Note: Ungenügend Die PISA-Studie und das deutsche Bildungssystem

Teil 2: Die Debatte

Grundsätzlich muss man einer Diskussion der PISA-Ergebnisse vorausschicken, dass Ranglisten und Rankings immer nur ein verzerrtes Abbild der Wirklichkeit wiedergeben. Die Tatsache, dass Deutschland im internationalen Vergleich im Rahmen der PISA-Studie sehr schlecht abschneidet, bedeutet nicht automatisch, dass die Bildungssysteme in den anderen Ländern gut sind. Womöglich sind sie nicht einmal besser.

Gemessen wird schließlich - nicht zu vergessen: im Auftrag der internationalen Wirtschaftsvereinigung OECD - "was hinten herauskommt", das Ergebnis. Erfasst werden außerdem die verschiedenen Kompetenzen bei den 15-Jährigen, die noch zur Schule gehen. Wie viele 15-Jährige inoffiziell ihrer Schulpflicht nicht nachkommen, beispielsweise in den USA, Mexiko oder Brasilien, oder aber zu welchen menschlichen Kosten diese Ergebnisse erzielt worden sind - man denke nur an die hohe Selbstmordrate unter japanischen Jugendlichen - stand nicht im Vordergrund bei PISA. Ohne zu behaupten, genauer Kenner des britischen, japanischen oder US-amerikanischen Bildungssystems zu sein, behaupte ich dennoch, dass diese Systeme alles andere als vorbildlich zu nennen sind.

Was wiederum nicht heißt, dass man keinerlei Schlüsse aus dem internationalen Vergleich ziehen kann. Tendenzen sind ablesbar und fortschrittliche Lösungsvorschläge sind aus den Erkenntnissen durchaus zu entwickeln. Doch in Deutschland sind Politik, Wirtschaft und teilweise auch Wissenschaft weit davon entfernt.

Die Reaktionen von Seiten der politischen und wirtschaftlichen Elite auf die Erkenntnisse der PISA-Studie können nur als eine Warnung an unsere Kinder verstanden werden. Ein jeder von ihnen nutzt die Analyse, um das herauszugreifen, was er zur Bestätigung seiner Überzeugungen braucht. Die gesamte Diskussion ist von gegenseitigen Schuldzuweisungen statt von ernsthaften Auseinandersetzungen im Interesse der Kinder und Jugendlichen geprägt.

So dreschen einige Politiker nun nach Manier des amtierenden Bundeskanzlers Gerhard Schröder (SPD), der mit seiner Bezeichnung von Lehrern als "Faule Säcke" schon vor längerer Zeit die Zielrichtung vorgab, auf die Lehrer ein.

Einige Lehrer wiederum beschweren sich darüber, dass ihnen keinerlei Disziplinierungsinstrumente gegenüber den Schülern zur Verfügung stünden. Kanzlergattin Doris Schröder-Köpf wusste diesbezüglich schon vor einigen Monaten zu berichten, dass bei einer guten Erziehung eine gewisse Strenge nicht fehlen darf.

Andere, wie etwa der CSU-Kanzlerkandidat und bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber, begründen ihre Forderungen nach mehr Disziplin und Ordnung, sprich Drill, in den Schulen mit dem besseren Abschneiden der japanischen und koreanischen Schüler.

Die übelste Reaktion auf die PISA-Studie und eine für die deutsche Politik und ihre Medien recht typische war, das schlechte Abschneiden der Schüler in der Bundesrepublik mit dem hohen Ausländeranteil zu erklären. Die Studie selbst ist in dieser Frage sehr eindeutig. Erstens würde das Ergebnis für das deutsche Bildungssystem nicht besser ausfallen, wenn man alle Schüler mit "Eltern, die nicht in Deutschland" geboren sind (die "Blutsdefinition" von Ausländern gibt es nur in Deutschland), herausziehen würde. "Im Ranking würde sich dann Deutschland vom 21. auf den 20,5. Platz katapultieren," merkte auf einer Podiumsdiskussion in Essen Klaus Klemm an.

Zweitens sind bei Berücksichtigung der sozialen Hintergründe keinerlei Unterschiede zwischen Schülern festzustellen, deren Eltern in Deutschland bzw. nicht in Deutschland geboren wurden. Ausländer in Deutschland rangieren sozial und schulisch in der unteren Gruppe. Fast zwei Drittel der nicht in Deutschland geborenen Eltern sind als Arbeiter oder Arbeiterinnen beschäftigt, von denen wiederum knapp die Hälfte Anlerntätigkeiten ausübt. Fast die Hälfte der Jugendlichen aus Zuwandererfamilien überschreiten im Lesen nicht die elementare Kompetenzstufe I, obwohl über 70 Prozent von ihnen die deutsche Schule vollständig durchlaufen haben. Dennoch: "Vergleicht man Jugendliche mit gleicher Lesekompetenz, ist keine Benachteiligung von Jugendlichen aus Zuwandererfamilien mehr nachweisbar." Migranten in Deutschland sind schulisch schwach, weil sie sozial schwach sind.

Kinder aus sozial schwachen Familien sind eben schulisch schwach, weil die Schulen bedingt durch die Kürzungen immer weniger ihrem Bildungsauftrag gerecht werden können und so einen großen Teil dessen in die Verantwortung der Eltern bzw. Familien übergeben. Nur jeder zehnte leseschwache Schüler wurde in der Schule als solcher überhaupt erkannt, meldet PISA. Es ist dieser Mechanismus, der den "straffen Zusammenhang zwischen Sozialschichtzugehörigkeit und erworbenen Kompetenzen" durchsetzt, und zwar von Kürzung zu Kürzung intensiver.

Anstatt aber diesen offensichtlichen Hauptgrund für die Mängel im deutschen Bildungssystem anzuerkennen - die frühzeitige und rigorose Selektion der Kinder nach "Leistung", sprich nach sozialer Herkunft - werden von Politik und Wirtschaft zum Großteil Forderungen aufgestellt, die dieses Hauptproblem noch verstärken.

Die Kultusministerkonferenz und damit die in Deutschland für das Schul- und Bildungssystem Verantwortlichen, beschlossen einen Katalog von oberflächlich betrachtet nichtssagenden und unkonkreten Phrasen: "Maßnahmen zur Verbesserung der Sprachkompetenz im Vorschulalter", "Qualitätssicherung", "Professionalität der Lehrerausbildung", usw. Unter den konkreten Bedingungen aber verwandeln sich diese Vorschläge in Instrumente, die die derzeitigen Probleme noch verstärken werden.

Denn erstens ist weder die Bundesregierung noch die Regierung eines Bundeslandes bereit, für die vorgeschlagenen Maßnahmen die Bildungsausgaben großzügig zu erhöhen. Schon jetzt sind die Bildungsausgaben in Deutschland - auch das berichtet die PISA-Studie - im internationalen Vergleich weit unter dem OECD-Durchschnitt. Auffallend dabei ist, dass die Ausgaben für die Schulen in den Klassenstufen 1 bis 10 weit hinterher hinken. In Dänemark zum Beispiel wird fast das Doppelte für Grundschüler ausgegeben. Für Gymnasiasten und Berufsschüler dagegen gibt Deutschland dreimal so viel aus wie für seine Grundschüler und steht hier im internationalen Vergleich nicht so schlecht da.

Zweitens wehren sich alle Bildungsminister und -ministerinnen gegen eine Debatte über das sozial selektierende dreigliedrige Schulsystem. Eine neue Schulformdebatte würde nur Bedrohungsängste schüren, erklärt stellvertretend die nordrhein-westfälische Bildungsministerin Gabriele Behler (SPD). Man fragt sich verwundert, bei wem "Bedrohungsängste" geschürt werden, wenn man die Bekämpfung der sozialen Ungleichheit an den deutschen Schulen diskutiert? Dies ist nicht anders zu verstehen, als dass die Trennung zwischen Arm und Reich an den Schulen erhalten bleiben soll.

Diese Politik der Kultusminister aller Länder wird von konservativen Bildungswissenschaftlern "pädagogisch" begründet. Sie verteidigen vehement die Annahme, dass der Unterricht in homogenen Gruppen das Lernen erleichtern würde, sowohl das der starken als auch der schwachen Schüler. Dieses System erleichtert allerhöchstens die Arbeit des Gymnasiallehrers, bei gleichzeitiger Erschwernis der Arbeit aller anderer Lehrer. Denn letztere haben jene Schüler zu unterrichten, denen schon in jungen Jahren deutlich gemacht wird, sie seien "Versager". Wie die in Deutschland im Rahmen von PISA zusätzlich erhobenen Daten zeigen, wurden 12 Prozent der 15-Jährigen zunächst vom Schulbesuch zurückgestellt und 24 Prozent mussten im Verlauf ihrer Schulzeit eine Klasse wiederholen. Der Anteil beträgt unter den 15-Jährigen insgesamt also 36 Prozent. Dabei nimmt der Anteil der Jugendlichen, deren Schulkarriere glatt verlaufen ist, im Verlauf der Schulzeit deutlich ab.

Zusätzlich zu den Zurückgestellten und den Wiederholern gibt es einen nicht zu übersehenden Anteil an Jugendlichen, die mit hohen Bildungsaspirationen in eine anspruchshöhere Schule aufgenommen wurden und diese aufgrund nicht ausreichender Leistungen wieder verlassen mussten. Zu diesen "Rückläufern" zählen rund 16 Prozent der in Hauptschulen erfassten, rund 9 Prozent der in Realschulen und mindestens 10 Prozent der in Integrierten Gesamtschulen erfassten 15-Jährigen. "Fasst man Rückläufer und Wiederholer zusammen, muss man zu dem Ergebnis kommen, dass mindestens ein Drittel der in Deutschland erfassten Schülerinnen und Schüler eine Schullaufbahn hinter sich hat, die durch Misserfolgserlebnisse gekennzeichnet ist."

Es ist diese Struktur des Schul- und Bildungssystem, die den Schülern - und Lehrern - jeglichen Spaß, das Vergnügen und somit das Interesse am Lernen raubt. Diese Struktur wirkt auch auf die Lehrer. Man darf einem derzeitig angehenden Lehrer Idealismus und Engagement unterstellen, erst recht, wenn er sich entscheidet, an einer Grund-, Haupt- oder Sonderschule zu unterrichten. Doch der größte Einsatz wird durch eine Politik zunichte gemacht, die durch die ständigen Kürzungen (Erhöhung der Klassenstärken, der Lehrerarbeitszeiten, marode Schulen mit mangelhafter Ausstattung, usw.) die Arbeit gerade an Grund- und Hauptschulen fast unmöglich macht - Ausnahmen bestätigen hier nur die Regel. Nicht nur durch den jahrelangen Einstellungsstopp bei Lehrern sind daher die Lehrerkollegien stark überaltert. Rund 60 Prozent der Lehrer auf den allgemeinbildenden Schulen in Deutschland sind über 45 Jahre alt.

Forderungen, die nun im Fahrtwind der Diskussion um die PISA-Ergebnisse ins Rampenlicht gebracht werden, werden diese Situation nicht ändern; so etwa das Konzept der "Autonomen Schule". Danach soll den einzelnen Schulen ein bestimmtes finanzielles Budget zur Verfügung gestellt werden, über das die Schule dann frei verfügen kann. Der eine oder andere Schulleiter wird diesem Konzept etwas abverlangen können und es unterstützen, um von den teilweise absurden Auflagen freizukommen, die sich durch die bürokratisch-staatliche Verwaltung der Schulen ergeben. Doch unter den gegebenen Umständen, bei sinkenden Ausgaben für die Schulen, würde dies dazu führen, dass die Schulen bzw. deren Leitung, selbst für Entlassungen, Kürzungen usw. verantwortlich gemacht werden. Im Zusammenhang mit dem Ruf nach einer Stärkung des "schuleigenen Profils", würde dieses Konzept zu einem erhöhten Wettbewerb zwischen den einzelnen Schulen führen. Dieser Wettbewerb wird sich nur am Rande um die besseren pädagogischen Konzepte drehen. Er wird vor allem um Sponsoren und Spender aus der Wirtschaft und schließlich um die "besten" Schüler gehen. Einer weiteren sozialen Polarisierung und damit Verstärkung des jetzt schon unsozialen Schulsystems würde Tür und Tor geöffnet.

Die derzeit vehement geforderte Vorverlegung des Schuleintrittsalters oder die Integration des Kindergartens in die Schule würde ebenso - unabhängig von den Beweggründen derjenigen, die dieses Ansinnen vorbringen - unter den gegebenen Umständen ein Schuss sein, der nach hinten los geht. Dies hätte lediglich zur Folge, dass den Kindern nicht erst mit sechs oder sieben, bei Eintritt in die Grundschule, der Spaß am Lernen verdorben wird, sondern bereits mit vier oder fünf Jahren.

Schlussfolgerungen aus der PISA-Studie

Das Hauptproblem des deutschen Bildungssystems ist die Vertiefung der ohnehin wachsenden sozialen Ungleichheit. Dies belegt die PISA-Studie und legt nahe, dass dies hauptsächlich im alten dreigliedrigen System begründet ist, dass angeblich leistungsbezogen, in Wahrheit aber sozial auswählt. Die Kinder und Jugendlichen müssen in den Mittelpunkt des pädagogischen Bemühens gestellt werden. Nicht die Kinder müssen auf ihre "Schulreife" getrimmt werden, auf "Wissens-Output" und Faktenhuberei, sondern die Frage muss gestellt werden, ob die Schule reif für die Kinder ist? Eine Abkehr von diesem System der Sozialauslese ist Grundvoraussetzung für alle weiteren konkreten Reformen, die durchaus aus den Erkenntnissen der PISA-Studie abgeleitet werden können:

  • Zunächst eine große Aufstockung der finanziellen Mittel, um Schulen zu erhalten, Lehrmittel zu beschaffen, Lehrer fortzubilden. Die Behauptung, eine gute Bildung müsse nicht unbedingt mehr Geld verlangen, ist absurd.
  • Ein umfassendes und einheitliches Schulsystem, in dem ein jeder gemäß seinen Neigungen und Fähigkeiten gezielt gefördert werden kann.
  • Fortschrittliche Unterrichtsmethoden in diesem Schulsystem. Die Verschiedenheit der Schüler in ihren Kompetenzen und Defiziten müssen als Chance für eine bessere Förderung der schwächeren und der stärkeren Schüler begriffen werden. Wer würde bezweifeln, dass ein Thema oder ein Fachgebiet erst wirklich begriffen und verstanden worden ist, wenn man dies selbst anderen vermittelt hat? Darüber hinaus ist ein verändertes Lehrerbild überfällig. Der Lehrer muss sich als Verbündeter der Schüler verstehen, der ihnen beim Lernen mit Rat und Tat zur Seite steht, anstatt ihr Lernen zu kontrollieren und die Schüler bei "nicht erbrachten Leistungen" zu bestrafen (benoten). In diesem Miteinander statt Gegeneinander würden auch soziale Kompetenzen gedeihen, die in der heutigen offiziellen Gesellschaft fast schon verpönt sind: Solidarität, Toleranz, Einfühlungsvermögen.
  • Neben der Neubestimmung der Methoden auch eine der Lerninhalte. Die Welt und das Wissen darüber sind in einem stetigen Wandel. Dies muss sich im Lehrplan bemerkbar machen. Insbesondere das selbständige Lernen, die Beschaffung von und der Umgang mit Informationen im Zeitalter des Internets muss vermittelt werden. Auch dies wiederum würde eine Aufstockung der Finanzen mit sich bringen, um die notwendigen Lehrmittel zu beschaffen.

Die rot-grüne Bundesregierung sowie die Länderregierungen haben mit ihrer Politik der letzten Jahre und Jahrzehnte genauso wie mit ihren jetzigen Reaktionen auf die PISA-Studie gezeigt, dass sie weder das alte Schul- und Bildungssystem antasten noch zusätzlich Finanzen dafür bereitstellen wollen. All ihre sogenannten "Bildungsreformen" sollen wie stets auf der einen Seite die Finanzmittel für die Bildung im Interesse der Wirtschaft beschneiden und auf der anderen Seite der Bevölkerung auch noch weismachen, ihre Reformen dienten der Verbesserung der Zukunft unserer Kinder. Von CDU/CSU, SPD, FDP, Grünen, PDS und Gewerkschaften erhoffen, diese würden die "Bildungsmisere" eindämmen oder gar stoppen, hieße, darauf zu vertrauen, den Teufel mit dem Beelzebub austreiben zu können.

Siehe auch:
Teil 1: Die Ergebnisse
(8. Februar 2002)
Die PISA-Studie im Netz
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