Eine politische Strategie zur Abwehr der Angriffe auf die Renten in Frankreich

Folgende Erklärung wurde von Unterstützern des WSWS und des Internationalen Komitees der Vierten Internationale auf den Massendemonstrationen verteilt, die am 25. Mai gegen die Pläne der französischen Regierung zur Zerschlagung der Renten und die Angriffe auf die staatliche Bildung und das Gesundheitswesen stattfanden.

Die Demonstrationen vom 25. Mai stellen einen neuen Höhepunkt der wachsenden Massenbewegung gegen die Angriffe der französischen Regierung dar. Millionen Arbeiter demonstrieren ihre Entschlossenheit, gegen diesen beispiellosen Angriff auf Renten und soziale Grundversorgung zu kämpfen.

Die Regierungsoffensive beinhaltet eine Renten-"Reform", die die Bezüge um dreißig bis fünfzig Prozent vermindert. Zudem sollen 110.000 Arbeitsplätze aus dem staatlichen Erziehungswesen an die Kommunen übergehen und 25.000 Tutorenstellen gestrichen werden. Außerdem ist eine drastische Einschränkung des Gesundheitssystems vor allem für Senioren vorgesehen.

Die von Präsident Jacques Chirac und Premierminister Jean-Pierre Raffarin geplante "Reform" stellt einen grundlegenden Angriff auf die gesamte Struktur und alle Errungenschaften des Sozialstaats dar, wie er in der Nachkriegszeit geschaffen wurde. Es geht heute nicht darum, bloß gegen den oder jenen Politiker zu kämpfen, sondern die Arbeiter stehen der gesamten Chirac-Raffarin-Regierung und der kapitalistischen Elite gegenüber, die diese repräsentiert.

Die Bewegung gegen diese Angriffe muss ausgeweitet und vertieft werden; sie muss Arbeiter in der Privatindustrie wie im öffentlichen Dienst, Rentner wie auch Studenten und Jugendliche, Einwanderer wie Franzosen gemeinsam mobilisieren. Damit diese Bewegung Erfolg hat, ist ein klares Verständnis der Triebkräfte notwendig, die hinter diesen Angriffen stecken, und eine gründlich ausgearbeitete politische Strategie, die sich auf dieses Verständnis gründet.

Es ist notwendig, eine offene Warnung auszusprechen: Militante Proteste und sogar Streiks alleine werden die Arbeitsplätze und sozialen Errungenschaften der Arbeiterklasse nicht verteidigen, denn die herrschende Elite ist entschlossen, sämtliche Errungenschaften der Vergangenheit zu zerstören. Dies ist ein politischer Kampf, der eine Klasse, die breite Masse der arbeitenden Bevölkerung, gegen die andere stellt, die Wirtschafts- und Finanzelite und die Reichsten und privilegiertesten Schichten der Bevölkerung. Seine Triebkraft ist eine globale Krise des kapitalistischen Systems, die bereits den gewaltsamen Ausbruch des US-Imperialismus in Afghanistan und Irak, den offenen Konflikt zwischen Washington und seinen angeblichen Verbündeten in Europa, massive Angriffe auf demokratische Rechte in jedem Land und eine immer tiefere Rezession verursacht hat, und die in globale Deflation und Depression abzustürzen droht.

Den größten Bärendienst leisten all jene, die - wie die Gewerkschaftsfunktionäre, die Politiker und die Opportunisten der sogenannten äußersten Linken - nicht wahrhaben wollen, dass dies ein politischer Kampf ist. Die Arbeiterklasse steht vor einer Auseinandersetzung, deren bewusstes Ziel nicht darin bestehen darf, die Chirac-Raffarin Regierung unter Druck zu setzen oder nach links zu drücken, oder sie einfach durch eine andere, bürgerliche Regierung der offiziellen linken Parteien zu ersetzen; das Ziel muss es sein, selbst die politische Macht zu ergreifen. Nur so können Arbeiter das Wirtschaftsleben nach wirklich demokratischen und egalitären Grundsätzen neu ordnen und die von den Arbeitern produzierten Ressourcen weiter entwickeln und so verteilen, dass ihre Bedürfnisse befriedigt werden.

Die wachsende Kluft zwischen Reich und Arm und der Angriff auf die sozialen Dienstleistungen sind nicht auf Frankreich beschränkt. Überall auf der Welt sind die Arbeiter mit den gleichen grundlegenden Angriffen konfrontiert. In den Vereinigten Staaten und in Großbritannien ist die Polarisierung zwischen Reich und Arm bereits viel weiter fortgeschritten. Von Reagan zu Bush und von Thatcher zu Blair ist der Lebensstandard der Arbeiter gesunken, während die Reichen immer größere Besitztümer angehäuft haben.

In Europa hat der deutsche Kanzler Gerhard Schröder unter dem Namen "Agenda 2010" die schärfsten Angriffe aller Zeiten auf das deutsche Sozialsystem geführt. Schröder, der Vorsitzende der SPD, der Schwesterpartei der französischen Sozialistischen Partei, führt damit ähnliche Angriffe wie Chirac und Raffarin durch.

Dies ist ein globales Problem. Wie in anderen Ländern versuchen die Chirac-Raffarin-Regierung und die hinter ihr stehenden Konzerne die Arbeiterklasse für die Krise der Weltwirtschaft zur Kasse zu bitten. Nur auf der Grundlage einer Strategie, die über alle nationalen Grenzen hinweg die Arbeiterklasse als politische Kraft vereint und unabhängig von der bürgerlichen Gesellschaft organisiert, können Arbeiter für die Eroberung der Macht kämpfen und die Krise im Sinne der breiten Mehrheit lösen.

Der Kampf für diese Perspektive erfordert vor allem einen Bruch mit den alten und diskreditierten Parteien der Linken und den Aufbau einer neuen politischen Partei auf der Grundlage eines sozialistischen und internationalistischen Programms.

Die wichtigsten politischen Erfahrungen der letzten 35 Jahre zeigen die Vergeblichkeit von Kämpfen, die sich in den Grenzen einer nationalen Perspektive halten und darauf beschränkt sind, gewerkschaftlichen Druck auf das kapitalistische und politische Establishment auszuüben. Im Mai-Juni 1968 beteiligten sich über zehn Millionen Arbeiter an einem politischen Streik gegen die Regierung von Charles De Gaulle und die Fünfte Republik. Die Kommunistische Partei und die Gewerkschaft CGT organisierten damals einen historischen Verrat: Sie weigerten sich, das gaullistische Regime zu stürzen, und würgten die Streikbewegung um den Preis ein paar lausiger Zugeständnisse ab. De Gaulle und nach ihm Georges Pompidou verloren keine Zeit, diese Errungenschaften in den darauf folgenden Jahren wieder auszuhöhlen.

In den Jahren seither gab es viele soziale Bewegungen gegen die verschiedenen "linken Regierungen" unter der Präsidentschaft von François Mitterrand. Sie alle endeten in schlechten Kompromissen, die die Gewerkschaftsführung aushandelte und die nichts an den grundlegenden Angriffen änderten: in den frühen achtziger Jahren wurde die Stahlindustrie stillgelegt und nur zwei Jahre danach folgte die Arbeitsverschärfung und die Werksschließungen in der Autoindustrie, um nur zwei Beispiele zu nennen.

Schließlich brachte der Massenstreik der Arbeiter im öffentlichen Dienst vom November-Dezember 1995 die Regierung von Alain Juppé an den Rand des Zusammenbruchs. Aber die Gewerkschaften akzeptierten einen Deal, der nicht nur Juppés Angriffe auf das Sozialsystem unangetastet ließ, sondern auch jene Angriffe auf die Renten im privaten Sektor akzeptierte, die schon 1993 vom vorherigen Premier, Edouard Balladur, durchgeführt worden waren. Die Erhöhung der Beitragsjahre der privat Beschäftigten von 37,5 auf 40 Jahre dient heute wieder als Vorwand, um zu begründen, warum auch die Arbeiter im öffentlichen Dienst ebenso viele Beitragsjahre leisten müssen.

Die Politik des Druck-Ausübens, mit der die Parteien der politischen Linken und die Gewerkschaften hausieren, ergibt eine Bilanz von Verrat und Niederlagen. Jedes Zugeständnis, das sie machten, zog weitere Zugeständnisse nach sich. Arbeiter mussten zusehen, wie ihr Lebensstandard und ihre Arbeitsbedingungen dreißig Jahre lang systematisch untergraben wurden. Jetzt will Chirac ihnen auch noch ihre Renten, die Bildung und die Gesundheitsversorgung wegnehmen.

Das Haupthindernis im Kampf stellen die längst überlebten Bürokratien in der Arbeiterbewegung dar: die Sozialistische Partei, die Kommunistische Partei und die Gewerkschaftsapparate. Ihnen springen jene opportunistischen Organisationen zur Seite, die sie verteidigen und alle Kritik von ihnen ablenken: Alain Krivines Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR), Arlette Laguillers Lutte Ouvrière (LO) und Pierre Lamberts Parti des Travailleurs (PT).

Im aktuellen Kampf wagt keine von ihnen, die Wahrheit zu sagen. So hat sich die Sozialistische Partei auf ihrem jüngsten Kongress auf einige Feiertagsreden beschränkt und sich im übrigen geweigert, auch nur einen Finger gegen die Maßnahmen von Raffarin zu rühren.

Lionel Jospins sozialistisch-kommunistische Regierung, die an die Macht kam, als Balladurs Renten-"Reformen" und Juppés Angriffe auf den öffentlichen Dienst bereits in Kraft waren, machte in ihren ganzen fünf Amtsjahren keine einzige dieser Maßnahmen rückgängig. Nicht eine Gewerkschaft bekämpfte diesen Verrat.

Die arbeiterfeindliche Politik der Jospin-Regierung bereitete der hohen Stimmabgabe für den faschistischen Le Pen in der ersten Wahlrunde der Präsidentschaftswahlen von 2002 den Weg. Die Reaktion der Sozialistischen und Kommunistischen Partei bestand darin, für Chiracs Wahl zum Präsidenten aufzurufen. Sie stellten sich jedem Kampf in den Weg, der eine politische Alternative der Arbeiterklasse gegen die Parteien der bürgerlichen Rechten aufgezeigt hätte. Aus diesem Grund tragen sie politische Verantwortung für alle arbeiterfeindlichen Maßnahmen, die Chirac seither durchgeführt hat.

Alle Parteien der offiziellen Linken behaupten bis heute, dass die Offensive von Chirac und Raffarin beantwortet werden kann, indem man Druck auf das Regime ausübt. Die Kommunistische Partei (PCF) behauptet, dass sie "ihre Rechenaufgaben gemacht" habe und dass es möglich sei, die Rentenfrage zu lösen. Die LCR erklärt: "Es ist möglich, die Renten zu finanzieren." Die LO sagt: "Zusammen können wir die Regierung zurückdrängen."

Nicht nur entwaffnen sie die Arbeiterklasse damit politisch, sondern sie verschleiern außerdem, dass die Gewerkschaften den Kampf verzetteln und abbrechen wollen, um einer Konfrontation mit der Regierung aus dem Weg zu gehen.

Der Verrat der Gewerkschaftsbürokratie wurde spätestens an der Entscheidung der CFDT-Führung deutlich, die Rentenvorschläge der Regierung zu akzeptieren. Der CGT-Vorsitzende Bernard Thibault seinerseits hat bis zum 28. Mai, wenn die Rentenreform vor das Parlament gebracht wird, jeden offiziellen Arbeitskampf ausgeschlossen. Er hat den Streik der Arbeiter der Pariser Verkehrsbetriebe vollständig verleugnet, der den gesamten Verkehr in der Hauptstadt zum Erliegen brachte.

Marc Blondel, der Führer der Gewerkschaft Force Ouvrière, beweist am klarsten die Entschlossenheit der Gewerkschaftsführer, einen politischen Kampf zu vermeiden. Als er vor kurzem in einem Interview gefragt wurde, ob er plane, einen Generalstreik auszurufen, antwortete er: "Nein.... Dieser Begriff des Generalstreik nimmt immer eine politische Färbung an. Ich befinde mich nicht in einem Kampf gegen Raffarin, sondern gegen die Rentenreform von Fillon [dem Sozialminister]."

Er ließ seine Absicht durchblicken, den Streik vollständig abzuwürgen, als er am 19. Mai gegenüber Agence France Presse sagte: "Ich habe das Gefühl, wir befinden uns in den letzten Wochen des Gewerkschaftskampfs,... denn vom 25. Mai an wird die Frage die Form eines Kampfs im Parlament zwischen der Mehrheit und der Opposition annehmen. Das ist nicht mein Problem."

Französische Arbeiter müssen sich mit den Arbeitern weltweit zusammenschließen und einen Kampf führen, der sich auf das gemeinsame Programm stützt, die grundlegenden Produktivkräfte in gesellschaftliches Eigentum überzuführen und den gesellschaftlichen Reichtum unter der demokratischen Kontrolle der Arbeiterklasse neu zu verteilen. Dies erfordert den Aufbau einer neuen internationalen Arbeiterpartei, die für eine sozialistische Perspektive kämpft.

Die World Socialist Web Site, die tägliche Internet-Publikation des Internationalen Komitees der Vierten Internationale, dient als Mittel für den Aufbau einer solchen Partei. Wir rufen alle Teilnehmer an diesen Demonstrationen dazu auf, die WSWS zu lesen, Kontakt mit der Redaktion aufzunehmen und zur Entwicklung unserer Arbeit beizutragen.

Siehe auch:
Frankreich: Eine Million Arbeiter gegen Rentenkürzungen auf der Straße
(27. Mai 2003)
In Frankreich streiken und demonstrieren Millionen zur Verteidigung der Rente
( 16. Mai 2003)
Frankreich: Für eine internationale Bewegung zur Verteidigung der Rente
( 17. Mai 2003)
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