Dritter Vortrag: Die Ursprünge des Bolschewismus und Was tun?

Teil 5

Die Socialist Equality Party (USA) und die World Socialist Web Site veranstalteten vom 14. bis 20. August in Ann Arbor, Michigan, eine Sommerschule. Die dort gehaltenen Vorträge veröffentlichen wir im Laufe der kommenden Wochen jeweils in mehreren Teilen. Der vorliegende Vortrag stammt von David North, dem Chefredakteur der WSWS.

Bürgerliche Kritik an Was tun?

Diese Passagen sind immer wieder als der Inbegriff des bolschewistischen "Elitismus" angeprangert worden, in denen sich zudem der Keim zukünftiger totalitärer Entwicklung erkennen ließe. In einem Buch mit dem Titel Die Saat des Bösen bezeichnet Robin Blick, ein ehemaliger Trotzkist, den oben zitierten Satz (in dem Lenin "von dem spontanen Streben des Trade-Unionismus, sich unter die Fittiche der Bourgeoisie zu begeben" spricht) als "eine absolut außergewöhnliche Formulierung für jemanden, der sich normalerweise so sehr um die Verteidigung marxistischer ‚Orthodoxie’ bemüht. Sie steht in ihrer Unverfrorenheit sicherlich nicht hinter den Revisionen des Marxismus zurück, die der deutsche Sozialdemokrat Eduard Bernstein unternommen hat. [...] Marx und Engels haben in ihren Schriften nie eine ausgearbeitete Doktrin des politischen Elitismus und der organisatorischen Manipulation dargelegt." [16]

Wesentlich weiter entwickelt findet sich dieses Argument in dem bekannten Werk des akademischen Philosophen Leszek Kolakowski Die Hauptströmungen des Marxismus, das als dreibändiges Werk erstmals im Jahre 1977 erschien. Kolakowski tut Lenins Feststellung, die spontane Arbeiterbewegung könne keine sozialistische Anschauung entwickeln und sei daher zwangsläufig von der bürgerlichen Ideologie geprägt, als etwas "Neues" und "Eigentümliches" ab. Noch mehr beunruhigt Kolakowski die Schlussfolgerung, die Arbeiterbewegung müsse einen bürgerlichen Charakter annehmen, wenn sie nicht von einer sozialistischen Partei geführt werde. "Diese erste wird durch eine zweite Schlussfolgerung ergänzt: Die Arbeiterbewegung im eigentlichen Wortsinne, also die politische, revolutionäre Bewegung, definiert sich überhaupt nicht dadurch, dass sie eine Bewegung der Arbeiter ist, sondern durch die Tatsache, dass sie die ‚richtige’, d.h. marxistische, d.h. per definitionem ‚proletarische’ Ideologie besitzt. Anders gesagt, spielt die klassenmäßige Zusammensetzung der revolutionären Partei für die Bestimmung ihres Klassencharakters keine Rolle". [17]

Er lässt ein paar abfällige und zynische Bemerkungen fallen und behauptet spöttisch: "Die Partei weiß, was im ‚historischen’ Interesse des Proletariats liegt und wie jeweils das wahre Bewusstsein des Proletariats beschaffen sein muss, an welches das empirische Bewusstsein in der Regel nicht heranreicht." [18] Kolakowski hält solche Bemerkungen für unglaublich clever. Seiner Ansicht nach decken sie die absurde Anmaßung einer kleinen politischen Partei auf, ihr Programm artikuliere die Interessen der Arbeiterklasse, auch wenn die große Mehrheit der Arbeiter mit diesem Programm nicht übereinstimmt oder es noch nicht einmal versteht. Doch Argumente dieser Art erscheinen nur so lange clever, wie man nicht sorgfältig über sie nachdenkt.

Wenn Kolakowskis Argument korrekt ist - welchen Bedarf gibt es dann für irgendeine politische Partei, sei sie eine Arbeiterpartei oder eine bürgerliche Partei? Ist es letztlich nicht so, dass alle politischen Parteien und ihre Führer für sich beanspruchen, im Namen einer größeren gesellschaftlichen Gruppe zu sprechen und deren Interessen zu artikulieren? Wenn man die Geschichte der Bourgeoisie betrachtet, dann wurden ihre Interessen als Klasse von politischen Parteien identifiziert, definiert und artikuliert. Und ihre Führer waren nicht selten dazu gezwungen in der Opposition zu arbeiten, als kleine Minderheitsfraktion oder sogar in der Illegalität, bis sie ihre Klasse oder zumindest deren wichtigste Teile für die Perspektive und das Programm gewonnen hatten, für das sie kämpften.

Der Puritanismus existierte in England über ein halbes Jahrhundert hinweg als religiös-politische Tendenz, bevor er sich zur vorherrschenden Tendenz in der aufsteigenden Bourgeoisie entwickelte und unter der Führung Cromwells den Sieg der Revolution über die Stuart-Monarchie sicherte. Einhundertfünfzig Jahre später gingen die Jakobiner als Partei politisch mobilisierter Rousseau-Anhänger aus den erbitterten Fraktionskämpfen innerhalb der Bourgeoisie und des Kleinbürgertums zwischen 1789 und 1792 als Führung der Französischen Revolution hervor. Nicht weniger bedeutende Beispiele können in der amerikanischen Geschichte gefunden werden, von der Zeit vor der Unabhängigkeit bis heute.

Ein politisches Programm, das die "objektiven" Interessen einer Klasse zum Ausdruck bringt - d.h. ein Programm, das die Mittel erkennt und programmatisch formuliert, die für die Verwirklichung der politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Interessen einer Klasse erforderlich sind - wird zu einem gegebenen Zeitpunkt möglicherweise nicht von der Mehrheit oder nicht einmal von einem großen Teil einer Klasse als solches anerkannt.

Die Geschichte hat eindeutig bewiesen, dass die Abschaffung der Sklaverei zur Konsolidierung des amerikanischen Nationalstaats führte und eine enorme Beschleunigung des kapitalistischen Industrie- und Wirtschaftswachstums bewirkte. Und doch waren die politischen Vorkämpfer gegen die Sklaverei, die Abolitionisten, gezwungen, über mehrere Jahrzehnte hinweg einen erbitterten Kampf gegen den heftigen Widerstand der Bourgeoisie der Nordstaaten zu führen, die eine Konfrontation mit den Südstaaten scheute und ablehnte. Die kleine Gruppe der Abolitionisten verstand weitaus besser als die große Zahl der Unternehmer, Kaufleute, Bauern und auch Arbeiter im Norden, was das Beste für die langfristige Entwicklung des amerikanischen Nationalstaats und des Kapitalismus in den Nordstaaten war. Natürlich bezogen sich die Abolitionisten des frühen 19. Jahrhunderts nicht ausdrücklich auf ihre "Klasse", als sie ihr Programm und ihre Handlungen erklärten. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass sie in der Sprache ihrer Zeit die Interessen der aufsteigenden Bourgeoisie im Norden zum Ausdruck brachten, die von den politisch weitsichtigsten Teilen dieser Klasse wahrgenommen wurden.

Ein jüngeres Beispiel für eine politische Partei, die die objektiven Interessen der Bourgeoisie benannte und gegen den Widerstand großer Teile dieser Klasse für sie kämpfte, war die Demokratische Partei unter Roosevelt. Er repräsentierte die Minderheitsfraktion in der amerikanischen Bourgeoisie, die davon überzeugt war, dass der Kapitalismus in den Vereinigten Staaten nur durch größere Sozialreformen und bedeutende Zugeständnisse an die Arbeiterklasse zu retten sei.

Ich möchte auch hervorheben, dass die herrschenden Eliten Hunderte und Tausende von Experten in ihren Dienst stellen, die sich mit politischen Programmen, Soziologie, Wirtschaft und außenpolitischen Fragen beschäftigen und der herrschenden Klasse helfen, ihre eigenen objektiven Interessen zu erkennen. Zwar ist es aus Gründen, auf die ich noch eingehen werde, für den durchschnittlichen Bourgeois deutlich einfacher als für den Durchschnittsarbeiter, seine wahren Klasseninteressen zu erfassen, aber die Entwicklung der Politik der herrschenden Klasse kann nie einfach nur eine direkte Widerspiegelung dessen sein, was der "durchschnittliche" amerikanische Unternehmer oder der "durchschnittliche" millionenschwere Vorstandsvorsitzende denkt.

Kolakowskis Behauptung, Lenins Verständnis der Beziehungen zwischen der sozialistischen Partei und der Entwicklung von Bewusstsein gründe sich nicht auf den Marxismus, setzt voraus, dass er das von Marx und Engels zu dieser Frage Geschriebene einfach ignoriert. In Die heilige Familie erklärten sie im Jahre 1844 zur Entwicklung des sozialistischen Programms:

"Es handelt sich nicht darum, was dieser oder jener Proletarier oder selbst das ganze Proletariat als Ziel sich einstweilen vorstellt. Es handelt sich darum, was es ist und was es diesem Sein gemäß geschichtlich zu tun gezwungen sein wird. Sein Ziel und seine geschichtliche Aktion ist in seiner eignen Lebenssituation wie in der ganzen Organisation der heutigen bürgerlichen Gesellschaft sinnfällig, unwiderruflich vorgezeichnet." [19]

In einem anderen Buch, das Was tun? angreift, wird die oben zitierte Passage angeführt - aber nicht, um lediglich Lenin zu diskreditierten, wie dies Kolakowski tut. Der britische Historiker Neil Harding vertritt die Auffassung, dass Lenin tatsächlich ein orthodoxer Marxist war. Die Konzeptionen, die in Was tun? entwickelt werden, basieren schließlich auf dem, was Marx selbst in Die heilige Familie geschrieben hat. Daher ist nach Harding "die privilegierte Rolle, die der sozialistischen Intelligenz zugeschrieben wird, um den Groll des Proletariats zu organisieren und zu artikulieren und dessen politischen Kampf zu führen, keineswegs eine leninistische Abweichung vom Marxismus, sondern wesentlich für die Arroganz des Marxismus als Ganzem. Marx (und alle nachfolgenden Marxisten) mussten behaupten, dass sie sich der langfristigen Interessen und Ziele des Proletariats viel tiefer bewusst seien, als jeder Proletarier oder eine Gruppe von Proletariern dies jemals sein kann." [20]

Obwohl Kolakowski behauptet, Lenin habe Marx revidiert, und Harding darauf beharrt, dass Lenin sich auf Marx stütze, greifen beide Was tun? vom gleichen Ausgangspunkt an: Sie weisen den Anspruch zurück, dass sozialistisches Klassenbewusstsein durch eine politische Partei in die Arbeiterklasse getragen werden müsse und dass eine Partei von sich behaupten könne, die objektiven Interessen der Arbeiterklasse zu vertreten.

Die marxistische Auffassung, es gebe eine objektive Wahrheit, entspringt einer engen Beziehung zur Wissenschaft, der Überzeugung, dass die Welt im objektiven Sinne erkennbar ist, dass sie Gesetzen unterliegt "und dass die systematische, verallgemeinerte (oder ‚objektive’) Kenntnis der Wissenschaft dem ‚subjektiven’ Wissen, das durch unmittelbare Erfahrung gewonnen wird, überlegen ist". [21]

Harding attackiert die marxistische Vorstellung, dass die objektive Wahrheit getrennt oder sogar im Gegensatz zu den Erkenntnissen betrachtet werden müsse, wie sie aus Meinungsumfragen gewonnen werden. Er schreibt: "Was die Grundlagen seiner Parteitheorie betrifft, ist der Leninismus gänzlich ein Kind des Marxismus. Er beruht auf einem ähnlichen Anspruch, über eine besondere Art des Wissens zu verfügen, und einer ähnlich arroganten, anmaßenden Auffassung, die proletarische Sache könne nicht verstanden werden, indem man einfach die Arbeiter um ihre Meinung fragt." [22]

Harding benutzt den schicken postmodernistischen Jargon, der bei ehemals linken Akademikern so beliebt ist und der wissenschaftliche Kenntnis lediglich als "privilegierten" Diskurs definiert, dem es völlig unabhängig von der Qualität seines Inhalts gelungen ist, seine Überlegenheit über andere, kulturell weniger bevorzugte Ausdrucksweisen zu etablieren. Auf dieser Grundlage weist er den "zwielichtigen Begriff der historischen Immanenz" zurück, dem sich Marx und Lenin verschrieben hätten, die Vorstellung "dass ein umfassendes Studium der gesellschaftlichen Entwicklung bestimmte allgemeine Tendenzen offen legen würde, die, einmal da und vorherrschend, den Menschen dazu bewegen, auf gegebene Art zu handeln." [23]

Anmerkungen:

[16] Blick, The Seeds of Evil, London 1995, S. 17 (aus dem Englischen).

[17] Kolakowski, Die Hauptströmungen des Marxismus, Bd. 2, München 1978, S. 436.

[18] Ebenda, S. 437.

[19] Marx/Engels, Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik, in: MEW Bd. 2, S. 38.

[20] Harding, Leninism, Durham 1996, p.34 (aus dem Englischen).

[21] Ebenda, S.173.

[22] Ebenda, S. 174.

[23] Ebenda, S. 172.

Siehe auch:
Die Russische Revolution und die ungelösten Probleme des 20. Jahrhunderts
(14. September 2005)
Zweiter Vortrag: Marxismus gegen Revisionismus am Vorabend des 20. Jahrhunderts
( 21. September 2005)
Dritter Vortrag: Die Ursprünge des Bolschewismus und Was tun? - Teil 1
( 27. September 2005)
Teil 2
( 28. September 2005)
Teil 3
( 30. September 2005)
Teil 4
( 1. Oktober 2005)
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