ressourcenverwaltung ausreichend finanziert wird."

Wenn Bush sich entschlösse, Atomwaffentests zu beginnen, würde es normalerweise etwa drei bis vier Jahre dauern, bis die Möglichkeiten dazu gegeben sind. Die Regierung versucht diese Periode auf wenige Monate zu verkürzen. Insbesondere versucht das Pentagon, Atomwaffen mit geringer Sprengkraft zu entwickeln, mit denen unterirdische Atomwaffenlager zerstört werden können, die derzeit nur in Russland und den Vereinigten Staaten existieren.

Außerdem hat die Bush-Regierung angekündigt, dass sie zwar eine Reduzierung ihres Arsenals an Atomwaffen plant, aber keine Beschränkungen für neue Waffen akzeptieren oder sich an umfassenden Abrüstungsgesprächen beteiligen wird. Statt dessen bevorzuge Amerika unilaterale Einschnitte, gestützt auf eine unabhängige Einschätzung ihrer eigenen Sicherheitsinteressen. Bush nationale Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice stellte sich gegen einen russischen Vorschlag, wonach die fünf etablierten Atommächten (inklusive Frankreich, Großbritannien und China) über ein streng kontrolliertes System gegenseitiger Abrüstung verhandeln sollten. Sie sagte: "Es gibt einen guten Grund, sich nicht auf Verhandlungen einzulassen, die 15 Jahre dauern, wie dies bei bisherigen Abrüstungsverträgen der Fall war... Es ist nicht nötig."

Alle diese Entwicklungen laufen auf dasselbe hinaus: Keine neuen Beschränkungen, Beseitigung der alten Beschränkungen, freie Entwicklung der amerikanischen Militärpolitik und gemäß ihren eigenen Erfordernissen. Zu diesen neuen Erfordernissen gehören, nach Ansicht amerikanische Strategen, wahrscheinlich auch Konfrontationen mit China, Russland und anderen Konkurrenten.

Siehe auch:
Bushs Europareise signalisiert Zerbrechen der atlantischen Allianz
(22. Juni 2001)
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