Die ungarische Revolution von 1956

Teil 3

Die folgende, dreiteilige Artikelserie erschien erstmals im Dezember 1996 in der Zeitung Neue Arbeiterpresse. Wir geben sie hier mit kleineren redaktionellen Änderungen wieder.

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Arbeiterräte organisieren den Widerstand

Dass die ungarische Revolution alles andere als ein konterrevolutionärer Aufstand zur Wiederherstellung der kapitalistischen Ordnung war, zeigt sich vor allem an der Rolle der Arbeiterräte. Die Regierung Kadar hatte alle Mühe, die in Moskau beschlossene Politik gegen die Arbeiterräte durchzusetzen, die nicht nur das Rückgrat des bewaffneten Widerstands bildeten, sondern immer noch im ganzen Land weitgehend das politische und wirtschaftliche Leben kontrollierten.

Der erste Arbeiterrat war in der Glühbirnenfabrik Eggesult Izzo, einem der größten Betriebe Budapests mit rund 10.000 Arbeitern schon am 24. Oktober gewählt worden, als die Sowjetpanzer zum ersten Mal in die Hauptstadt rollten und die Verteidigung noch zum großen Teil von bewaffneten Studenten und Arbeitern durchgeführt wurde, die sich in Revolutionskomitees spontan zusammengeschlossen hatten. Der Arbeiterrat forderte damals die Absetzung der von der Bürokratie berufenen Betriebsleitungen und ihre Ersetzung durch Arbeiterräte auf allen Ebenen der Produktion: "Lasst uns zeigen, dass wir die Angelegenheit besser regeln können als unsere blinden herrschsüchtigen Chefs", hieß es in der 10-Punkte-Erklärung des Rates.

In den folgenden Tagen wurden Arbeiterräte in Stahlwerken, Donauwerften, Bergwerken und zahlreichen anderen Betrieben überall in Ungarn aufgebaut. Ihre politischen Forderungen, die sich weitgehend mit denen der Studenten deckten, versuchten sie durch einen Generalstreik durchzusetzen. Auf einer Versammlung der Delegierten der Arbeiterräte der größten Budapester Betriebe wurde ein Programm verabschiedet, das mit der Feststellung beginnt: "Die Betriebe gehören den Arbeitern".

Als am 4. November erneut die sowjetischen Panzertruppen eingriffen, die Regierung Nagy zusammenbrach und alle "Reformer" des stalinistischen Apparats vor der Kremlbürokratie kapitulierten, zeigte sich ganz deutlich, dass die Arbeiterklasse und die von ihr gebildeten Räte die entscheidende Triebkraft der ungarischen Revolution waren. War von der Macht der Regierung Nagy außerhalb des Regierungsgebäudes vorher kaum etwas spürbar gewesen, so ging diese, als die Lage sich zuspitzte, immer weiter nach rechts. Sie konnte und wollte sich nicht auf die Arbeiter stützen. Stattdessen appellierte sie an die Imperialisten und die UNO.

Auch als die Kampfgruppen der Studenten und Arbeiter kaum mehr in der Lage waren, gegen die Übermacht der Panzer militärischen Widerstand zu leisten, kämpften die Arbeiter in den Räten und Betreiben weiter. Sie organisierten erneut einen politischen Generalstreik, diesmal gegen die neue Regierung unter Kadar, die eng mit der Sowjetregierung zusammenarbeitete. Dieser Streik wurde trotz der Belagerung durch die Kremltruppen einen ganzen Monat durchgehalten.

In den Arbeitervierteln von Budapest, den Industrievororten und Städten im ganzen Land stieß die stalinistische Besatzung auf erbitterten Widerstand.

In Dunapentele, einer Stadt, die um gewaltige Eisen- und Stahlwerke herum gebaut worden war, gab der Arbeiterrat während der Belagerung eine Erklärung heraus, in der es hieß: "Dunapentele ist die führende sozialistische Stadt in Ungarn. In dieser Stadt sind alle Einwohner Arbeiter, und sie haben die Macht hier... Die Bevölkerung der Stadt ist bewaffnet. Sie wird nicht aufgeben, weil sie die Fabriken und die Häuser mit ihren eigenen Händen aufgebaut hat... Die Arbeiter werden die Stadt gegen den Faschismus ebenso verteidigen - wie gegen die Sowjettruppen."

Auch die Budapester Arbeiter verteidigten tagelang die von ihnen besetzten Fabriken gegen die Panzer. Die Krankenhäuser berichteten, dass die große Mehrzahl der Toten und Verwundeten junge Arbeiter waren, während die schöngelegenen Villenviertel von Budapest, in denen die höheren Mittelschichten wohnen, von den Kämpfen kaum berührt wurden.

Am 9. November gelang es der Regierung, die Mehrheit des Zentralrats der Budapester Arbeiter zu verhaften, nachdem dieser seinen Streikaufruf erneuert hatte und daraufhin von der Regierung verboten worden war. Aber selbst darauf reagierten die Arbeiter keineswegs mit Einschüchterung, sondern weiteten am 11. und 12. Dezember ihre Streiks aus. Selbst die Zeitung der Kommunistischen Partei Nepszabadsag konnte nicht umhin, diesen Streik als den "größten der Geschichte der ungarischen Arbeiterbewegung" zu bezeichnen.

Die Regierung verkündete nun den Notstand, der ihr die Vollmacht gab, alle Versammlungen und Demonstrationen zu verbieten und auf jede Missachtung des Verbots mit Inhaftierung ohne Gerichtsurteil zu reagieren. Dennoch setzten die Arbeiter ihren Kampf fort.

In den Eisen- und Stahlwerken von Csepel wurde ein Sitzstreik durchgeführt. Die Arbeiter verlangten die Freilassung ihrer Führer. Ein Sprecher erklärte: "Wir denken, dass dies die einzig vernünftige Sache ist, die wir im Moment machen können. Wir sind in die Fabrik gekommen, weil wir unseren Lohn brauchen und weil wir hier zusammen sind. Wenn wir zu Hause bleiben würden, wären die Fabriktore verschlossen, und es wäre viel leichter für die Regierung, unserer einzeln habhaft zu werden, als hier in der Fabrik, wo wir vereinigt sind."

Diese Sitzstreiks breiteten sich auf zahlreiche andere Großbetriebe aus. Als schließlich AVH und Sowjettruppen eingesetzt wurden, um die Fabriken zu übernehmen, kam es zu bewaffneten Zusammenstößen.

Als am 11. November der letzte bewaffnete Widerstand im Roten Csepel eingestellt wurde, blieben die Arbeiter in den Betrieben, Regionen und Städten, ja, selbst auf nationaler Ebene in Räten organisiert und erhielten den Streik aufrecht.

Sie stellten der Moskauer und der ungarischen Regierung Bedingungen, unter denen sie bereit wären, wieder an die Arbeit zurückzukehren: Freilassung der politischen Gefangenen und Rückzug der sowjetischen Truppen. Ihr Ziel war, die Fabriken unter der Kontrolle der Arbeiter zu behalten und die Macht der Räte zu stärken.

Für den 21. November war in Budapest eine Versammlung geplant, auf der ein nationaler Arbeiterrat gebildet werden sollte. Als die Arbeiter am Versammlungsort ankamen, hatten Polizei und Armee die Eingänge des Gebäudes abgeriegelt. Die Delegierten ließen sich jedoch nicht abschrecken und hielten die Versammlung unter massiver militärischer Bedrohung an einem anderen Ort ab. Viele Arbeiter in den Betrieben traten in Proteststreiks, weil sie befürchteten, die Delegierten seien verhaftet worden.

Erst nach Wochen der Schwächung und politischen Auseinandersetzungen innerhalb der Räte war es der Regierung Kadar möglich, ihre Macht gegenüber den Räten zu festigen. Weil sie in Ermangelung einer unabhängigen, politischen Führung nicht in der Lage waren, selbst die Macht im Land zu übernehmen, verhandelten die Delegierten der Arbeiterräte endlos mit der Regierung Kadar. In den meisten Räten stimmte schließlich eine Mehrheit dafür, die Arbeit wieder aufzunehmen. Aber dieser Aufruf wurde nur von einem Viertel der Arbeiter befolgt.

Im Januar glaubte sich die Regierung Kadar dann jedoch stark genug zum entscheidenden Schlag. Sie erließ eine Verordnung, die Streiks oder den Aufruf zu Streiks unter Androhung der Todesstrafe verbot und die Arbeiterräte in ihrer Macht beschränkte. Sie sollten keine politischen Entscheidungen mehr treffen dürfen und alle Beschlüsse, die Betriebe beträfen, müssten durch einen politischen Kommissar der stalinistischen Partei abgesegnet werden.

Aber die Arbeiterräte wollten um keinen Preis in Instrumente der Bürokratie verwandelt werden und beschlossen, sich lieber selbst aufzulösen.

Ungarn und die Vierte Internationale

Die Einsetzung der Regierung Kadar, der als Mitglied der Regierung Nagy ein gewisses Vertrauen in manchen Schichten der Bevölkerung genoss, vor allem bei Bauern und den städtischen Mittelschichten, war ein perfider Schachzug der Kremlbürokratie, der ebenfalls bis ins Detail mit der jugoslawischen Regierung abgesprochen worden war. Sie überließen es Kadar, endlos mit den Arbeitern zu verhandeln und ihnen falsche Versprechungen machen, um sie zum Aufgeben des Kampfs zu zwingen.

Dass sich Moskau mit diesen Manövern am Ende durchsetzen konnte, hat seinen Grund nicht darin, dass Kadar schließlich bei den Arbeitermassen doch noch Unterstützung gefunden hätte. Diesen fehlte es vielmehr an einer klaren marxistischen Einschätzung ihres Gegners, der stalinistischen Bürokratie, und an klaren revolutionären Perspektiven für ihren Sturz. Viele Arbeiter durchschauten die Manöver Kadars nicht, oder sie hatten Illusionen in Nagy. Das Fehlen einer revolutionären sozialistischen Führung besiegelte letztlich die Niederlage des Ungarnaufstands.

Nur die Trotzkisten vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale warnten die ungarischen Arbeiter davor, auch nur das geringste Vertrauen in irgendeinen "Reformflügel" der Bürokratie zu setzen oder ihr Schicksal gar in die Hände der Westmächte oder der UNO zu legen. Sie traten für die Einheit der Arbeiter Ungarns, Osteuropas und der Sowjetunion zum Sturz der stalinistischen Bürokratie ein. Sie stützten sich dabei auf Leo Trotzkis Analyse des Stalinismus, der bereits in den 1930er Jahren zum Schluss gelangt war, dass die Bürokratie ihre Macht und ihre Privilegien gegenüber der Arbeiterklasse nur durch die immer engere Zusammenarbeit mit der imperialistischen Bourgeoisie verteidigen könne. Der Weg zum Sozialismus könne nur wieder freigemacht werden, indem die Arbeiter die Bürokratie durch eine politische Revolution stürzen und sich mit den Arbeitern im Westen zur sozialistischen Weltrevolution vereinigen.

Diese Perspektiven lagen der Gründung der Vierten Internationale im Jahr 1938 zugrunde. In ihrem Gründungsprogramm heißt es: "Entweder stößt die Bürokratie, die immer mehr zum Werkzeug der Weltbourgeoisie im Arbeiterstaat wird, die neuen Eigentumsformen um und wirft das Land in den Kapitalismus zurück, oder die Arbeiterklasse zerschlägt die Bürokratie und öffnet den Weg zum Sozialismus."

Doch die ungarischen Arbeiter waren 1956 von diesen Perspektiven abgeschnitten. Es gab in Ungarn selbst keine Partei der Vierten Internationale. Bereits in den 30er Jahren hatte die stalinistische Bürokratie einen wahren Völkermord an ihren linken Gegnern durchgeführt. Nicht nur in der Sowjetunion, auch in den anderen Parteien der Komintern waren im Zuge der Moskauer Prozesse und des Großen Terrors die wichtigsten Kader umgebracht worden. Hauptziel der Säuberungen und Massenhinrichtungen waren die Anhänger Leo Trotzkis, die Linke Opposition und dann die Vierte Internationale. Trotzki selbst wurde 1940 auf Stalins Geheiß in Mexiko ermordet.

Hinzu kam, dass sich innerhalb der Vierten Internationale in der Nachkriegszeit eine opportunistische Tendenz herausgebildet hatte, die Trotzkis Einschätzung des Stalinismus in Frage stellte. Michel Pablo und Ernest Mandel folgerten aus den Verstaatlichungen und planwirtschaftlichen Maßnahmen, welche die stalinistische Bürokratie Ende der vierziger Jahre in Osteuropa durchführte, diese werde unter dem Druck der Arbeitermassen nach links gehen, langsam aber sicher den Sozialismus errichten und so eine geschichtlich fortschrittliche Rolle spielen. Der Aufbau von Parteien der Vierten Internationale als unabhängige marxistische Führung sei deshalb überflüssig.

Die Anhänger Pablos und Mandels verherrlichten Tito und angebliche "Reformer" innerhalb der stalinistischen Bürokratie - wie Nagy in Ungarn oder Gomulka in Polen. Chruschtschow feierten sie auf Grund seiner Geheimrede auf dem 20. Parteitag als "Antistalinisten". Das entwaffnete die Arbeiter in Ungarn. Die politische Knebelung der ungarischen Arbeiter durch Nagy und die blutige Niederschlagung ihres Aufstands durch Chruschtschows Panzer enthüllten nicht nur das wahre Gesicht der stalinistischen "Reformer", sondern auch den politischen Charakter des Pablismus als Anhängsel und Stütze einer konterrevolutionären Bürokratie.

Das Internationale Komitee war drei Jahre zuvor gegründet worden, um die revolutionären Perspektiven des Trotzkismus gegen den pablistischen Opportunismus zu verteidigen. Es war 1956 zwar in Ungarn nicht vertreten, unternahm aber alles, die Arbeiter dort politisch zu unterstützen. Es veröffentlichte gezielt alle von den stalinistischen und kapitalistischen Medien unterdrückten Nachrichten über die ungarische Revolution.

Insbesondere die britische Sektion des Internationalen Komitees ging mit den Lehren aus dem Ungarn-Aufstand in die Offensive gegen den Stalinismus. Sie wandte sich gezielt an Arbeiter, Jugendliche und Intellektuelle, die der Kommunistischen Partei angehörten oder ihr nahe standen, aber vom brutalen Vorgehen der Bürokratie verunsichert und abgestoßen waren. So waren die Trotzkisten in der Lage, die besten Mitglieder der alten Kommunistischen Parteien dafür zu gewinnen, dass sie mit dem Stalinismus brachen und sich der Vierten Internationale zuwandten. Dies stärkte ihre Autorität in der Arbeiterklasse und brachte den Aufbau ihrer eigenen Sektion voran

Die wahre Rolle der Bürokratie zeigte sich in Ungarn auch in den folgenden Jahrzehnten unter der Herrschaft Kadars sehr deutlich. Seine "Reformen", die er mit Billigung der Kremlbürokratie durchführte, zielten bereits in den sechziger Jahren auf die Einführung marktwirtschaftlicher Elemente und Ausbeutungsbedingungen. 1980 begann er vehement gegen die sogenannte "Gleichmacherei" zu wettern, weil sich die Arbeiter gegen die wachsenden sozialen Unterschiede auflehnten. Kadars Nachfolger an der Spitze der stalinistischen Partei und ihrer Nachfolgeorganisationen, wie Gyula Horn oder Ferenc Gyurcsany, setzten sich dann am energischsten für die Wiedereinführung kapitalistischer Verhältnisse ein.

Es verhält sich also gerade umgekehrt mit dem Erbe des Ungarn-Aufstands, als dies von der bürgerlichen Propaganda behauptet wird. Nicht die Arbeiter, sondern die stalinistischen Bürokraten steuerten auf die Marktwirtschaft zu. Die Arbeiterklasse kämpfte 1956 für den Sozialismus. Die Bürokratie dagegen schuf mit der blutigen Niederschlagung des Aufstands die politischen Voraussetzungen für weitere Schritte auf ihrem Weg zur Wiedereinführung der kapitalistischen Profitwirtschaft.

Ende

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