Varoufakis verurteilt die Arbeiterklasse und lobt die Tories

Der ehemalige griechische Finanzminister Yanis Varoufakis hielt letzten Monat bei einem Treffen der britischen Initiative People’s Assembly against Austerity (Volksversammlung gegen Austerität) die Hauptrede mit dem Titel „Kämpft für unsere Zukunft“.

Die People’s Assembly ist eine Koalition aus Labour-Politikern, Gewerkschaften, Grünen und pseudolinken Gruppen, die 2013 gegründet wurde. Varoufakis war also unter seinesgleichen und spürte keine Hemmungen, zu sagen, was er wollte.

Yanis Varoufakis spricht vor der People’s Assembly against Austerity

Er erklärte seinem Publikum zwar: „Ich spreche nicht als ehemaliger Finanzminister und auch nicht als Abgeordneter des griechischen Parlaments.“ Doch er war der wichtigste Mann des Syriza-Ministerpräsidenten Alexis Tsipras bei den Verhandlungen mit den Finanzministern der Eurozone und muss für seine politischen Handlungen zur Verantwortung gezogen werden.

Er hatte monatelang behauptet, man könne mit der „Troika“ aus der Europäischen Kommission, der Europäischen Zentralbank und dem Internationalen Währungsfonds einen Kompromiss aushandeln. Zu diesem Zweck machten er und Tsipras ein Zugeständnis nach dem anderen. Erst nachdem die griechische Bevölkerung in einem Referendum den Sparkurs eindeutig abgelehnt hatte, beschloss Tsipras, auf Varoufakis Dienste zu verzichten. Danach stimmte er Sparmaßnahmen zu, die alles in den Schatten stellten, was davor diskutiert worden war. Varoufakis inszenierte sich erst nach dem Verrat, an dessen Vorbereitung er beteiligt war, als Opponent.

In einem Interview mit der britischen Zeitung Observer erklärte Varoufakis letzten Monat schamlos, dass er als Syrizas Verhandlungsführer „die übliche Thatchersche oder Reagansche“ Wirtschaftspolitik vorgeschlagen hatte, darunter Steuersenkungen und Privatisierungen. Vor seinem Londoner Publikum erzählte er stolz, er hätte die Unterstützung von US-Präsident Barack Obama genossen, der ebenfalls der Meinung war, Austerität sei „Mist“.

Im Zentrum seiner Rede stand erneut seine Behauptung, es gäbe keine sozialistische Alternative zur Krise des Kapitalismus. Dieser müsse, wie er schon früher erklärt hatte, „vor sich selbst gerettet werden.“

Auffällig war, dass er diese Absage an den Sozialismus, die mittlerweile bei ihm schon Routine geworden ist, mit einem ausdrücklichen Angriff auf die Arbeiterklasse verband.

Er ging wieder einmal auf seine prägenden politischen Erfahrungen nach der Wahl der konservativen Politikerin Margaret Thatcher 1979 in Großbritannien ein. Damals war er Student an der Universität von Essex. Die World Socialist Web Site hatte bereits Varoufakis’ Essay „Wie ich zu einem ‘erratischen Marxisten’ wurde“ kommentiert, in dem er schrieb:

„Welche positiven Resultate haben wir in England in den frühen 1980er Jahren erzielt durch unser Eintreten für sozialistische Veränderung, von der die britische Gesellschaft, die bereitwillig in Thatchers neoliberale Falle tappte, gar nichts wissen wollte? Gar keine.“

Diesmal suchte er aber nicht die Schuld bei seinem eigenen jugendlichen Idealismus oder der „Gesellschaft“ als Ganzem, die nicht fähig gewesen sei, sich dem Thatcherismus entgegenzustellen. Schuld seien jetzt vielmehr die britischen Bergarbeiter und Druckereiarbeiter.

Von 1984 bis 1985 führten die Bergarbeiter einen heldenhaften Kampf gegen die konservative Regierung, die alle Mittel der Staatsmacht gegen sie mobilisiert hatte. Doch der Streik wurde von der Labour Party und der Gewerkschaftsbürokratie isoliert. Die Bergarbeitergewerkschaft National Union of Mineworkers, die damals von Arthur Scargill angeführt wurde, weigerte sich, Widerstand gegen diesen Verrat zu leisten und besiegelte damit die Niederlage der Bergarbeiter. Der Streik der Druckereiarbeiter 1986–87 gegen Rupert Murdoch’s Verlagshaus News International in Wapping begann nach dieser strategischen Niederlage der Bergarbeiter und erlitt das gleiche Schicksal.

Varoufakis konnte seine Verachtung für den Kampf der Bergarbeiter kaum verbergen. In dessen Verlauf wurden 20.000 Menschen verletzt oder mussten ins Krankenhaus eingewiesen werden; 13.000 wurden verhaftet; 200 wurden zu Haftstrafen verurteilt; zwei Arbeiter wurden auf Streikposten getötet; drei weitere starben beim Abbau der Kohle. Ihre Niederlage führte zur Zerstörung der Kohleindustrie und zum Verlust von 180.000 Arbeitsplätzen. Auch für die 5.000 Drucker, die von Murdoch entlassen, mehrfach von der Bereitschaftspolizei angegriffen und Opfer eines organisierten Streikbruchs durch die Elektrikergewerkschaft EETPU wurden, hatte Varoufakis nur Geringschätzung übrig.

Er erklärte seinem Publikum, er habe während dieser Arbeitskämpfe auf Streikposten gestanden, um dann zu behaupten, dass beide Streiks darauf basierten, „Bastionen zu verteidigen, die aufgrund revolutionierender Technologien im Zerfall begriffen waren.“

Die Druckergewerkschaften hätten nie überlebt, „wenn sie sich an eine veraltete Technologie geklammert und sich auf luddistische Weise gegen die neuen Technologien gewehrt hätten, die Rupert Murdoch einführen wollte.“

Mit der Beschreibung „luddistisch“ bezieht sich Varoufakis auf die sogenannten Ludditen oder „Maschinenstürmer“, eine Bezeichnung für englische Textilarbeiter, die unter der Führung von Ned Ludd am Anfang des 19. Jahrhunderts gegen die Verschlechterung ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen aufgrund der beginnenden Industrialisierung kämpften.

Über die Bergarbeiter erklärte Varoufakis: „Heute können wir uns keine Kohlekraftwerke vorstellen, ohne dabei in Konflikt mit unseren Pflichten gegenüber dem Planeten zu geraten.“

Er beendete seinen Rückblick in die Geschichte mit einem Lob für den „Thatcherismus“ und seinen „dynamischen und, in gewisser Weise, radikalen Individualismus.“

Varoufakis hat vielleicht ein- oder zweimal einen Streikposten besucht, aber diese Erfahrung hat allem Anschein nach nur seine Bewunderung für Thatcher verstärkt. Nach ihrem Tod im April 2013 schrieb Varoufakis auf seinem Blog: „Trotz allem werden Sie bereits vermisst [...] Der Moment des Todes ist nicht die Zeit für eine vollständige Kritik des Lebens, das gerade zu Ende gegangen ist. Es ist der Zeitpunkt, großzügig darüber zu reflektieren, wie sich dieses Leben auf uns alle ausgewirkt hat. Ich werde nie das Gefühl der Bewunderung vergessen, das ich für ihre Reden im Unterhaus empfunden habe, für ihre entschlossene Verteidigung ihrer Regierung und Philosophie [...] Die Welt war ein besserer Ort, als es beeindruckenden Persönlichkeiten wie Thatcher möglich war, an die Spitze zu gelangen.“

Seine Gedankengänge über Großbritannien in den 1980er Jahren weisen auf die zentrale Rolle hin, die der Stalinismus bei der politischen Entwicklung der Syriza-Führung und anderen Kräften, beispielsweise Pablo Iglesias in Spanien, gespielt hat. Diese Kräfte haben sich zu wichtigen politischen Akteuren bei der Unterdrückung des Klassenkampfes und der Umsetzung des Sparkurses entwickelt.

Varoufakis verbrachte seine Studienzeit an der Universität von Essex, wo damals der führende eurokommunistische Theoretiker Ernesto Laclau als Professor für politische Theorie unterrichtete. David Howarth, Professor am Institut für Staatswissenschaft, schrieb am 29. Januar in der britischen Zeitung The Independent stolz, die Universität habe eine wichtige Rolle dabei gespielt, die Führung von Syriza zu formen: „Der neue Finanzminister Yanis Varoufakis, der bei uns Wirtschaft studiert hat, und die neue Syriza-Abgeordnete in Korfu, Fotini Vaki, sind beide ehemalige Essex-Studenten. Die Präfektin (oder Gouverneurin) von Athen, Rena Dourou, ebenso.“ Dourous „Masterkurs war inspiriert von dem späten Professor Ernesto Laclau, einem politischen Exilanten aus Argentinien.“

Laclau wies in seinen Werken die marxistische Ökonomie und das Primat des Klassenkampfes zurück. Man kann nicht genau sagen, in welchem Ausmaß Varoufakis mit Laclaus Werken vertraut war, aber er war zweifellos beeinflusst von den allgemeinen politischen Vorstellungen, mit denen Laclau und der Lehrkörper von Essex in Verbindung standen. Das politische Sprachrohr dieser Positionen war die Zeitschrift Marxism Today. In dieser Zeitschrift artikulierten Persönlichkeiten, die mit dem Europa-Flügel der Kommunistischen Partei Großbritanniens in Verbindung standen, die ersten ideologischen Grundlagen der Tendenz, aus der später New Labour hervorging.

Seit der Wahl der konservativen Thatcher-Regierung 1979 behauptete Marxism Today, es sei nicht mehr möglich, für eine klassenbasierte Politik einzutreten. Der Historiker Eric Hobsbawm hatte 1978 in seinem Marx-Gedenkvortrag erklärt, der Anteil des Proletariats an der Bevölkerung, den er fälschlicherweise auf die Arbeiter in der Schwerindustrie reduzierte, sinke. Die Labour Party und die Kommunistischen Parteien müssten sich an diese „neuen Realitäten“ anpassen. Marxism Today argumentierte, die Labour Party müsse in der „Ära des Post-Fordismus“, wie sie es bezeichnete, von ihrer einseitigen Orientierung auf die Arbeiterklasse abrücken und eine Anti-Thatcher-Koalition aufbauen, indem sie sich zu den wirtschaftlichen Veränderungen unter Thatcher bekennt und gleichzeitig einen kulturellen Appell an die „fortschrittlichen“ Kräfte in den Mittelschichten richtet.

Die Septemberausgabe 1988 von Marxism Today mit dem Titel „Facing up to the Future“ charakterisierte den Thatcherismus mit denselben Begriffen wie heute Varoufakis. Der Thatcherismus sei, so das Blatt, geprägt von einem „dynamischem und, in gewisser Weise, radikalem Individualismus,“ der sich „nicht auf eine einzige Klasse verlässt, sondern ein Bündnis aus verschiedenen sozialen Kräften geschaffen hat.“

„Im modernen Kapitalismus ist Klassenzugehörigkeit nicht mehr allein das Ergebnis der Polarisierung zwischen einer herrschenden Klasse, die die Produktionsmittel besitzt, und einer Arbeiterklasse aus Lohnabhängigen.“, heißt es dort. „Die Entwicklung des Kapitalismus in der Nachkriegszeit hat große Teile von Lohnabhängigen und Selbstständigen hervorgebracht, die eine gewisse Form von Produktionsmitteln kontrollieren – Fähigkeiten, Wissen, organisatorische Macht über die Produktion. Sie sind gleichzeitig Ausgebeutete und Ausbeuter [...] Die Bedeutung dieser Widersprüche innerhalb der werktätigen Bevölkerung besteht darin, dass eine Klasse heute nicht mehr direkter Ausdruck der gemeinsamen Interessen für den modernen Sozialismus sein kann.“

Stattdessen müsse Politik auf „dem Verständnis von Geschlecht und Ethnizität, regionalen und religiösen Zugehörigkeiten“ basieren.

Die politischen Rezepte, die Marxism Today vertrat, lieferten eine perfekte Rechtfertigung für den Rechtsruck der Labour Party unter Neil Kinnock und den Verrat der Gewerkschaften in diesen Jahren.

Später, im Jahr 1991, gab die Zeitschrift Tony Blair, damals Sprecher des Schatten-Arbeitsministers, eine Plattform für seinen Artikel „Forging a New Agenda“. Darin erklärte Blair: „Die Politik ist nicht mehr von einem einfachen Kampf zwischen Staat und Markt dominiert [...]. Sozialisten stehen vor der Herausforderung, wieder eine öffentliche Aktionsagenda zu etablieren, ohne die alten Fehler des Kollektivismus zu begehen.“

Varoufakis ist im Wesentlichen ein neuer Blair im griechischen Kontext. Er wurde von den gleichen politischen Ereignissen geprägt und hat aus ihnen die gleichen politischen Schlüsse gezogen. Der Karrierepolitiker Blair und der Akademiker Varoufakis waren beide gefesselt von Thatchers angeblichen Erfolgen und beide betrachteten die Arbeiterklasse mit Feindschaft und Verachtung.

Die Umwandlung der Labour Party in New Labour wurde von Blair vorbereitet und angeführt. New Labour orientierte sich an Thatcher’s Vorstellung einer freien Marktwirtschaft und richtete sich zugleich nach den gesellschaftlichen Gepflogenheiten der privilegierten Mittelschichten, aus denen sich ihre Anhänger rekrutierten und deren Positionen Marxism Today artikuliert hatte. Blairs Treffen mit Thatcher nach seinem Wahlsieg 1997, bei dem sie den Labour-Vorsitzenden als „großen Patrioten“ bezeichnete, ging in die Geschichte ein. Als Thatcher einmal gefragt wurde, was sie für ihr größtes Vermächtnis halte, antwortete sie: „New Labour“.

Varoufakis beschritt dieselbe Laufbahn über politische Ämter und Freundschaften mit hochrangigen Thatcher-Anhängern, nur nahm er den Rundweg über eine lukrative Akademikerkarriere und eine Stelle als Berater von Giorgos Papandreou, dem Vorsitzenden der sozialdemokratischen PASOK, bevor er von Tsipras zum Finanzminister ernannt wurde.

Mittlerweile zählt er diejenigen, die einst die Bergarbeiter und Drucker verfolgten, zu seinen Freunden. Er erklärte in seiner Rede stolz, „wie Nigel Lawson mir eine E-Mail geschickt hatte, in der er erklärte, sie [die Austeritätspolitik] sei absurd, sie wird nicht funktionieren und und sie wissen, dass sie nicht funktionieren wird. Er unterstützt mich, und deshalb sind wir Freunde.“

Varoufakis fügte hinzu: „Niemand ist perfekt.“

Nigel Lawson besetzte von 1981 bis 1989 hochrangige Posten in Thatchers Kabinett. Unter anderem fungierte er während des Bergarbeiterstreiks von 1984–85 als Finanzminister.

Varoufakis sprach auch wiederholt von seinem „engen Freund“ Norman Lamont, den er sogar zum wirtschaftspolitischen Berater von Syriza machte. Lamont diente sieben Jahre lang in Thatchers Kabinetten, unter anderem als Handels- und Industrieminister während des Streiks.

Im Jahr 2013 tauchten Geheimdokumente auf, in denen detailliert beschrieben wurde, wie Staatsvertreter 1982 davor gewarnt hatten, dass die Kohlevorräte in den Kraftwerken im Falle eines großen Streiks der Bergarbeiter für nur neun Wochen reichen würden. Ein Ausschuss mit dem Decknamen MISC 57, der gegründet wurde, um die Schließung „unrentabler“ Zechen zu planen und Vorkehrungen für einen drohenden landesweiten Streik der Bergarbeiter zu treffen, schickte Thatcher ein Schreiben, in dem er den Einsatz des Militärs empfahl. Auf dieser Grundlage schrieb der damalige Energieminister Lawson im Januar 1983 eine Denkschrift an Thatcher, in der eine detaillierte Strategie für einen siegreichen Kampf gegen die Bergarbeitergewerkschaft im Fall eines Streiks darlegte. Später schrieb er, diese Vorbereitungen seien vergleichbar gewesen mit der „Wiederbewaffnung, um der Gefahr durch Hitler entgegenzuwirken.“

Auf seinem Blog schrieb Varoufakis über seine Beziehungen zu Lamont, der den chilenischen Massenmörder General Augusto Pinochet einmal als „guten, tapferen und ehrbaren Soldaten“ bezeichnet hatte: „Krisen trennen alte Bande. Aber sie führen auch zu großartigen neuen Freundschaften.“ Er beschrieb seine Freundschaft mit Lamont als „merkwürdig,“ weil dieser „einmal alles repräsentierte, was ich abgelehnt habe [...] Doch seit ich Minister geworden bin, und vor allem nach meinem Rücktritt, blieb Lord Lamont mein standhafter Unterstützer und äußerst großzügiger Berater. Es wäre mir sogar eine Ehre, wenn er mir gestatten würde, ihn zu meinen guten Freunden zu zählen.“

An dieser Freundschaft ist gar nichts merkwürdig, noch lässt sie sich auf eine individuelle Schwäche dieses grotesken Selbstdarstellers reduzieren. Sie ist ein besonders aufschlussreiches Beispiel für die politische Entwicklung einer ganzen, ehemals radikalen, kleinbürgerlichen Schicht. Seit den längst vergangenen Tagen ihrer Jugend haben sich viele Vertreter dieser sozialen Schicht voll und ganz in die höchsten Ränge des Staates integriert und gehen heute häufig auf Tuchfühlung mit ihren ehemaligen politischen Gegnern aus dem rechten Spektrum.

Aus diesem Grund war auch keiner aus dem Publikum der People’s Assembly verärgert oder beschämt über Varoufakis’ Äußerungen. Ganz im Gegenteil: Seine Verunglimpfung der Bergarbeiter und Drucker als Ludditen, die dem wirtschaftlichen Fortschritt im Weg stehen, war für sie nur ein weiterer Anlass für begeisterten Applaus.

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