Die Parlamentswahlen in Großbritannien

Vorboten eines radikalen politischen Umbruchs

Nach außen hin erweckt die Wiederwahl der Labour-Regierung zwar den Eindruck von Kontinuität, dennoch kündigt sie einen radikalen Umbruch der politischen Verhältnisse in Großbritannien an. Premierminister Tony Blair und New Labour als die bevorzugte Partei der Unternehmer treten ihr Amt ohne Mandat der Bevölkerung an und sind dabei entschlossen, den Sozialstaat und den öffentlichen Dienst zu zerschlagen.

Das britische Wahlsystem, das auf dem Mehrheitswahlrecht beruht, ergibt immer ein verzerrtes Bild der politischen Gegebenheiten. Die Anzahl der Mandate, die eine Partei gewinnt, hängt weitgehend von Verschiebungen innerhalb einer schmalen Schicht der Mittelklasse ab, und dies insbesondere in Wahlkreisen mit knappen Mehrheitsverhältnissen. Bei den Wahlen am vergangenen Donnerstag war dies besonders deutlich. In Westminster gewann Labour mit 42 Prozent der Stimmen 64 Prozent der Sitze, während die Tories mit 33 Prozent nur 26 Prozent der Sitze erhalten, die Liberaldemokraten mit 19 Prozent sogar lediglich 8 Prozent.

Vor der Abstimmung hatte Blair seinen Aufruf an die "patriotischen Konservativen" erneuert, Labour als ihre "natürliche Heimat" zu unterstützen. Dies verhalf Labour zum Sieg, da die Partei ihre Wählerschaft unter den besser gestellten Schichten der Mittelklasse konsolidieren konnte. Was die Medien angeht, so genoss Labour die Unterstützung von mehr als 91 Prozent der nationalen Tagespresse (gemessen an der Auflage). Auch ehemalige Gralshüter der Tories wie der Economist, die Financial Times und die Times stellten sich hinter Labour.

Das vorherrschende Merkmal der Wahl war die massive Enthaltung. Lediglich 59 Prozent der Stimmberechtigten nahmen daran teil, 1997 waren es noch 71 Prozent gewesen. Labour erhielt dieses Mal 10,74 Millionen Stimmen, nahezu drei Millionen weniger als 1997, und blieb damit unter den 11,56 Millionen Stimmen, die Neil Kinnock 1992 bei seiner Niederlage gegen die Tories auf sich vereinigt hatte. Der Stimmenanteil von Labour in vorwiegend von Arbeitern bewohnten Gebieten sank, in den Ballungsräumen der Großstädte blieben Millionen Menschen zuhause. New Labour erhielt nur 25 Prozent der Stimmen aller Wahlberechtigten, so dass sich mehr Menschen enthielten, als für Labour stimmten.

Die Wahlbeteiligung sank quer durch alle Gesellschaftsschichten. In den ärmeren Arbeitervierteln sank sie im Durchschnitt um 12,8 Prozent, doch auch in wohlhabenderen Gegenden ging sie um 12,1 Prozent zurück. Selbst in den Wahlkreisen, in denen eine Partei über eine nur knappe Mehrheit verfügte, sank die Beteiligung um 11 Prozent.

Allgemein wird nun von der niedrigsten Wahlbeteiligung seit 1918 gesprochen, doch selbst dieser historische Vergleich erweist sich bei näherem Hinsehen als zu optimistisch. Die Professoren Patrick Dunleavy, Helen Margetts und Stuart Weir schreiben in einem Leserbrief, den der Guardian am 12. Juni abdruckte: "Es ist noch schlimmer als damals. Es ist die geringste Wahlbeteiligung im Vereinigten Königreich überhaupt, denn 1918 wählten 40 Prozent der Männer - ebenso wie einige Frauen - zum ersten Mal, und die Menschen waren wegen des Krieges noch unterwegs. Mit anderen Worten, etwa 60 Prozent der gesamten neuen Wählerschaft hatten überhaupt keine Erfahrung mit Wahlen.

Vergleiche mit 1918 sind daher irrig. Wir stehen am Tiefstpunkt unserer Geschichte als liberale Demokratie."

Als den großen Parteien klar wurde, dass eine geringe Beteiligung nicht nur die neue Regierung, sondern die gesamte Politik kompromittieren würde, riefen sie in den letzten Tagen vor der Abstimmung geschlossen dazu auf, zur Wahl zu gehen. Blair sagte in seinem Appell, es sei gleichgültig, für wen man stimme, nur solle man sich beteiligen. Früher seien Menschen "für das Wahlrecht gestorben", erklärte er, und die heutigen Generationen seien es ihren Vorvätern schuldig, dieses kostbare Recht zu schätzen.

Allerdings ging er nicht konkret darauf ein, wer warum für das Wahlrecht gekämpft hatte. Zwar wurde Nelson Mandela bemüht, um den Kampf der Schwarzafrikaner gegen die Apartheid zu erläutern, doch die Geschichte der britischen Arbeiterklasse und ihres Kampfes für Demokratie und Gleichheit blieb ein Buch mit sieben Siegeln.

Seit der Entstehung des Chartismus in den 1830-er Jahren war die Forderung nach der Ausweitung des Stimmrechts vor allem mit dem Kampf um soziale und politische Rechte der Arbeiterklasse im Gegensatz zu den besitzenden Klassen verbunden. Die Chartisten waren eine politische Massenbewegung, die sowohl einen revolutionären als auch einen liberalen, demokratischen Flügel enthielt. Sie umfasste kleinbürgerliche ebenso wie proletarische Kräfte. Ihre radikalsten Elemente sahen das Stimmrecht als ein Mittel an, mit dem sich die Arbeiterklasse als politische Kraft im Lande etablieren könne. Die Chartisten waren einer heftigen staatlichen Verfolgung ausgesetzt. Schließlich wurde ihre Bewegung durch eine beschränkte Ausweitung des Stimmrechts auf Teile der Mitteklasse neutralisiert.

Der Kampf der arbeitenden Bevölkerung für eine eigene politische Vertretung im Parlament bildete rund 60 Jahre später einen wichtigen Anstoß zur Gründung der Labour Party. Auch diese politische Aktion war von dem elementaren Streben der Arbeiterklasse bestimmt, ihre Interessen gegen diejenigen der Unternehmer zu verteidigen. Die Gewerkschaften sahen sich unter dem Druck ihrer Mitglieder gezwungen, ihre bisherige Unterstützung für die Liberalen aufzukündigen. Die Mitgliedschaft forderte Widerstand gegen eine Flut von Gesetzen, die sich gegen Gewerkschaften und gegen Streiks richteten. Die Labour Party entstand als politischer Flügel der Gewerkschaften, doch ihr Programm formulierte den Standpunkt einer privilegierten Arbeiteraristokratie, die alles andere als ein politischer Gegner des Profitsystems war.

Der wichtigste Dienst der Labour Party an der herrschenden Klasse bestand in ihrem Beharren, dass die soziale und politische Emanzipation der Arbeiterklasse durch allmähliche parlamentarische Reformen erreicht werden könne. Ihre Perspektive bestand darin, durch eine Beschränkung des Klassenkampfs auf militante Arbeitskämpfe in Verbindung mit parlamentarischer Tätigkeit eine möglichst günstige Einigung mit den Unternehmern herbeizuführen. Die Errichtung des Sozialismus wurde, insoweit überhaupt angestrebt, als evolutionärer, sich in die ferne Zukunft erstreckender Prozess aufgefasst.

Ungeachtet dieser Einschränkungen fassten die Arbeiter das Stimmrecht nie als abstraktes Recht auf, sondern als ein Mittel, ihre Interessen zu verteidigen und die Partei an die Macht zu bringen, die sie für ihre Partei hielten.

Die Verwandlung von Labour in eine erklärte Unternehmerpartei und die Entfremdung breiter Schichten der arbeitenden Bevölkerung von der Politik hängen daher eng zusammen. Die soziale Ungleichheit hat Ausmaße angenommen wie nie zuvor, immer mehr Menschen leiden unter Not und finanzieller Unsicherheit. Während die großen Parteien untereinander um die Unterstützung der Superreichen konkurrieren, wurde die Arbeiterklasse politisch entmündigt und jeder Möglichkeit beraubt, ihre unabhängigen Interessen zum Ausdruck zu bringen.

Die einzige Partei, die auf nationaler Ebene nennenswerte Zugewinne an Mandaten verbuchen konnte, waren die Liberaldemokraten. Doch ihr Stimmenzuwachs in Höhe von zwei Prozent lässt sich kaum als Rückkehr der Bevölkerungsmasse zur Politik interpretieren. Die guten Ergebnisse der beiden unabhängigen Kandidaten, die gegen den Verfall des Nationalen Gesundheitsdienstes protestierten, brachten eher politische Frustration als die Hinwendung zu einer Alternative zum Ausdruck.

Die radikalen Gruppen wie die Socialist Alliance, die Scottish Socialist Party und die Socialist Labour Party schnitten im Allgemeinen schlecht ab. Ihre Aufrufe zu einer Neuauflage der Labour Party und zur Rückkehr zu deren "alten Werten" wirkten wenig überzeugend. Auf dieser Grundlage kann man keine neue Partei der Arbeiterklasse aufbauen.

Ein bedeutsamer Teil der Arbeiterklasse erinnert sich nur noch schwach an Labour als reformistische Partei oder kennt diese nur aus den Erzählungen ihrer Eltern oder Großeltern. Blair und New Labour repräsentieren den Endpunkt eines politischen Prozesses, der bereits in den späten siebziger Jahren einsetzte. Seit damals arbeiteten Kräfte innerhalb der Labour-Bürokratie darauf hin, die historischen Verbindungen der Partei zur Arbeiterklasse zu kappen und Labour als britische Version der amerikanischen Demokraten oder als "Volkspartei" nach europäischem Vorbild neu zu begründen.

Dieser Vorgang liegt für politisch denkende Arbeiter auf der Hand. Um eine neue Partei aufzubauen, müssen sie jedoch auch verstehen, was mit ihrer alten Partei falsch gelaufen ist und weshalb sie sich in dieser Weise entwickelt hat. Mit eben dieser Frage können sich die diversen radikalen Gruppen nicht ernsthaft befassen.

Es wäre ein großer Fehler zu glauben, dass die Abkehr von der offiziellen Politik an sich schon eine progressive Entwicklung darstelle. Bisher war die Reaktion der arbeitenden Bevölkerung auf diese Veränderungen in erster Linie passiv. Viele sahen keinen Grund zu wählen, weil in ihren Augen ohnehin alle Parteien gleich sind. Die Stimmung derjenigen, die dennoch für Labour stimmten, bestand eher darin, Blair zögernd noch eine letzte Chance zur Beseitigung der sozialen Ungerechtigkeiten einzuräumen, die in 18 Jahren Tory-Herrschaft geschaffen worden waren.

Darüber hinaus zeigt das Ergebnis in Oldham, wo die British National Party in zwei Wahlkreisen 11.000 Stimmen gewann, dass in Abwesenheit einer bewussten politischen Reaktion der Arbeiterklasse faschistische Gruppen die sozialen Spannungen für ihre eigenen Zwecke ausnutzen können.

Man sollte jedoch umgekehrt auch nicht schließen, dass das Wachstum solcher rechtsextremen Kräfte unvermeidlich sei. Im Gegenteil, die allgemeine politische Stimmung ist gekennzeichnet durch den unausgeformten Wunsch nach mehr Fairness und sozialer Gerechtigkeit.

Der weltwirtschaftliche Abschwung, die tiefen Meinungsverschiedenheit über den Beitritt Großbritanniens zur europäischen Einheitswährung und Blairs durchgreifende Privatisierungspläne für den öffentlichen Sektor bilden eine Mixtur, die tiefgreifende politische Umbrüche auslösen wird.

Unter diesen Umständen werden die Strukturen der offiziellen Politik, in ihrer Abgehobenheit von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung, nicht gewährleisten können, dass der Klassenkampf in seinen bisherigen Formen verbleibt. Die Versuche der Bourgeoisie, die Labour Party umzubauen, werden sich als deren Auflösung erweisen. In der britischen Politik zeichnet sich eine neue Ära ab, in der sich Arbeiter, die ihren Lebensstandard und ihre demokratischen Rechte verteidigen möchten, der sozialistischen und internationalistischen Perspektive der Socialist Equality Party zuwenden müssen.

Siehe auch:
Parlamentswahl in Großbritannien: herrschende Kreise weiterhin über Europa gespalten
(12. Juni 2001)
Die Socialist Alliance und die Socialist Labour Party - keine Alternative zu Blairs New Labour
( 30. Mai 2001)
Angriff auf alle Rechte der Arbeiterklasse macht Aufbau einer neuen sozialistischen Partei notwendig
( 26. Mai 2001)
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