Der Brandanschlag in Lübeck und die Zwickauer Terrorzelle

Die Zwickauer Neonazis, auf deren Konto seit dem Jahr 2000 mindestens neun kaltblütige Morde an griechisch- und türkischstämmigen Kleinunternehmern, mehrere Sprengstoffanschläge, Banküberfälle und der Mord an einer Polizistin aus Thüringen gehen, haben ihre Verbrechen praktisch unter den Augen der Polizei- und Geheimdienstbehörden begangen.

Es ist nicht geklärt, wie weit die Verbindung zwischen den Neonazi-Mördern Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe und den staatlichen Behörden reichte. Der Spiegel hat über Hinweise berichtet, dass eines oder mehrere Mitglieder des Trios im Dienste des Verfassungsschutzes gestanden haben könnte. Die Geheimdienstbehörde streitet eine Zusammenarbeit mit dem Mörder-Trio ab.

Sicher ist, dass die Drei bereits vor ihrem Untertauchen im Visier der Sicherheitsbehörden standen, dass sie Kontakt zu V-Leuten aus der Neonazi-Szene unterhielten, die für ihre Spitzeldienste hoch bezahlt wurden, und dass ihre Verhaftung mehrmals unter suspekten Umständen misslang.

Es wäre nicht das erste Mal, dass rechte Mörder unter dem Schutz des Staates stehen. Besonders gut belegt ist in dieser Hinsicht der Brandanschlag auf ein Lübecker Flüchtlingsheim im Januar 1996.

Anfang der 1990er Jahre war es in der Bundesrepublik zu mehreren Anschlägen auf Ausländerwohnheime gekommen. In Mölln kamen dabei am 23. November 1992 zwei zehn und vierzehn Jahre alte Mädchen sowie ihre 51-jährige Großmutter ums Leben, weitere neun Menschen wurden schwer verletzt. Am 29. Mai 1993 kamen in Solingen fünf Menschen bei einem Anschlag zu Tode, weitere siebzehn erlitten zum Teil lebensbedrohliche Verletzungen. In beiden Fällen wurden die rechtsradikalen Täter ermittelt und verurteilt. Die Solinger Täter waren in einem Kampfsportverein eines Verbindungs-Mannes des Verfassungsschutzes ein- und ausgegangen.

In der Nacht zum 5. Juni 1993 brannte dann das Haus einer türkischen Familie in Hattingen. Alle vermuteten sofort wieder einen Brandanschlag. Eine Demonstration und Spendenaufrufe für die Familie zeugten von spontaner Solidarität mit den Opfern. Doch Polizei und Staatsanwaltschaft erhoben wenig später den Vorwurf, die Familie hätte ihre Wohnung selbst in Brand gesetzt. Gegen die Mutter wurde aufgrund hanebüchener Verdachtsmomente wegen schwerer Brandstiftung und der Vortäuschung einer Straftat Anklage erhoben. 1996 wurde die Angeklagte schließlich durch ein Bochumer Gericht freigesprochen.

In dieser Zeit gab es immer wieder gewalttätige Angriffe von Neonazis auf Migranten, aber auch auf Obdachlose, Behinderte und Andersdenkende, häufig mit tödlichem Ausgang. Über 150 Menschen sind seit der Wiedervereinigung 1990 durch rechte Täter getötet worden.

Der Lübecker Brandanschlag auf ein Asylbewerberheim in der Nacht zum 18. Januar 1996 stellte eine Art Höhepunkt dieser heimtückischen Anschlagsserie dar. Im gesamten Bundesgebiet hatte sich zuvor wachsende Empörung über die brutalen und feigen Angriffe von Rechtsextremisten breit gemacht. 1995 gründeten sich Initiativen, die Nachtwachen vor Flüchtlingsheime aufstellten, um sie vor Brandanschlägen zu schützen. Am Morgen des 18. Januars war der Anschlag in Lübeck, bei dem zehn Menschen ums Leben kamen und 38 zum Teil schwer verletzt wurden, Gesprächsstoff im ganzen Land.

Im Laufe des nächsten Tages wurde bekannt, dass drei junge Männer aus dem benachbarten Grevesmühlen – von denen einer einen rechtsradikalen Hintergrund und entsprechende Vorstrafen hatte – von einer Polizeistreife etwa zur Tatzeit in unmittelbarer Nähe des Tatortes kontrolliert worden waren. Haarproben ergaben frische Versengungen an Wimpern und Augenbrauen. Ein gerichtsmedizinisches Gutachten bewertete die Brandspuren als „frisch“, das hieß „nicht älter als 24 Stunden“. Die Grevesmühlener konnten dafür keine glaubhaften Begründungen liefern.

Einen Mitbewohner eines der drei Tatverdächtigen, des damals 17-jährigen Maik Wotenow, befragten Beamte noch am 18. Januar. Er sagte aus, Maik habe ihm vor zwei Wochen erzählt, „dass er in Lübeck was anstecken will oder was angesteckt hat“. Eine Freundin gab zu Protokoll, Maik habe ihr am nächsten Morgen von dem Brand erzählt, und „dass dort beim Feuer unten auf dem Boden jemand gelegen hat, der noch brannte“. Im Vorbau des Flüchtlingsheims war der Student aus Togo Sylvio Amoussou verbrannt.

Die drei aufgegriffenen Grevesmühlener sowie Dirk Techentin, der nach den Aussagen der drei mit ihnen in der Tatnacht unterwegs war und ebenfalls Brandspuren im Gesicht hatte, wurden in Untersuchungshaft genommen. Es schien nur noch eine Frage der Zeit bis zur lückenlosen Aufklärung des Tathergangs.

Doch der Fall entwickelte sich zu einem wahren Schmierenstück. Wie im Fall des Zwickauer Mördertrios häuften sich die angeblichen Pannen, Versäumnisse oder die schlichte Obstruktion der Sicherheitsbehörden.

Am Morgen des 19. Januar geschah, was niemand erwartet hatte. Gegen 12 Uhr wurden alle vier Grevesmühlener auf freien Fuß gesetzt. Der Öffentlichkeit wurde mitgeteilt, es läge ein Alibi für sie vor. Sie seien in der Brandnacht von einer Polizeistreife kurz vor der Tatzeit weit weg vom Tatort gesehen worden. Dieses polizeiliche Alibi erwies sich später als falsch.

Nur zwei Tage später, am 21. Januar präsentierte die Staatsanwaltschaft unter dem Vorsitz des leitenden Oberstaatsanwalt Klaus-Dieter Schultz, der auch heute noch im Amt ist, einen neuen Hauptverdächtigen. Ein Sanitäter namens Jens Leonhard habe sich als Zeuge gemeldet und berichtet, der Flüchtlingsheimbewohner Safwan Eid habe ihm nachts auf der Fahrt ins Krankenhaus gestanden, das Feuer gelegt zu haben. Der Zeuge habe den Satz gehört: „Wir warn‘s“.

Als Motiv gab der Staatsanwalt an, Eid habe Streit mit einem Familienvater gehabt. Safwan Eid, der die Tat vehement bestritt, war schon am Abend des 19. Januars zur Vernehmung geholt worden und verschwand nun für über ein halbes Jahr im Gefängnis.

Die Beschuldigungen ließen sich in keiner Weise erhärten oder gar beweisen. So gab es beispielsweise im ersten Stock oder hinter der Tür, vor der die Ermittler den Brandherd ausgemacht haben wollten, gar keinen Familienvater, mit dem er Streit gehabt haben könnte. Der einzige Familienvater auf dieser Etage war sein eigener Vater, der mit seiner Frau und vier Geschwistern des Beschuldigten im ersten Stock wohnte, während sich Safwan Eid mit zwei weiteren Brüdern eine Kammer unter dem Dach teilte – von wo er in der Nacht als einer der letzten nur noch knapp von der Feuerwehr gerettet werden konnte. Ein von der Verteidigung bestellter Brandgutachter machte den Brandherd auch nicht im ersten Stock, sondern im Vorbau des Hauses aus. Beweismittel verschwanden jedoch.

Nach der Verhaftung von Safwan Eid zwei Tage nach dem Brand hatten Justiz und Polizei Spuren in Richtung der rechtsradikalen Szene jedoch systematisch vernachlässigt. Die versengten Haarproben der Grevesmühlener wurden monatelang vor der Öffentlichkeit verschwiegen und verschwanden schließlich auf unerklärliche Weise. Eine Gutachterin, die im ersten Prozess unter Eid ausgesagt hatte, sie habe die Proben an die Polizei weitergeleitet, wurde von der Staatsanwaltschaft mit einem Meineidverfahren belegt.

Vieles spricht dafür, dass das Landeskriminalamt (LKA) eine entscheidende Rolle dabei spielte, die rechtsradikalen Verdächtigen aus dem Fokus der Ermittlungen herauszuhalten. Ähnlich war es im Fall der Zwickauer Neonazi-Morde, wo das Thüringer LKA einem Bericht des Mitteldeutschen Rundfunks (MDR) vom 18. November 2011 zufolge ein Sondereinsatzkommando der Polizei Ende der 1990er Jahre kurz vor dem Zugriff auf das Neonazitrio zurückpfiff und auch die Zielfahnder, die das Trio aufgespürt hatten, zurückzog.

Im Fall Safwan Eid wurden auch Hinweise, Fakten oder Zeugenaussagen, die den Angeklagten entlasteten oder den Verdacht gegen die Grevesmühlener erhärteten, konsequent ignoriert oder als „irrelevant“ abgetan.

So machten Zeugen Kripobeamte schon im Februar 1996 auf einen Bekannten von Heiko P., einem der Grevesmühlener Tatverdächtigen, aufmerksam. Heiko P. soll diesem Bekannten erzählt haben, dass sie den Brand gelegt hätten. Er selbst habe eine Helferrolle gespielt (tatsächlich war Heiko P. der einzige ohne Brandspuren im Gesicht), könne aber nicht zur Polizei gehen, da die Mittäter gedroht hätten, ihn umzubringen. Außerdem habe Heiko P. diesem Bekannten gesagt, dass „die Vernehmungen bei der Polizei ein Witz gewesen seien“.

Noch während der Ermittlungen berichtete die Presse, dass der Hauptbelastungszeuge Leonhard Verbindungen zu rechtsradikalen Kreisen und womöglich sogar zu mindestens einem der Grevesmühlener unterhalte.

Es tauchte auch der Verdacht auf, beim Tatverdächtigen Dirk Techentin könne es sich um einen V-Mann gehandelt haben. So vermerkten die Polizeiakten über ihn, „Personalien bekannt“, obwohl diese zuvor gar nicht aufgenommen worden waren. Kripobeamte hatten ihn zudem „zufällig“ bei einer Freundin von Maik Wotenow angetroffen – zusammen mit drei Beamten der Staatsschutzabteilung des LKA Mecklenburg-Vorpommerns. Techentin sei bei der Vernehmung durch die Lübecker Kripo auch vertraulich geduzt worden.

Im Prozess wurde Safwan Eid dann wegen der nicht vorhandenen Beweise im Juli 1997 zum ersten Mal freigesprochen. Ein gleiches tat das Kieler Landgericht im Revisionsverfahren, weil es – so die Urteilsbegründung - „keine Indizien“ gebe, die für „eine Beteiligung des Angeklagten an der Tat“ sprechen.

Die belastenden Übersetzungen von illegal aufgenommenen Gesprächen Eids im Gefängnis durch einen von den Behörden eingesetzten Dolmetscher erwiesen sich als falsch. Die Abhörprotokolle durften im ersten Verfahren nicht verwendet werden, weil der Angeklagte nicht abgehört werden durfte, waren dann aber der Revisionsgrund für das zweite Verfahren. Das Oberlandesgericht entschied, sie hätten ausgewertet werden müssen, stellte aber später fest, dass sie den Angeklagten eher entlasteten als belasteten. Selbst die Staatsanwaltschaft war gezwungen, in beiden Verfahren einen Freispruch zu beantragen.

In der Folge gestand Maik Wotenow mehrfach die Tat. Das erste Mal Anfang 1997, als er bei einem Ladendiebstahl von einem Verkäufer in Güstrow gestellt wurde. Als der Verkäufer von ihm im Beisein einiger Freunde das Diebesgut zurückverlangte und mit der Polizei drohte, prahlte Wotenow: „Die Polizei kann mir gar nix.“ Er sei schon bei dem Anschlag in Lübeck dabei gewesen, wo er das Flüchtlingsheim mit angesteckt habe. Als der Verkäufer nicht nachließ, verprügelten ihn Wotenow und seine Kumpanen. Er erstattete Anzeige bei der Polizei und identifizierte Maik Wotenow sechs Wochen später eindeutig anhand von Fotos.

Auch diese Situation „meisterten“ die Behörden, ohne einen „hinreichenden Tatverdacht“ gegen den Grevesmühlener festzustellen. Nach der Aussage des Verkäufers hatte Wotenow ein falsches Datum, den 25. August 1995, für den Brand angegeben. Dies nutzten Staatsanwalt und Polizei als Begründung, um weitere Ermittlungen abzulehnen.

Es folgten noch eine Reihe weiterer, gleichermaßen folgenloser Geständnisse. So ging Wotenow im Februar 1998 von sich aus zu einem Abteilungsleiter im Neustrelitzer Gefängnis, wo er wegen diverser Delikte einsaß, und gestand die Tat. Am nächsten Tag wiederholte er sein Geständnis noch einmal gegenüber Kripobeamten. Es folgten weitere Selbstbeschuldigungen gegenüber diversen Mitinsassen und im Juli 1998 im Interview mit dem Spiegel. „Die Beamten hätten so intensiv auf Wotenow eingeredet, erinnert sich ein JVA-Beamter, dass ‚ich das Gefühl hatte, die Kripo-Leute kommen mit der Maßgabe, ihm das auszureden‘“, berichtete der Spiegel.

Die offiziellen Ermittlungen wurden wegen der bekannt gewordenen Geständnisse immer offener angezweifelt. Im Januar 2000 beantragte die Anwältin von Safwan Eid ein Klageerzwingung gegen die Grevesmühlener beim Oberlandesgericht. Kurz darauf brachten die Behörden den inhaftierten Wotenow zum Schweigen, indem sie ihn wegen falscher Beschuldigung seiner Mittäter und Irreführung der Behörden durch sein „falsches“ Geständnis zu weiteren sechs Monaten Haft verurteilten.

Der Brandanschlag von Lübeck liegt mittlerweile fast auf den Tag genau 16 Jahre zurück. Er ist ein besonders ausgeprägtes Beispiel dafür, wie die Sicherheitsbehörden ihre schützende Hand über rechtsradikale Täter halten, während sie die Opfer zu Tatverdächtigen machen. Auch die Angehörigen der Opfer der Zwickauer Neonazi-Mörder waren bedrängt worden, eine „kriminelle Verbindung“ ihrer Verwandten einzugestehen.

Der Schutz der Lübecker Tatverdächtigen in den Jahren 1996 bis 2000 durch Geheimdienst, Polizei und Justiz hat die gewaltbereite Neonaziszene ermutigt. Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe tauchten im Februar 1998 unter den Augen der Sicherheitsbehörden ab und begannen ihre rassistische Mordserie.

Siehe auch:

Wann wird ein Gerichtsverfahren zur Farce?, Zum neuen Prozess um den Lübecker Brandanschlag

Neue Enthüllungen im Lübecker Brandprozess

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