Schily muss bei Ageeb-Prozess nicht aussagen

Die Verantwortung des Innenministeriums für den Tod des Abschiebehäftlings bleibt ungeklärt

Innenminister Otto Schily (SPD) muss nicht im Prozess um den Erstickungstod des Sudanesen Aamir Ageeb aussagen, der gegenwärtig vor dem Frankfurter Amtsgericht verhandelt wird. Angeklagt sind drei Beamte des Bundesgrenzschutzes, unter deren Händen Ageeb bei seiner Abschiebung vor fünf Jahren starb.

Der Antrag auf die Vorladung Schilys als Zeugen, den die Verteidiger gestellt hatten, wurde am Montag vergangener Woche vom zuständigen Richter Ralph Henrici abgelehnt. Peinliche Fragen über eine informelle Fachkonferenz zwischen dem Innenministerium und der BGS-Führung, die unmittelbar nach dem Tod Aamir Ageebs stattgefunden hatte, bleiben dem Innenminister damit erspart.

Aamir Ageeb erlag dem lagebedingten Erstickungstod (Positional Asphyxia Syndrom), nachdem ihm drei BGS-Beamte im Flugzeug minutenlang den Oberkörper auf die Beine heruntergedrückt hatten. Die Verteidigung der angeklagten Polizisten wollte durch eine Anhörung Schilys nachweisen, dass der lagebedingte Erstickungstod beim Bundesgrenzschutz bis zum Tode Ageebs völlig unbekannt gewesen sei, und dass es durchaus zur Ausbildung gehört habe, Flüchtlinge, die sich ihrer Abschiebung widersetzten, durch Herunterdrücken am Schreien zu hindern.

Richter Henrici lehnte die Anhörung Schilys mit der Begründung ab, dass der Innenminister seinerzeit höchstens vom Hörensagen über den lagebedingten Erstickungstod informiert gewesen sein könne und seine Kenntnisse somit für das Verfahren bedeutungslos seien. "Alles was Schily mitteilen könnte, kann hier als wahr unterstellt werden", sagte Henrici.

Die Vorladung Schilys war von der Verteidigung beantragt worden, nachdem frühere Zeugenvernehmungen nicht geklärt hatten, ob der lagebedingte Erstickungstod beim BGS bekannt gewesen war oder nicht. Ein BGS-Ausbilder, Bernd Schäferling, sagte aus, das PA-Syndrom sei ihm bereits seit 1997 bekannt gewesen und er habe dies sowohl mündlich an seine Kollegen weitergegeben, als auch die Gefahren des Niederdrückens gelehrt.

Demgegenüber behaupteten sowohl der Pressesprecher des BGS, Klaus Ludwig, als auch ein weiterer Ausbilder, dass sie bis zu Aamir Ageebs Tod nichts vom lagebedingten Erstickungstod gehört hätten.

Tatsächlich war die Positional Asphyxia aber spätestens seit 1992 bekannt, als in den USA im Fachjournal American Journal of Forensic Medicine and Pathology gleich zwei umfangreiche Artikel zum Erstickungstod im Polizeigewahrsam veröffentlicht wurden. Eine Reihe weiterer Studien erschien in den darauffolgenden Jahren. Die deutsche Polizei will von alledem nichts erfahren haben.

Dabei hat der Arzt Claus Metz vom IPPNW-Ärzte in sozialer Verantwortung bereits im Dezember 1998 nicht nur im Journal Unbequem, das von den "kritischen Polizisten" herausgegeben wird und in Polizeikreisen demnach mit Interesse verfolgt werden dürfte, ausführlich über die amerikanischen Studien berichtet, sondern auch das Frankfurter Polizeipräsidium direkt informiert und noch am 21. Mai, also eine Woche vor Ageebs Tod, telefonisch mit dem BGS-Sprecher Ludwig darüber gesprochen. Ludwig, der nach Ageebs Tod nichts vom PA-Syndrom gewusst haben will, schützt sich mit der dreisten Behauptung, er habe von Metz‘ medizinischen Erklärungen "nichts verstanden ".

Schilys Intervention

Aamir Ageeb war weder das einzige, noch das erste Opfer, das im deutschen Polizeigewahrsam den plötzlichen Erstickungstod erlitt. Doch bis dahin konnten sich die Polizisten immer darauf verlassen, dass im rechtsmedizinischen Gutachten, ungeachtet der Erkenntnisse aus den USA, ein "plötzlicher Tod aus natürlicher innerer Ursache" diagnostiziert wurde.

1998-99 wurde der lagebedingte Erstickungstod bei Abschiebungen europaweit zum Thema, und nach solchen Todesfällen gerieten sowohl in Österreich als auch in Belgien die Innenminister ins Kreuzfeuer der Kritik. Der belgische Innenminister Louis Toback musste 1998 nach dem gewaltsamen Tod der Nigerianerin Semira Adamu bei ihrer Abschiebung den Hut nehmen. Gegen seinen österreichischen Kollegen Karl Schlögl (SPÖ) kam es noch im Mai 1999 - zum Zeitpunkt, als Aamir Ageebs sterben musste - nach einem ähnlichen Todesfall zu Massenprotesten.

Kein Wunder, dass sich Otto Schily nach Aamir Ageebs Tod besorgt in die Ermittlungen einschaltete. Darüber berichtete am 6. Prozesstag der BKA-Ermittler Helmut H., der zunächst für die Aufklärung von Ageebs Tod zuständig war, dem der Fall aber Anfang 2000 grundlos entzogen worden war.

Wie Helmut H. berichtete, war er im Zuge seiner Ermittlungen auf ein informelles Gespräch im Berliner Innenministerium gestoßen, das ein bis zwei Wochen nach Ageebs Tod stattfand. An diesem Gespräch hatten nicht nur die drei nun angeklagten Grenzschützer teilgenommen, sondern auch leitende BGS-Beamte, ein Ausbildungstrainer und zeitweilig auch Innenminister Otto Schily. Als der Ermittler ein Protokoll des dort geführten Gesprächs haben wollte, wurde ihm mitgeteilt, dass es sich um ein "geheimes Gespräch" gehandelt habe und kein Protokoll geführt worden sei.

Dieser Vorgang ist umso erstaunlicher, als die drei Angeklagten von einer Psychologin krank geschrieben worden waren und dem BKA nicht für Vernehmungen zur Verfügung standen. Daher wollte Helmut H. nun auch die in Berlin anwesenden leitenden BGS-Beamten sowie Otto Schily befragen. Kurz darauf habe er, wie er sagte, keinerlei Informationen mehr erhalten, und es habe das begonnen, was er als "Mobbing" bezeichnete. Dann wurde ihm der Fall entzogen. Offensichtlich sollte jede politische Konnotation vermieden und Schilys Kopf aus der Schlinge gezogen werden.

Die jahrelange Verzögerung des Falls unterstreicht diese Vermutung. Außerdem wurde die Anklageschrift, als Anfang Februar 2004 endlich Anklage erhoben wurde, von der Staatsanwaltschaft so klein gehalten, dass sie an das Amtsgericht gegeben wurde, wo nur minder schwere Fälle verhandelt werden. Gegen Vorgesetzte wurde nie ermittelt, offensichtliche Versäumnisse in der Ausbildung wurden nicht weiter beachtet. Es störte die Staatsanwaltschaft auch nicht, dass das Innenministerium dem BGS einen Maulkorb verpasst hatte und den Ermittlern wichtiges Beweismaterial, wie etwa ein Lehrvideo des BGS, vorenthalten wurde, wie der Spiegel letzten Juni berichtete.

Otto Schilys Verantwortung

Nicht nur wegen seiner direkten Einflussnahme auf die Ermittlungen trägt Otto Schily selbst Verantwortung für das Geschehen. Zum Zeitpunkt von Ageebs Tötung bekleidete Schily bereits über ein halbes Jahr das Amt des Innenministers, doch an der unmenschlichen Praxis der Abschiebungen seiner Vorgänger Kanther, Seiters und Schäuble (alle CDU) hatte sich nichts geändert.

Als oppositioneller Parlamentsabgeordneter hatte Schily noch gefordert: "Abschiebungshaft muss rechtsstaatlichen und humanitären Grundsätzen genügen. Leider entspricht die gängige Abschiebepraxis diesen Anforderungen allzu häufig nicht. Das müssen wir ändern. Nicht zuletzt mahnen uns die tragischen Todesfälle in der Abschiebehaft, die Abschiebepraxis zu überprüfen. Die Menschenrechte sind unteilbar, auch bei uns zu Hause."

Als er im Amt war, war all dies vergessen, und die Abschiebungen gingen mit unvermittelter Härte weiter. Das Abschiebeverbot, das er unmittelbar nach Aamir Ageebs Tod erlassen hatte, wurde bereits nach wenigen Wochen wieder aufgehoben. Und die nach Ageebs Tod erlassene Dienstanweisung aus dem Innenministerium, "im Zweifel eine Rückführungsmaßnahme eher abzubrechen", als "Gefahr für Leib und Leben" zu riskieren, hatte ihre Gültigkeit schnell wieder verloren.

Die Zahl der Abschiebungen sollte offenbar gar nicht reduziert werden, sie sollten nur geräuschloser vonstatten gehen. Seit dem Amtsantritt Otto Schilys sind weit über 200.000 abgelehnte Asylbewerber abgeschoben worden. Dabei hat die Brutalität, mit der die Abschiebungen vollstreckt werden, im Laufe der Jahre zugenommen.

Im August 2003 berichtete Pro Asyl von einem "Sommer der Gnadenlosigkeit". Immer häufiger werden Familien durch Abschiebungen auseinandergerissen, auch wenn sie schon lange in Deutschland gelebt haben. Durch Arbeitsverbote, soziale Sanktionen und die Einweisung in Ausreisezentren wird der Druck zur Ausreise enorm erhöht.

Über Gründe, die bislang als Abschiebehindernisse galten, wird immer häufiger hinweg gegangen. Abschiebungen in Kriegs-, Bürgerkriegs- und Krisenregionen wie Afghanistan, Irak, Somalia und Kongo sind mittlerweile an der Tagesordnung.

Schwer kranke Menschen werden in ärztlicher Begleitung deportiert, Atteste und Gutachten zu psychischen Erkrankungen und Traumata einfach beiseite gewischt. Dazu hat die Innenministerkonferenz 2002 in Kooperation zwischen Bund und Ländern nicht nur Gefälligkeitsgutachten von Ärzten ermöglicht, die gegen Honorar die Flugfähigkeit der abzuschiebenden Flüchtlinge bescheinigen, sondern auch einen Kriterienkatalog erstellt, dem zufolge - so Bernd Mesovic in der Frankfurter Rundschau vom 18. Februar 2004 - "jeder Kranke flugreisetauglich, nämlich mit einem Ambulanzflug in ärztlicher und grenzschutzpolizeilicher Begleitung transportierbar" wäre. "Zynisch formuliert: Überlebt der Betroffene den Flug, ist den Interessen der Innenministerkonferenz Rechnung getragen."

Selbst ein akutes Selbstmordrisiko stellt kein Abschiebehindernis mehr dar, so lange im Zielland rein theoretisch irgendwelche Therapiemöglichkeiten vorhanden sind. Aamir Ageeb war suizidgefährdet. Noch wenige Tage vor seiner tödlichen Abschiebung hatte er in der Abschiebehaft versucht, sich zu erhängen, und noch während der Flugvorbereitungen hat er mehrfach betont, eher sterben zu wollen, als zurück in den Sudan zu gehen.

Immer brutalere Abschiebungen

Beim BGS hat man aus dem Fall Ageeb keine Lehren gezogen. Am Tage der Prozesseröffnung wurde eine Tunesierin trotz eines hohen Suizidrisikos auf Grund eines Gefälligkeitsgutachtens eines Amtsarztes von BGS-Beamten aus dem Frankfurter Markuskrankenhaus geholt und abgeschoben. Wenige Tage zuvor hatte der behandelnde Krankenhausarzt dem BGS schriftlich mitgeteilt, dass die Frau aufgrund ihrer schweren psychischen Erkrankung nicht abgeschoben werden könne. Noch im Krankenhaus sollen sich dramatische Szenen abgespielt haben. Was auf dem Flug und bei der Ankunft in Tunis geschah, ist nicht bekannt.

Im Dezember 2003 hatte sich ein 17-Jähriger gegen die Abschiebung nach Kirgisien gewehrt, da er dort keinerlei Angehörige mehr habe. Die BGS-Beamten traktierten den Vollwaisen daraufhin mit Faustschlägen, durch die der Junge unter anderem eine Gehirnerschütterung erlitt. Gegen die Beamten wurde zwar mittlerweile ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, doch die Anwesenheit des Kirgisen wurde dafür nicht als erforderlich betrachtet. Am 20. Januar wurde er zusammen mit seinem Bruder abgeschoben.

Da man in den Innenministerien von Bund und Ländern damit rechnet, dass Flüchtlinge sich gegen ihre Abschiebung durch immer brutalere Vollstreckungsmethoden auch häufiger zur Wehr setzen werden, geht man inzwischen dazu über, Abschiebungen weniger mit Linienflügen der Lufthansa und anderer "Image-Airlines" durchzuführen, sondern auf Charterflüge billiger osteuropäischer Fluglinien auszuweichen. Die Abschiebungen können so unbemerkt von der Öffentlichkeit durchgeführt werden.

Damit sich die Abschiebungen per Charterflug auch "lohnen", haben sich die EU-Staaten mittlerweile zusammengetan. Auf der Ratssitzung im Januar wurde die Einrichtung einer europäischen Grenzschutzagentur beschlossen. Vorrangiges Ziel: Die Durchführung von gemeinsamen Rückführungen per Charterflügen. Die EU-Kommission hat dafür zunächst dreißig Millionen Euro bereitgestellt.

Nach dem Tod Aamir Ageebs hatte Innenminister Schily laut Spiegel wütend gefordert, es müsse vollkommen ausgeschlossen werden, dass ein Ausländer bei der Abschiebung verletzt werde oder sogar sterbe. Und noch heute beteuert Schily bei jeder sich bietenden Gelegenheit, bei der Asyl- und Rückführungspolitik der Bundesregierung stünden rechtsstaatliche und menschenrechtliche Erwägungen im Vordergrund.

Tatsächlich verfolgt er eine rücksichtslose Praxis der Abschiebung um jeden Preis. Um dem Gesetz Genüge zu tun, wird das Recht so lange hin- und hergewendet, bis auch der letzte Flüchtling abgeschoben werden kann.

Siehe auch:
Fünf Jahre nach Aamir Ageebs Abschiebung und Tod: Bundesgrenzschützer wegen "fahrlässiger Tötung" in Frankfurt vor Gericht
(11. Februar 2004)
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