Frankreich: Eine Million Arbeiter gegen Rentenkürzungen auf der Straße

Mehr als eine Million Arbeiter demonstrierten am Sonntag dem 25. Mai in ganz Frankreich gegen die geplanten Rentenkürzungen der Chirac-Raffarin-Regierung. Allein in Paris waren über 600.000 auf der Straße, darunter über 100.000 Menschen, die in 35 Sonderzügen und tausend Bussen aus den Provinzen in die Hauptstadt gekommen waren.

Die Organisatoren hatten völlig unterschätzt, wie viele Menschen von außerhalb Paris teilnehmen wollten, und mussten in den größeren Städten des Landes kurzfristig eigene Versammlungen auf die Beine stellen. So kam es auch in Städten wie Marseilles, Bordeaux und Toulouse zu Massenversammlungen.

Zur Mobilisierung hatten die Gewerkschaften aufgerufen, die sich bisher weigern, die "Reform"-Vorschläge von Präsident Jacques Chirac und Premierminister Jean-Pierre Raffarin zu akzeptieren. Als einzige große Gewerkschaft hat die CFDT das Projekt bislang unterschrieben, die traditionell dem rechen Flügel der Sozialistischen Partei nahe steht.

Unterstützer der World Socialist Web Site verteilten in Paris über 7.000 Exemplare einer Erklärung mit der Überschrift: "Eine politische Strategie zur Abwehr der Angriffe auf die Renten in Frankreich".

Die Demonstration vom Sonntag kam mit einem Streik der Lehrer und schulischen Hilfskräfte zusammen, die schon seit dem 13. Mai im Ausstand sind. Sie kämpfen nicht nur gegen die Rentenkürzungen, sondern auch gegen die Angriffe der Regierung auf das nationale Erziehungssystem. Die Entschlossenheit der Beschäftigten im Bildungswesen zeigte sich an den vielen selbstgemachten Transparenten, die aus den 2.500 unbefristet bestreikten Schulen nach Paris gebracht wurden.

Die größten Delegationen bestanden aus Lehrern und Schulpersonal der Grund- und Mittelschulen. Außerdem nahmen Kontingente von Postbediensteten, Krankenhauspersonal, Eisenbahnern, Beschäftigten der Gefängnisse, des öffentlichen Nahverkehrs und vieler weiterer Teile des öffentlichen Dienstes teil. Auch die Privatindustrie war vertreten mit Delegationen des Luft- und Raumfahrtkonzerns SNECMA, der Telefongesellschaft Ericson und der Konzerne Aventis, Pechiney und FNAC, um nur einige wenige zu nennen.

Alle Altersgruppen vom Schul- bis zum Seniorenalter waren vertreten. Viele Teilnehmer kamen mit ihren ganzen Familien. Man sah Gewerkschaftstransparente und -fahnen in großer Zahl, darunter von der CGT, der größten, traditionell mit der Kommunistischen Partei verbundenen Gewerkschaft, der Force Ouvrière (FO), einer weiteren der Sozialistischen Partei nahestehenden Gewerkschaft, der SUD, einer radikaleren Gewerkschaftsabspaltung, und vielen kleineren Gewerkschaften. Eine ganze Anzahl Arbeiter ohne gewerkschaftliche Bindungen nahm ebenfalls teil, viele mit handgeschriebenen Plakaten.

Die verschiedenen Gruppen, die in Frankreich zur "äußersten Linken" zählen, stellten keine Forderungen auf, die über die diskreditierte Politik hinausgegangen wäre, die von der früheren Regierung der Pluralen Linken unter Führung Lionel Jospins vertreten wurde. Ein vierseitiger Handzettel der Ligue Communiste Révolutionnaire enthielt keinerlei Kritik an der Jospin-Regierung und ging mit keinem Wort darauf ein, dass der Kampf zur Verteidigung der Renten und anderen Sozialleistungen den Sturz der Mitte-Rechts-Regierung von Chirac und Raffarin erfordern würde.

Lutte Ouvrière behauptet in ihrem jüngsten Leitartikel, massenhafter Druck reiche aus, um die Angriffe der Regierung aufzuhalten. Sie erklärt: "Die Bewegung muss sich am 25. und danach entwickeln. Lasst die Streikbewegung sich entwickeln, bis die Raffarin-Chirac-Regierung zum Rückzug ihres Plans gezwungen wird, gerade wie Juppé gezwungen wurde, den seinen zurückzuziehen." Auch hier ist keine Kritik an der Regierung der Mehrheitslinken von Jospin zu finden.

Während diese Organisationen bemüht sind, eine selbstzufriedene Stimmung zu verbreiten, und gleichzeitig die politischen Fragen verschleiern, war die Stimmung der Demonstrierenden ernsthaft und besorgt über das Ergebnis der Konfrontation mit der Regierung. Dass Massenprotest alleine ausreichen werde, wurde weit herum bezweifelt.

"Wir kamen für unsere Kinder hierher. Wenn wir jetzt aufhören, dann war’s das," sagte Philippe, ein etwa vierzigjähriger Arbeiter von EDF (dem staatlichen Stromkonzern), der mit seiner Frau Bernadette und seinen zwei Kindern von Angers gekommen war. Sie fügte hinzu: "Ja, wir sind für unsere Kinder hier. Ich bin Hausfrau, aber für die Zukunft der Kinder stehe ich hier voll dahinter."

Philippe erklärte: "Ich bin hierher gekommen, um gegen Kapitalismus und Hochfinanz zu kämpfen und um eine vernünftige Rente für jeden zu verteidigen. Obwohl wir in der EDF bei den Renten nicht in der unmittelbaren Schusslinie stehen, wissen wir doch, dass wir nicht verschont werden. Ich bin in der CGT, und die CGT nimmt immer am Kampf teil. Ich bin auch Mitglied von Attac. Wir wissen, dass die Sozialisten Balladurs Reformen nicht widerrufen haben. Die Politik der Mehrheitslinken war eine weiche Kompromisspolitik. Aus diesem Grund hat Jospin die Wahlen verloren."

Nach seiner Meinung über die Kommunistische Partei und ihren früheren Führer, Robert Hue, gefragt, antwortete er: "Hue wusste nicht, in welche Richtung er gehen sollte. Er stand sich selbst im Weg. Die Linken konnten die letzten Wahlen unmöglich gewinnen, nachdem Jospin in Barcelona das Dokument der Europäischen Union über die Verlängerung der Lebensarbeitszeit unterzeichnet hatte."

Auf die Frage, wie für ihn in diesem Kampf ein Sieg aussehen würde, sagte Philippe: "Die einfachen Menschen in Frankreich müssten dann nicht mehr für die verheerende Beschäftigungspolitik der Regierung zahlen, die Einkünfte und die Profite aus der Produktion müssten besteuert werden, und ein Teil des Wohlstands müsste an die einfachen Menschen gehen."

Wir machten ihn darauf aufmerksam, dass die CGT die Vorschläge der EDF-Direktion zur Vorbereitung auf die Privatisierung der staatlichen Gas- und Stromwerke unterstützt, die eine Steigerung der Arbeitnehmerbeiträge zu den Renten um fünfzig Prozent beinhalten.

Darauf antwortete Philippe: "Gut, am Anfang dachten wir, es sei alles in Ordnung. Die Direktion versuchte uns eine Entscheidung aufzudrängen. Seither sind wir in der Lage, darüber besser nachzudenken, und wir stellen fest, dass die Vorschläge falsch waren und dass die Arbeiter zu Recht dagegen gestimmt haben."

Auf den Hinweis, dass die CGT die Arbeiter gedrängt hatte, das Projekt zu unterzeichnen, das klar gegen die Interessen der Arbeiter gerichtet war, antwortete Philippe: "Das kann ich nicht erklären."

Philippe konnte ebenso wenig erklären, warum der CGT-Vorsitzende Bernard Thibault nicht die ganze Gewerkschaft zum Streik aufgerufen hatte, obwohl ein Teil der Eisenbahner und der Beschäftigten der Verkehrsbetriebe, wie auch die Lehrer kürzlich gestreikt hatten.

Wir sprachen auf der Pariser Demonstration auch mit einer Gruppe von Studenten. Cécile, eine Philosophiestudentin an der Sorbonne, und Jean-Baptiste, der an der IPAG Business School Verwaltung studiert, sagten, sie gehörten keiner politischen Partei an, hätten aber Freunde in der Kommunistischen und Sozialistischen Partei und in der Anti-Globalisierungsbewegung ATTAC.

Auf die Frage, was sie zur Teilnahme an der Demonstration bewogen habe, antwortete Cécile: "Letzten Endes geht es darum, den Sturz der Regierung zu bewirken."

Jean-Baptiste stimmte zu und sagte: "Mich hat es aufgebracht, dass Raffarin sagte: ‚Die Straße darf nicht das Land regieren’. Wir sind hier, um die Rentenreform rückgängig zu machen. Wir können keine Renten akzeptieren, die die Menschen dazu zwingen, von 85 Prozent des Smic [gesetzlichen Mindestlohns] zu leben. Ich denke da an die Krankenhausbeschäftigten und wie die Renten dann berechnet werden. Man hat leicht den Eindruck, es sei möglich, die Regierung zurückzudrängen. Aber wenn man bedenkt, was noch alles kommt [z.B. die Gesundheitsreform], dann würde es mich wundern, wenn es wirklich so einfach wäre."

Cécile fügte hinzu: "Man muss die ganze Frage neu verhandeln, und das im europäischen Maßstab."

Jean-Baptiste sagte darauf: "Wir sind Reformisten. Wir gehen davon aus, dass es möglich ist, dieses Problem der Renten und der sozialen Rechte auf europäischer Ebene zu lösen."

Wir fragten, ob sie wirklich glaubten, die Konzerne würden eine Kürzung ihrer Profit zulassen, während die Entwicklung in ganz Europa auf eine Reduzierung der sozialen und Arbeitskosten hin tendiert, worauf Cécile antwortete: "Ich weiß dass Jospin und die Mehrheitslinke nicht in der Lage waren, dem Druck der Marktwirtschaft standzuhalten. Aber wir hoffen alle dasselbe, dass die wahre linke Alternative aus dem linken Flügel der Sozialistischen Partei wieder aufgebaut werden kann."

Hervé, ein CGT-Mitglied, der bei der regionalen Straßenbaubehörde der Normandie arbeitet, sagte der WSWS, er fürchte die völlige Zerstörung des Rentensystems, das nach 1945 aufgebaut worden war. Sein Kollege und Freund Albert sagte: "Durch die Dezentralisierung soll der öffentliche Dienst zerschlagen werden."

Hervé fügte hinzu: "Der Kampf muss ausgeweitet werden, wenn diese Regierung zurückgedrängt werden soll. Der große Knall kommt im Juni. Wenn die Eisenbahner und die Arbeiter im öffentlichen Nahverkehr auf die Straße gehen, wird der Ballon steigen. Wir müssen sicherstellen, dass die Regierung den privaten Sektor nicht vom öffentlichen Sektor abschneidet. Es ist eine Schande, dass die Eisenbahner nach dem 13. Mai nicht unbegrenzt in Streik getreten sind.

Diesen Kampf zu gewinnen heißt für mich, auf einer vollkommen anderen Ebene zu verhandeln: die der Steuer auf die Konzernprofite. Das muss im europäischen Maßstab und sogar im Weltmaßstab, durch die Welthandelsorganisation, verhandelt werden.

Es gibt keine Lösung auf bloß nationaler Grundlage. Wenn wir die Regierung zum Rücktritt zwingen würden, wären die Sozialisten nichts anderes. Die Sozialisten waren in vielen Ländern in Europa an der Macht, und sie haben nichts getan, um die Rentenfrage zu klären. Jospin war an der Macht, als Frankreich in der Europäischen Union den Vorsitz innehatte. Er hätte was dafür tun können, aber er hat’s nicht getan.

Man muss eine internationale Bewegung organisieren. Ich bin auf der Suche nach einer politischen Bewegung."

Siehe auch:
Flugblatt: Eine Politische Strategie zur Abwehr der Angriffe auf die Renten in Frankreich
(27. Mai 2003)
In Frankreich streiken und demonstrieren Millionen zur Verteidigung der Rente
( 16. Mai 2003)
Frankreich: Für eine internationale Bewegung zur Verteidigung der Rente
( 17. Mai 2003)
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