Bundesländer schieben sich gegenseitig Flüchtlinge zu

Ein Jahr nach Verkündung der sogenannten „Willkommenskultur“ werden Flüchtlinge in Deutschland nicht nur abgewiesen und massenhaft deportiert, auch die Bundesländer haben begonnen, sich gegenseitig Flüchtlinge zuzuschieben.

Bundeskanzlerin Angela Merkel, oft fälschlicherweise als Urheberin der „Willkommenskultur“ bezeichnet, hat sich an die Spitze der Offensive gegen Flüchtlinge gestellt. Auf einer Klausurtagung des Unionsfraktionsvorstandes in Berlin erklärte sie am Donnerstag, das Wichtigste sei jetzt, abgelehnte Asylbewerber abzuschieben. „Für die nächsten Monate ist das Wichtigste Rückführung, Rückführung und nochmals Rückführung“, wird die Kanzlerin zitiert.

In Nordrhein-Westfalen (NRW) haben Städte wie Essen, Bochum, Dortmund und Gelsenkirchen Tausende anerkannte Flüchtlinge, die seit einigen Monaten dort leben, aufgefordert, in die ostdeutsche Bundesländer oder nach Bayern zurückzukehren, wo sie ihren Asylantrag gestellt haben. Das berichtete am 30. August die Westdeutsche Allgemeine Zeitung.

Die Verantwortlichen in den Kommunen, mehrheitlich SPD-Politiker, setzen damit die reaktionären Vorgaben des Anfang August in Kraft getretenen Integrationsgesetzes um, mit brutalen Folgen für die betroffenen Flüchtlinge, ihre Freunde und Familien.

Bisher galt die sogenannte Residenzpflicht nur für Asylbewerber, deren Verfahren noch nicht abgeschlossen war. Ihnen konnte der Staat unter Verletzung elementarer demokratischer Rechte vorschreiben, wo sie zu wohnen und sich aufzuhalten haben. Sobald ihr Asylantrag anerkannt war, konnten sie ihren Wohnsitz frei wählen.

Nach dem neuen Integrationsgesetz können die Behörden nun rückwirkend bis zum 1. Januar 2016 auch anerkannten Flüchtlingen für maximal drei Jahre den Wohnort vorschreiben. In der Regel ist das die Stadt oder der Ort, wo der Flüchtling während der Dauer des Asylverfahrens gelebt hat. Wer dem Zwangsumzug in die Kommune, wo sein Asylverfahren lief, nicht „freiwillig“ zustimmt, soll in NRW vom Jobcenter keine Unterstützungsleistungen mehr erhalten.

Die Ruhrgebietsstadt Gelsenkirchen hat alle knapp 2.000 anerkannten Flüchtlinge, die seit Jahresbeginn in die Stadt gezogen sind, angeschrieben und aufgefordert, Nordrhein-Westfalen zu verlassen. Da sich einige Bundesländer, in die sie zurückgeschickt wurden, weigern, die Flüchtlinge wieder aufzunehmen, wurde ein Teil von ihnen nach NRW zurückgewiesen. Die meisten der betroffenen Flüchtlinge kamen aus Sachsen, Sachsen-Anhalt und Bayern.

Das Jobcenter Gelsenkirchen hat den Betroffenen jetzt eine Übergangsfrist bis Oktober gewährt, um Obdachlosigkeit zu vermeiden. Danach müssen aber alle Neuzugezogenen an ihren ursprünglichen Wohnort in Deutschland zurück. Gleichzeitig versuchen Bundesländer und Kommunen bis zum Jahresende, einheitliche Regeln für die Ausweisung und Zurückweisung von Flüchtlingen festzulegen.

In Essen haben sich nach Angaben der Stadt seit Jahresbeginn 1.662 Asylbewerber angemeldet, die in anderen Bundesländern anerkannt wurden. Sie haben eigene Wohnungen bezogen und Kinder im Kindergarten und der Schule angemeldet. Viele haben Sprachkurse begonnen, um nach Monaten der Flucht, der Unsicherheit und der Unterkunft in menschenunwürdigen Massenunterkünften möglichst bald ein selbständiges und unabhängiges Leben führen zu können.

Die Stadt Essen will alle zurückweisen, die nach dem 6. August kamen. Die Stadtverwaltung schätzt, dass dies einschließlich jener, die noch nicht gemeldet sind, etwa 2.500 Menschen betrifft. Ihnen werde in Kürze mitgeteilt, dass sie an ihren ursprünglichen Wohnort zurück müssen.

Die Stadt Bochum will zumindest einen Teil der rund 1.000 Asylberechtigten, die seit Beginn des Jahres in der Stadt ankamen, zurückschicken. Die Stadt Dortmund will vorerst nur Flüchtlinge zurückschicken, die nach dem 6. August gekommen sind, weil ihr von den vorher zugezogenen Flüchtlingen noch die Daten fehlen.

Die Landes- und Kommunalpolitiker rechtfertigen diese rücksichtslosen und brutalen Maßnahmen damit, dass nur so die Kosten gerecht verteilt werden könnten. Die menschlichen Kosten, die diese unmenschliche Politik verursacht, sind ihnen egal.

Viele Flüchtlinge sind nach Nordrhein-Westfalen gekommen, weil sie dort teilweise Verwandte und Freunde haben und sich bessere Arbeitsmöglichkeiten erhoffen, als in ländlichen Gegenden oder in Ostdeutschland. Hinzu kommt, dass sie in einigen Regionen um ihr Leben fürchten müssen. Allein im Jahr 2015 gab es in Deutschland nach Angaben des Bundeskriminalamts über 1000 Attacken auf Asylunterkünfte.

In Bochum haben bereits mehrere betroffene Flüchtlinge und Migranten gegen die Zwangsumsiedlung protestiert. In Essen versuchen einige, auf dem Klageweg gegen ihre Ausweisung vorzugehen.

Flüchtlingsorganisationen wie Pro Asyl verurteilen die Verschiebepraxis zwischen den Bundesländern als „absoluten Wahnsinn“. Es sei ein „Desaster für die Integration“, wenn Menschen, die gerade in einer Stadt Fuß gefasst haben, zwangsweise umziehen müssen. Der Flüchtlingsrat NRW sagte der WAZ: „Diese Menschen haben lange auf eine Anerkennung gewartet und waren froh, nun endlich zu Verwandten oder Freunden ziehen zu können. Werden sie nun wieder weggeschickt, nimmt man ihnen eine lange erkämpfte Ruhepause.“

Die World Socialist Website hat das neue Integrationsgesetz am 20. April als Angriff auf demokratische Grundrechte bezeichnet. Die verschärfte Residenzpflicht für anerkannte Asylsuchende, die auf eine Initiative des grünen Ministerpräsidenten Baden-Württembergs, Winfried Kretschmann, zurückgeht, sei „schlicht rechtswidrig“, heißt es in dem Artikel. Sie verstößt gegen die Genfer Flüchtlingskonvention und das europäische Asylrecht, die anerkannten Flüchtlingen das Recht auf Freizügigkeit garantieren.

„Die Zwangsumsiedlung von Flüchtlingen in strukturschwache Regionen, durch die Familien und Netzwerke zerrissen werden, die bei Jobsuche, Aus- und Weiterbildung sowie Behördengängen unterstützend tätig sind, treibt die anerkannten Asylsuchenden in Isolation und Ausgrenzung und verschärft letztlich ihre Abhängigkeit von Sozialleistungen,“ heißt es weiter in dem Artikel.

Die Ausweisung von anerkannten Flüchtlingen aus nordrhein-westfälischen Städten unterstreicht den reaktionären und brutalen Charakter der deutschen Asylpolitik. Sie ist Bestandteil der Angriffe auf demokratische und soziale Rechte der gesamten Arbeiterklasse und untrennbar mit dem wachsenden Militarismus verbunden. Sie wirft ein krasses Licht auf die rechte Politik der rot-grünen Landesregierung von NRW. Innenminister Ralf Jäger (SPD) brüstet sich damit, dass sein Land in absoluten Zahlen die meisten abgelehnten Flüchtlinge abschiebt.

Die nordrhein-westfälischen Ausländerbehörden haben bis Ende Juni dieses Jahres 2.625 Flüchtlinge abgeschoben, das sind 32 Prozent mehr als im Vorjahr. Auch die Zahl der „freiwilligen“ Ausreisen hat stark zugenommen. Insgesamt haben laut Innenministerium seit Beginn des Jahres 13.633 Menschen NRW verlassen. Das sind drei Mal so viele wie im selben Zeitraum des Vorjahres.

Gleichzeitig klagt Jäger über „extreme Probleme“ bei der Rückführung in nordafrikanische Staaten. Er wird dabei von Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) unterstützt, die die Bundesregierung in dieser Frage von rechts kritisiert. Sie erklärte kürzlich in einem Spiegel-Interview: „So geht es nicht weiter“, und verlangte mehr Unterstützung der Bundesregierung, um schneller und mehr abschieben zu können.

Bei der Unterbringung von Flüchtlingen setzt die Landesregierung von NRW auf die abschreckende Wirkung von Notunterkünften. Obwohl in normalen Unterkünften fast 14.000 Plätze frei sind, leben noch immer 9.000 Menschen in großen Hallen oder Zelten. Dies wird vom Flüchtlingsrat NRW kritisiert.

Wie das WDR-Magazin Westpol berichtete, leben Flüchtlinge immer noch zu lange in Einrichtungen des Landes und werden nicht, wie vereinbart, nach sechs Wochen oder, wie gesetzlich vorgeschrieben, nach spätestens sechs Monaten, bestimmten Kommunen zugewiesen. Ohne Zuweisung in eine Kommune gibt es keine Integrationskurse und die Kinder sind vom Schulbesuch ausgeschlossen.

Laut Innenminister Jäger soll die längere Unterbringung in Notunterkünften unter anderem bewirken, dass Flüchtlinge ohne realistische Chance auf Asyl erst gar nicht in eine Kommune kommen. Das gehe auf eine Vereinbarung mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) zurück.

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