Klinikärzte demonstrieren in Hannover

Am Mittwoch demonstrierten in Hannover etwa 5.000 Ärzte für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen. Die Demonstration, die von dem Ärzteverband Marburger Bund organisiert worden war, war Teil des seit einer Woche andauernden Streiks an Universitätskliniken und Landeskrankenhäusern. Die Mediziner fordern die Abschaffung der "Marathon-Dienste" von bis zu 30 Stunden ohne Unterbrechung, die Vergütung aller Überstunden und eine Erhöhung ihres Gehalts um 30 Prozent.

Am Vormittag hatten die Organisatoren auf dem Opernplatz einige Zelte aufgebaut, um Passanten von den Zielen des Streiks zu überzeugen. Neben einer Teddyklinik für Kinder und Ständen zur Gesundheitsberatung gab es kostenlose Getränke und Speisen. Gegen Mittag sammelten sich die Demonstranten einheitlich in weißen Kitteln und mit orangefarbenen Mützen auf dem Kopf und zogen schließlich zum niedersächsischen Finanzministerium.

Dort stellte sich der Verhandlungsführer der Tarifgemeinschaft Deutscher Länder (TDL) Hartmut Möllring (CDU), der gleichzeitig der Finanzminister von Niedersachsen ist, den Demonstranten. Er blieb dabei, dass er den Ärzten ein "tolles Angebot" gemacht habe und sich nun "erst mal der Marburger Bund bewegen" müsse. Er sei jederzeit bereit, die Verhandlungen wieder aufzunehmen.

Möllring hatte den Medizinern angeboten, die Wochenarbeitszeit auf bis zu 48 Stunden anzuheben und dann voll zu vergüten. Der Marburger Bund hatte die Verhandlungen daraufhin abgebrochen, weil der Vorschlag eine Senkung des Stundenlohns um vier Prozent beinhalte. Möllring hatte seine Berechnungen auf der Grundlage einer 42-Stunden-Woche gemacht, während die offizielle Arbeitszeit gegenwärtig nur 38,5 Stunden beträgt.


Mitarbeiter der Uniklinik Freiburg

Trotz eisiger Temperaturen war die Beteiligung an der Demonstration weit höher als erwartet. Die überwiegende Mehrheit bestand aus jungen Assistenzärzten, die ihrem Unmut über miserable Arbeitsbedingungen Luft machten.

Achim Behrends, ein Assistenzarzt an der Hals-Nasen-Ohren-Klinik in Würzburg, erklärte, dass er in seiner Abteilung noch relativ gut dastehe. Trotzdem würden die Überstunden nicht vergütet. "Ein Kollege hatte 600 Überstunden gemacht und dafür nichts erhalten." Ein anderer Assistenzarzt sagte, dass er trotz mehrerer 24-Stunden-Bereitschaftdienste im Monat weniger als 2.000 Euro verdiene. Gleichzeitig sei für die eigene Familie oder auch die einzelnen Patienten kaum mehr Zeit.

Henning Hermann ist Anästhesist an der Medizinischen Hochschule Hannover. Auch er fühlt sich für seine Leistungen unterbezahlt. Außerdem berichtete er von zunehmend prekären Arbeitsbedingungen: "Leute werden mit kurzen Verträgen unter Druck gesetzt. Das sind nicht nur Berufsanfänger, sondern Leute, die 30 oder 40 Jahre alt sind und eine Art Sklavendasein führen." Zudem verändere sich das Berufsbild der Mediziner. Die Arbeit mit den Patienten trete in den Hintergrund. "Es geht immer mehr um Dokumentation und Bürokratie und weniger um die Patienten."


Henning Herrmann

Auf der Bühne fand diese Stimmung einen etwas verzerrten Widerhall. Das "friedliche Völkchen der Mediziner" begann der Vorsitzende des Marburger Bundes, Frank Ulrich Montgomery, seine Rede, sei "wegen der Missachtung ihrer Leistung" in den Streik gegangen. Man sei zu Flexibilität und längeren Arbeitszeiten bereit und wolle nur eine angemessene Bezahlung dafür. Dazu sei ein arztspezifischer Tarifvertrag nötig.

Auffallend war, dass weder Montgomery noch einer der zahlreichen anderen Redner des Tages den Streik in einen politischen Zusammenhang stellte oder Verbindungen zu Angriffen auf andere Berufs- oder Bevölkerungsgruppen zog. Sie beschränkten sich ausnahmslos auf ihre unmittelbaren Forderungen. Kein Wort zu den Streichungen im Gesundheitssystem, der Einführung von Fallpauschalen oder dem Streik im öffentlichen Dienst (zu dem auch die übrigen Beschäftigten der Krankenhäuser gehören).

Montgomery erklärte nach seiner Rede gegenüber der WSWS, dass er dafür plädiere, die Arztgehälter auf Kosten der Versicherten aufzustocken. "Die Betriebskosten der Krankenhäuser", so der Chef des Ärzteverbandes, "müssen über die Krankenkassen, also am Ende über die Versicherten bezahlt werden. Man muss sich damit abfinden, dass man für immer mehr Leistung auch mehr bezahlen muss."

Auffassungen wie diese waren auch unter Teilen der Demonstranten verbreitet. So rechtfertigte Henning Hermann eine mögliche Kürzung der Gehälter bei dem sonstigen Krankenhauspersonal zugunsten der Ärzteschaft damit, dass "die Ärzte ja auch die ganze Leistung erbringen". Auf einem Schild stand: "Kariere für die Ehre? Wie das wohl in der freien Wirtschaft wäre?" Viele Ärzte hatten Schilder dabei, auf denen sie andeuteten, dass sie ins Ausland gehen werden, wenn sich an der Vergütung nichts ändere. "Wo geht es hier nach England?" fragte der eine, ein anderer trug einen Koffer mit einer amerikanischen Flagge.

Auf der anderen Seite gab es Demonstranten, die ihre Lohnforderung in einem breiteren Zusammenhang sahen und sich für eine umfassende Solidarität mit den übrigen Beschäftigten der Krankenhäuser und den Patienten einsetzten. So beteiligten sich an der Demonstration auch viele Ärzte aus den psychiatrischen Landeskrankenhäusern (LKH) in Niedersachsen, die noch in diesem Jahr privatisiert werden sollen.

Christel Lüdicke ist Ärztin im LKH Göttingen. Sie wandte sich deutlich gegen die Privatisierung. "Weil private Investoren Rendite machen wollen, wird das wahrscheinlich zu Stellenabbau und damit einer Verschlechterung der Patientenversorgung führen. Gerade sozial schwächere Patienten, die längere Liegezeiten benötigen, könnten dann hinten runter fallen." Gegen die Privatisierung stehe die gesamte Belegschaft zusammen. Das sei ihr zurzeit wichtiger als die Gehaltsforderung.

Jan Nolte (Name von der Redaktion geändert) hat ein Jahr lang in einem privatisierten Krankenhaus in Uelzen gearbeitet. Die Klinik ist Teil des Rhön Konzerns. Weil dieser Konzern in der Vergangenheit schon gegen Mitarbeiter vorgegangen ist, die sich in der Öffentlichkeit zu den Missständen in den Krankenhäusern geäußert haben, bittet er darum, seinen Namen nicht zu veröffentlichen. Andere derzeitige Mitarbeiter der Klinik auf der Demo mochten sich aus Angst vor Konsequenzen gar nicht äußern.

"Das Haus wird unter den heftigsten kapitalistischen Bedingungen geführt," erklärte Nolte. "Es werden massiv unbezahlte Überstunden geleistet. Bei mir waren es zwischen 1.000 und 1.500. Die Arbeitsbedingungen erinnern eher an Sklavenarbeit. Die Geschäftsführung arbeitet mit Einschüchterung und Angst. Das führt dazu, dass die Mitarbeiter psychisch erkranken und zu großen Zahlen psychiatrisch behandelt werden müssen." Er habe gesehen, dass Privatisierung nicht mit den Menschenrechten zu vereinbaren sei.

Nolte glaubt, dass es einen gemeinsamen Kampf der gesamten Belegschaft geben müsse. An der Basis habe er eine Menge Solidarität auch für die Gehaltsforderungen der Ärzte erlebt. Es gebe aber Kräfte, die spalten wollten. So seien die Attacken der Verdi-Spitze gegen die Ärzte kaum geeignet, die Solidarität zu fördern. Gegen Privatisierung und Kürzungen im Gesundheitsbereich brauche man aber Solidarität. "Man muss für international einheitliche Arbeitsbedingungen kämpfen, die auf den Menschenrechten beruhen."

Montgomery hingegen spricht sich für die Privatisierung der Gesundheitsversorgung aus. Gegenüber der WSWS erklärte er: "Privatisierung ist nicht von Übel, sie kann mit den richtigen Verträgen gut ausgestaltet werden."

Siehe auch:
22.000 Klinikärzte beginnen unbefristeten Streik
(18. März 2006)
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