Massiver Polizeieinsatz in Villiers-le-Bel

Frankreich: Drei Nächte Aufruhr nach dem Tod von Jugendlichen

Die Stadt Villiers-le-Bel am nördlichen Rand von Paris ähnelte Dienstagnacht einem Bürgerkriegsgebiet. Eine tausend Polizisten umfassende Streitmacht versuchte mit Unterstützung von Hubschraubern und Suchscheinwerfern die Rebellion wütender Jugendlicher zu ersticken, die durch den Tod des sechzehnjärigen Larami und des fünfzehnjährigen Moushin bei einem Zusammenstoß mit einem Polizeiauto ausgelöst worden war.

Zum Teil wurde die Rebellion durch die massive Polizeipräsenz unterdrückt, aber in der Stadt und der Umgebung gingen Dutzende Autos und Mülltonen in Flammen auf. Bis Mitternacht gab es 22 Verhaftungen. Ein paar Jugendliche sind schon in einem Sammelverfahren zu monatelangen Haftstrafen verurteilt worden.

Unmittelbar nach dem Unfall begann der Versuch, die Polizei von der Verantwortung für den Tod von Larami und Moushin rein zu waschen. Polizeibeamte und die Staatsanwältin des Distrikts Pontoise versicherten, das Polizeiauto sei mit niedriger Geschwindigkeit durch den Wohnbezirk der Opfer gefahren und das Moped der Beiden sei auf das Fahrzeug aufgefahren.

Doch diese Version ließ sich nicht lange halten. Ein Amateurvideo, das die Tageszeitung Le Monde erhalten hat, legt wegen des angerichteten Schadens nahe, dass das Polizeiauto mit hoher Geschwindigkeit gefahren ist.

Die Zeitung schrieb am Mittwoch, laut Angaben der ermittelnden Polizei seien die auf Pressfotos sichtbaren starken Schäden am Fahrzeug, eingedellte Front und zerbrochene Windschutzscheibe, nicht durch den Zusammenstoß selbst, sondern durch die Demolierung des Fahrzeugs mit Eisenstangen nach dem Unfall verursacht worden. Damit unterstütze die Polizei ihre Version, dass das Auto langsam fuhr und von dem Moped an der linken Vorderseite gerammt wurde.

"Das Video," fährt le monde fort, "das ein paar Minuten nach dem Unfall aufgenommen wurde...stellt diese Hypothese ernsthaft in Frage."

Das bestätigt auch Zeugenaussagen aus der Nachbarschaft, die von Regierung und Medien abgetan wurden.

Die Hauptnachrichten im zweiten Programm ignorierten am Mittwochabend diese Hinweise und meldeten stattdessen, das Video untermauere die Version der Polizei, laut der die Beamten im Auto bei den Unfallopfern geblieben seien, bis der Rettungsdienst eintraf.

Anfangs hatte die Polizei auch behauptet, das Motorrad der Jungen sei gestohlen gewesen. Sie musste diese Anschuldigung jedoch innerhalb von Stunden wieder zurückziehen.

Neben den Erfahrungen tagtäglicher Polizeiangriffe auf Jugendliche mahnen die Unruhen von 2005 zur Vorsicht gegenüber offiziellen Polizeiberichten. Der damalige Aufruhr begann, als zwei Jugendliche, die vor einer Polizeikontrolle davonliefen, durch elektrischen Strom ums Leben kamen und keinerlei Hilfe von ihren Verfolgern bekamen. Den Freunden der Jungen wurde kein Glauben geschenkt, als sie der Darstellung der Geschehnisse durch die Polizei, die sich später als Lüge erwies, widersprachen.

Die BBC hat den Kommentar des Bruders eines der beiden getöteten Teenager, Omar Sehhouli, zitiert, der sagte, der Aufruhr sei "keine Gewalt, sondern ein Ausdruck der Wut".

In der dritten Nacht haben sich die Zusammenstöße zwischen Jugendlichen und Polizei auch auf die Gemeinden Sarcelles, Garges-lès-Gonesse, Ermont und Goussainville ausgedehnt. Die Jugendlichen, von denen viele aus Immigrantenfamilien stammen und in trostlosen Arbeitersiedlungen leben, machten ihrer Wut und Hoffnungslosigkeit durch das Anzünden von Autos, das Demolieren und Anzünden von Schulen, Büchereien und zweier Polizeistationen Luft. Die Polizei berichtete von 130 Verletzten in den drei Nächten.

Die Medien behaupteten, es seien Schusswaffen gegen die Polizei eingesetzt worden. Le Monde berichtete am 29. November über eine Untersuchung über "zwei Polizisten mit Schussverletzungen". Die Hysterie über die angeblichen Schüsse wird mit Sicherheit ausgenutzt werden, um neue staatliche Unterdrückungsmaßnahmen einzuleiten.

Dienstag Nacht weitete sich die Rebellion von Villier-le-Bel aus. In Les Muraux in der Nähe von Paris wurde ein Bus entführt und angezündet und in Toulouse zwanzig Autos in Brandt gesteckt.

Wegen des Ausmaßes der Reaktionen sah sich Präsident Nicolas Sarkozy, der die Familienangehörigen der toten Jugendlichen im Elysée-Palast empfing, genötigt, "eine unabhängige gerichtliche Untersuchungskommission" über den Tod von Larami und Moushin anzukündigen. Sein demonstrativer Besuch bei den verwundeten Polizisten brachte ihm jedoch mehr Medienpräsenz ein.

Villiers-le-Bel war von den Unruhen 2005 nicht betroffen, ähnelt aber den anderen verarmten Vororten (banlieus) in vielerlei Hinsicht: Die offizielle Arbeitslosenrate liegt bei 20 Prozent, die Verkehrverbindungen zum Stadtzentrum sind spärlich und der Anteil junger Menschen an der Bevölkerung ist hoch. Von den 27.000 Bewohnern sind 60 Prozent jünger als 25 Jahre.

In einem Interview mit Libération vom 27. November zeigte der Soziologe Jean-Marc Stébé auf, dass sich die Lebensumstände für Jugendliche in Gebieten wie Villiers-le-Bel seit 2005 nicht verbessert haben.

"Die ZUS (Nationale Untersuchungsstelle für Städtische Problemzonen) stellt fest, dass sich Arbeitslosigkeit und Armut 2007 nicht verbessert haben. Auch heute ist noch zu beobachten, dass 39,5 Prozent der arbeitsfähigen Jugendlichen arbeitslos sind", das heißt praktisch doppelt so viele, wie im Landesdurchschnitt.

Der Sozialistische Bürgermeister von Clichy, wo Bouna Traoré und Zyed Benna 2005 auf der Flucht vor der Polizei starben, erklärte gegenüber Libération :

"Seit Herbst 2005 hat sich die Lage nicht verbessert. Die Bewohner der Vorstädte fühlen sich im Stich gelassen. Die Verbesserung der Verkehrsanbindung, die helfen soll, die Isolation zu überwinden, lässt auf sich warten. Aber es gibt hohe Erwartungen. Die Behörden reagieren so langsam, dass es für die Leute, die schon so lange frustriert sind, unerträglich wird."

Er ging natürlich nicht auf die Rolle der sozialistischen und der kommunistischen Partei auf lokaler und nationaler Ebene ein. Sie waren direkt für die Verwahrlosung der riesigen Wohngebiete verantwortlich, die es am Rande aller großen französischen Städte gibt.

Ein Interview mit Merie-Michelle Pisani auf der Web Site des Nouvel Observateur vom 28. November gibt ein lebendiges Bild der bestehenden Probleme. Pisani ist für die Örtliche Mission verantwortlich, deren Aufgabe darin besteht, arbeitslosen Schulabbrechern im Alter von 16 bis 25 Jahren Arbeit zu beschaffen.

Pisani bestätigte, dass "seit den Explosionen in den Vorstädten von 2005 nichts für die Jugendlichen getan wurde... Ich bin nicht überrascht von dem Gewaltausbruch. Man konnte schon seit längerem spüren, dass es einmal explodieren würde. Es gibt so viel Verzweiflung, das Gefühl, dass die Zukunft versperrt ist."

Sie sagte, dass nach 2005 "ein Marshall-Plan für die Vorstädte verkündet wurde, aber ich habe keine Veränderung gesehen... Die Zuschüsse vieler Vereine, die sich um den sozialen Zusammenhalt in den Stadtteilen bemühen, wurden zusammengestrichen."

Interviews mit Bewohnern von Villiers-le-Bel vermitteln das Gefühl eines andauernden Belagerungszustands. Der Bauarbeiter Hussein aus Mali sagte der Times : "Sie können schreiben, dass das Sarkozys Werk ist", und deutete auf die mit Blumen geschmückte Stelle, an der die beiden Jungen gestorben waren. "Sarkozy trainiert die Polizisten wie Kampfhunde, und dann kommen sie her und behandeln die Jugendlichen schlimmer als Tiere."

Das Vorgehen der bürgerlichen Politiker in Frankreich, die der Jugend zutiefst feindlich gesinnt sind, ist ein Aspekt der Lage. Aber die größte Schuld liegt bei der französischen "Linken", von der Sozialistischen Partei bis zur "extremen Linken", der Ligue Communiste Revolutionnaire (LCR) und Lutte Ouvrière, die letztlich alle respektierte Ordnungsparteien sind. Ihre hartnäckige Weigerung, trotz zahlreicher Gelegenheiten, wie zuletzt dem Eisenbahnerstreik, für eine sozialistische Lösung der Krise des französischen Kapitalismus einzutreten, ist der Hauptgrund, warum die Jugendlichen mit Frustration und Wut reagieren und nicht mit einer bewussten Opposition gegen den Kapitalismus.

Auf die eine oder andere Weise steht die gesamte Linke gegen die Jugend. Vertreter der Sozialistischen Partei haben die Revolte der Jugend durch die Bank verurteilt und mehr Polizei in den Stadtvierteln gefordert. Der Präsident des Reginalrats von Paris (Ile de France), der Sozialist Jean-Pierre Huchon, gab am Montag eine Erklärung heraus:

"Ich verurteile einen solchen Ausbruch von Gewalt und Zerstörung gegen Feuerwehrleute, Polizisten, den öffentlichen Dienst und die Unternehmen ... Meine besten Wünsche gelten dem verletzten Superintendenten und seinen Kollegen."

Der Vorsitzende der Sozialistischen Partei, François Hollande, gab eine hohle Erklärung heraus, in der er soziale, Bildungs- und "republikanische" Maßnahmen forderte und an den Nationalismus appellierte: "Die Republik ist die Antwort, eine gemeinsame Vorstellung von der Nation. Wir müssen über Bürgertum und Nation sprechen."

Die UNSA (der sozialistischen Partei nahe stehender Nationaler Verband Autonomer Gewerkschaften) erklärte am Montag in einem Kommunique:

"Dort, wo es nötig ist, müssen wir die Polizeipräsenz wiederherstellen, sieben Tage in der Woche, 24 Stunden am Tag. Wir müssen die Wohngebiete regelrecht besetzen, um die örtliche Bevölkerung auf der einen Seite besser kennen zu lernen, und auf der anderen Seite eine effizientere Repression zu ermöglichen, weil das immer nötiger wird."

Das kommt von der "Linken"!

Patrice Ribeiro, Generalsekretär der Polizeigewerkschaft Synergie, beschwor eine bürgerkriegsähnliche Konfrontation mit den Jugendlichen herauf. Auf Radio RTL sagte er: "Wenn das so weitergeht, dann befürchten wir eine Tragödie auf der einen oder der anderen Seite, weil unsere Kollegen es nicht dauerhaft hinnehmen werden, dass sie beschossen werden, ohne zurückzuschießen. Das ist eine Stadtguerilla mit konventionellen Waffen und Jagdgewehren."

Nach Medienberichten sagte Premierminister Francois Fillon Feuerwehrleuten in Villiers-le-Bel: "Wir werden dem nicht nachgeben. Wir werden mit allem zurückschlagen, was die Nation zu bieten hat." Er fuhr fort: "Die Regierung ist fest entschlossen, wieder Ordnung im Land herzustellen... Die Polizei wird alle Mittel erhalten, die sie dafür benötigt." Es gibt keinen Grund, das für eine leere Drohung zu halten.

Innenministerin Michèle Alliot-Marie erklärte, dass die polizeilichen Besatzungstruppen solang in Villiers-le-Bel bleiben würden, wie nötig. Mittwochnacht würde wieder ein Polizist auf 27 Einwohner im Einsatz sein. Straftäter könnten "keine Toleranz" erwarten. Wider besseres Wissen bezeichnete sie diesen Ausbruch von Frustration und Wut als "organisierte kriminelle Taten".

Einige Mitglieder von Sarkozys UMP tun nicht länger so, als habe die Regierung die Absicht, die Mittel aufzustocken, um die elende Lage in diesen Stadtvierteln zu verbessern. Der Abgeordnete Jacques Myard reagierte mit einer rassistischen Tirade: "Sehen wir den Tatsachen ins Gesicht", sagte er der Financial Times. "Das Problem ist nicht ökonomisch. Tatsache ist, dass antifranzösische ethno-kulturelle Vorurteile einer fremden Gesellschaft auf französischem Boden Fuß gefasst haben und sich von anti-französischem Rassismus nähren, selbst wenn die Aufständischen die französische Staatsbürgerschaft besitzen."

Siehe auch:
Frankreich: Kommunistischer Bürgermeister setzt Polizei gegen Obdachlose ein
(25. September 2007)
Frankreich: Sakozy bereitet Schocktherapie vor
(25. Mai 2007)
Frankreich: Straßenschlachten lösen Regierungskrise aus
(5. November 2005)
Nein zum Ausnahmezustand in Frankreich!
(10. November 2005)
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