Die Brutalität der US-Armee stellt die Menschen in Amerika vor eine ethische Grundsatzentscheidung

Ein Editorial der New York Times vom 23. Mai bezichtigt den Präsidenten der USA und mehrere Mitglieder seiner Regierung schwerer Kriegsverbrechen im Irak, in Afghanistan und im Gefangenenlager Guantanamo Bay auf Kuba.

Unter der Überschrift "Misshandlungen mit System" wird zunächst George W. Bushs Äußerung zitiert, dass die Gräueltaten im irakischen Gefängnis Abu Ghraib rückhaltlos aufgeklärt und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen würden. Ein schöner Fototermin sei das gewesen, so der Kommentar der Times, doch: "Leider ist kein Wort davon wahr."

Schlicht gesagt, der Präsident ist ein Lügner.

Das Editorial erschien im Zusammenhang mit einer zweiteiligen Serie über die grauenhaften Morde an zwei afghanischen Häftlingen, die Angehörige der US-Armee im Gefängnis Bagram begangen haben. Der Regierung wird vorgeworfen, dass sie weitere Berichte unter Verschluss hält und Ermittlungen sabotiert. Weiter heißt es: "Die Regierung versperrt jeden echten Einblick in das Verhalten der Entscheidungsträger im Weißen Haus, im Justizministerium und im Pentagon. Darin besteht der Zweck der offiziellen Untersuchungen. An die zentrale Frage, wo und wie die politischen Richtlinien für die Gefängnisse festgelegt wurden, die zu den Misshandlungen führten, darf niemand rühren."

Die Times stellt fest: "Die Ereignisse in Abu Ghraib waren kein Ausrutscher, sondern Teil eines Systems. Sie sind eine tragische Folge der Entscheidung von Mr. Bush und seinen Spitzenberatern, dass für Gefangene, die in Antiterror-Einsätzen verhaftet wurden, weder die Genfer Konventionen noch die amerikanischen Gesetze gelten."

Wenn dem so ist, dann hat die Regierung gegen das Völkerrecht verstoßen und sich Kriegsverbrechen schuldig gemacht.

Indem sie die humane Behandlung Gefangener ganz offiziell nur für die Fälle verlangte, in denen es "militärisch geboten" war, vermittelte sie den Eindruck, "geringfügige Regelverstöße" bei Verhören seien statthaft, sodass die Militärs am Ende "auch den Mord an Gefangenen als geringfügig einstuften und die Todesursachen vertuschten".

Obwohl sie es nicht explizit ausspricht, wirft die Times dem Präsidenten, dem Vizepräsidenten, dem Verteidigungsminister und den Armeeführern vor, dass sie Folter und Mord sanktioniert haben. Die Tatsachen sprechen eine klare Sprache. In Wirklichkeit trägt das gesamte Establishment aus Politik und Medien (einschließlich der Times), das den Einmarsch im Irak unterstützte, eine Mitschuld an diesen Verbrechen.

Jeder weiß, dass die Morde in Bagram und die Misshandlungen in Abu Ghraib nur die Spitze des Eisbergs sind. Mit Sicherheit finden im Irak, in Afghanistan und im Gefangenenlager auf Kuba Tag für Tag ähnliche Verbrechen statt. Wenn so wenige davon aufgedeckt und angeprangert werden, dann liegt das daran, dass die herrschende Elite Amerikas diese Methoden einhellig billigt.

So hält auch die Times hartnäckig an dem Märchen fest, dass die barbarische Behandlung afghanischer und irakischer Zivilisten nichts mit dem Charakter des Kriegs als Ganzem zu tun habe. Sie tut so, als ob die systematische, brutale Missachtung von Menschenleben, die sie selbst als "weit verbreitetes System" bezeichnet, nur ein zufälliger Ausrutscher einer ansonsten edelmütigen Demokratisierungsmission sei.

In Wirklichkeit ist es umgekehrt. An den Vorfällen in Bagram kann man den wahren Charakter der US-Politik ablesen. Sie widerspiegeln in konzentrierter Form eines der Hauptziele der US-Intervention in Afghanistan und im Irak: Kolonialvölker zu terrorisieren und zu unterwerfen.

Die Einmärsche der USA in Zentralasien und im Mittleren Osten waren von Anfang an in allen ihren Aspekten kriminell. Die Lügen zur Rechtfertigung des fortdauernden Krieges und die Lügen zur Vertuschung der Kriegsverbrechen entspringen dem Streben des amerikanischen Imperialismus, die ganze Welt seiner reaktionäre Knute zu unterwerfen. Jeglicher Widerstand, oder mitunter auch nur die bloße Existenz einer unterworfenen Bevölkerung, ist Anlass zu brutaler Gewalt.

Bereits vor dem Irakkrieg hätte jede ernsthafte Untersuchung den Beweis erbracht, das die Behauptungen der Regierung Bush über das Saddam-Hussein-Regime Lügen waren. Wenn amerikanische Journalisten das nicht wussten, dann deshalb, weil sie es nicht wissen wollten. Ausnahmslos machten sie sich zu Komplizen dieses Verbrechens, von der neofaschistischen "Basis" der Republikanischen Partei und der ultrarechten Murdoch-Presse bis hin zu John Kerry, der Demokratischen Partei und den "liberalen" Zeitungen Times und Washington Post.

Doch allmählich kommt die Wahrheit ans Licht, wie es bei monströsen Lügen unweigerlich geschieht, besonders in Amerika. Die Gräuel in der Haftanstalt Bagram und in Abu Ghraib stellen die Menschen in Amerika vor eine unausweichliche ethische Grundsatzentscheidung.

Die erste Aufgabe und der erste Schritt zur Lösung der Probleme besteht darin, die Wahrheit über die gegenwärtigen Zustände zu sagen.

Dass die "ehrenhafte" US-Armee auf die wehrlose Bevölkerung im Mittleren Osten und Asien losgelassen wurde, hatte entsetzliche Folgen. Viele abstoßende und rückständige Seiten der amerikanischen Gesellschaft werden innerhalb der Streitkräfte gehegt und gepflegt. Daher wurden sie zum Anziehungspunkt und zur Brutstätte für eine nicht geringe Anzahl an Sadisten, Psychopathen und schlicht Perversen. Oftmals handelt es sich um Lumpenelemente ohne jeglichen kulturellen oder moralischen Rückhalt, die extrem reaktionären Einflüssen ausgesetzt werden - religiösem Fundamentalismus, Nationalismus, dem Kult von Blut und Waffen.

Bei den Schilderungen der körperlichen und seelischen Folter an Gefangenen in Bagram dreht sich einem der Magen um. Und diesen Porno-Sadismus trägt die US-Armee in die ganze Welt!

Die Regierungsbeamten sind überzeugt, dass sie niemals für ihre Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden. Diese Zuversicht beruht auf der breiten Zustimmung, den diese Praktiken innerhalb der herrschenden Elite finden. Sowohl Sprecher der Regierung als auch die Wortführer ihrer vorgeblichen Kritiker - Alan Dershowitz, Ted Koppel und Michael Ignatieff - haben seit den Ereignissen vom 11. September 2001 die Anwendung von Folter ausdrücklich oder stillschweigend unterstützt. In den Führungsschichten der amerikanischen Gesellschaft gibt es fast kein demokratisches Bewusstsein mehr. Alles ist erlaubt.

Das Argument, dass der "Terrorismus" nur mit barbarischen Methoden bekämpft werden könne und dass die Erzwingung von Aussagen durch Folter "Menschenleben rette", entspricht der altbekannten Propaganda jedes autoritären Regimes und hält darüber hinaus keiner rechtlichen oder faktischen Überprüfung stand. Der US-Regierung lagen bereits lange vor dem September 2001 einschlägige Informationen über geplante Flugzeugentführungen vor, aber sie unternahm nichts dagegen. Außerdem widerspricht dieses Argument der politischen Realität: Folter hat noch nie dazu gedient, bestimmte faktische Aussagen zu erzwingen, sondern steht immer im Rahmen einer bestimmten Gesamtpolitik. Sie dient dazu, den Willen einer Widerstandsbewegung oder der Bevölkerung zu brechen. Das galt einst für die Nazis, und das gilt auch für das amerikanische Militär von heute.

Es ist eine Schande, dass gegen die Verbrechen in Afghanistan und dem Irak nicht auf breiter Ebene und lautstark protestiert wird. Die öffentliche Meinung Amerikas ist in einem erbärmlichen Zustand.

Die Schuldigen dafür sind nicht schwer zu finden. Die politischen Institutionen befinden sich völlig in der Hand der großen Konzerne, die sie regelrecht abwürgen. Auf diese Weise wurde das öffentliche Klima vergiftet. Der Gestank, der hier vorherrscht, ist die moralische und politische Ausdünstung des amerikanischen Kapitalismus, der seit den 1990er Jahren nur noch so strotzt von Schmarotzertum, Korruption und Kriminalität.

Die heutige Politikergeneration ist das unvermeidliche Produkt dieser Entwicklung: Leute wie Rick Santorum, der ultrarechte katholische Senator für Pennsylvania, der für die Nominierung als republikanischer Präsidentschaftskandidat für 2008 im Gespräch ist. Das Sonntagsmagazin der New York Times berichtete vor kurzem über einen Vorfall aus seinem Leben, den der Autor vorsichtig als "befremdlich, seltsam, vielleicht sogar gruselig" für manche Leser bezeichnete. Als das erste gemeinsame Kind des Paares nach wenigen Schwangerschaftsmonaten als Totgeburt zur Welt kam, da weigerten sich Santorum und seine Frau, es in die Leichenhalle bringen zu lassen. Sie verbrachten die Nacht im Krankenhaus und legten das tote Neugeborene zwischen sich ins Bett. Am nächsten Tag nahmen sie es mit nach Hause und gaben es ihren anderen Kindern auf den Arm ("The Believer", 22. Mai 2005). Diesem Menschen sollte man kein Staatsamt, sondern eine psychologische Beratung anbieten.

Wenn es um die Interessen des Big Business geht, stehen die Demokratische Partei und ihre wichtigsten Wähler den Republikanern in nichts nach. Die Schuld hierfür liegt in erster Linie bei der so genannten Gewerkschaftsbewegung des AFL-CIO. Die Gewerkschaftsbürokratie hat alles in ihrer Macht stehende getan, um jedes Klassenbewusstsein abzutöten, Chauvinismus zu fördern und ein Klima zu schaffen, in dem keine humanen und progressiven Ideen gedeihen können. In keinem anderen entwickelten kapitalistischen Land war die Arbeiterklasse so wenig auf die Offensive des Großkapitals vorbereitet, und nirgendwo sonst in der Welt hat die offizielle Arbeiterbewegung eine derartige kulturelle und politische Wüste hinterlassen, wie in den USA.

Die politisch rechts stehenden Medien sind eine Jauchegrube politischer Gewalttätigkeit und Pornografie; die Mentalität dieser Leute zeigte sich darin, dass die beiden Murdoch-Blätter Sun und New York Post Fotos von Saddam Hussein in Unterwäsche abdruckten. Die Veröffentlichung dieser Aufnahmen, die offenbar von amerikanischen Armeeführern stammen, verstößt gegen die Genfer Konventionen, die jede entwürdigende Behandlung von Gefangenen verbieten. Selbst den Naziführern, die der größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte schuldig waren, hatte man einst grundlegende Rechte gewährt.

Auf den Vorwurf, die Veröffentlichung der Fotos sei illegal und volksverhetzend, reagierte Graham Dudman, der geschäftsführende Herausgeber der Sun, mit einem vehementen Gegenangriff. "Das sind fantastische Nachrichtenbilder, und ich behaupte, dass keine Zeitung, keine Zeitschrift und kein Fernsehsender, dem man sie angeboten hätte, sie nicht veröffentlicht hätte." Diese Aussage traf auf keinen nennenswerten Widerspruch.

Die Vorstellung, dass solche Bilder, die in der arabischen und internationalen Öffentlichkeit Entsetzen auslösen, dem antiamerikanischen Aufstand im Irak einen schweren Schlag versetzen würden, zeigt darüber hinaus, dass die Politiker und Militärs der USA den Sinn für die Realität verloren haben.

Die "kritischen" Medien, eingeschüchtert und unaufrichtig, weichen angesichts der Provokationen der Rechten immer weiter zurück. Die Times sowie die Überreste einer kritischen Berichterstattung in einigen Fernsehsendern und Organen der Demokratischen Partei verkörpern diesen Rückzug in Perfektion. Die liberale Presse bildet sich ein, die extreme Rechte sei unbesiegbar und die Bevölkerung hoffnungslos reaktionär, und weicht daher jedes Mal, wenn die Rechten einen Zentimeter vorrücken, gleich einen ganzen Kilometer zurück. Die Rechten haben derzeit einfach deshalb die Oberhand, weil ihnen niemand entgegentritt.

Viele Menschen sind zutiefst empört über diese Verhältnisse, wie man privaten oder zufällig auf der Straße mit angehörten Äußerungen entnehmen kann. Aber sie behalten ihre Meinung weitgehend für sich. An wen sollten sie sich auch wenden? Kein einziger Flügel des politischen Establishments ist für die wahren Gefühle und Anliegen der Bevölkerung empfänglich.

Die Politiker afrikanischer oder hispanischer Herkunft, die, ebenso wie andere "radikale" und liberale Überbleibsel aus dem Kleinbürgertum der siebziger Jahre, groteskerweise immer noch als "Bürgerrechtler" bezeichnet werden, sind längst auf den Zug der Konzerne und Börsen aufgesprungen und bereichern sich hemmungslos, während die Innenstädte nahezu auf Dritte-Welt-Niveau heruntergekommen sind.

Auch die Kulturindustrie hat ihren Teil zu der Misere beigesteuert. Die von ihr produzierten Filme, Popsongs und Videospiele fördern bzw. verkörpern die Brutalisierung und Verrohung ihres Publikums. Zu viele Menschen, die die gesellschaftlichen Verhältnisse und die historische Situation nicht durchschauen und die aktuellen Ereignisse nicht verstehen, lassen sich von den Verblödungsprodukten der amerikanischen Unterhaltungsindustrie benebeln.

Seit dem 11. September 2001 widmet sich Hollywood zunehmend den Motiven Folter und blutige Rache, um die Ergüsse von Bush, Cheney, Rumsfeld und Co. zu rechtfertigen. Der durchschnittliche "Action"-Kassenschlager geht über Leichensäcke ebenso gleichgültig hinweg wie das Pentagon.

Im Rahmen ihrer ideologischen Rechtfertigung der kolonialen Unterwerfung "unzivilisierter" Völker erklären die amerikanischen Medien gern, dass in Bagdad, im Westjordanland oder in den Bergen Afghanistans ein Menschenleben "nicht viel zählt". Aber kann es überhaupt noch weniger zählen als in der amerikanischen Kommerzkultur? Mord, Folter und andere Gewaltakte werden einfach nicht ernst genommen - sie "spielen keine große Rolle". Und das ist nicht ohne Wirkung geblieben.

So sieht die Kultur aus, die der amerikanische Kapitalismus in seiner Krise hervorbringt. Dahinter steht der industrielle Niedergang, die ungeheure soziale Ungleichheit und der obszöne Reichtum, der auf Kosten des Lebens und der Lebensumstände aller anderen Menschen an einem Pol der Gesellschaft angehäuft wurde.

In Afghanistan, im Irak und im Lager Guantánamo werden im Namen der amerikanischen Bevölkerung entsetzliche Verbrechen begangen. Die Arbeiterklasse muss einen neuen Weg einschlagen und sich für eine andere Politik entscheiden, die auf Solidarität, Mitgefühl und dem Verständnis basiert, dass eine neue sozialistische Gesellschaft aufgebaut werden muss.

Siehe auch:
Der Fall Terri Schiavo und die Krise der Politik und Kultur in den Vereinigten Staaten
(9. April 2005)
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