Kinderarmut in Deutschland wächst weiter

In Deutschland sind im letzten Jahr fast zwei Millionen Kinder und Jugendliche in Armut aufgewachsen. Als arm gelten sie, wenn ihre Eltern auf staatliche Leistungen nach dem zweiten Sozialgesetzbuch (SGB II), landläufig Hartz IV, angewiesen sind.

Die bundesweite Quote der Kinder unter 18 Jahren in Hartz-IV-beziehenden Familien ist auf 14,7 Prozent angestiegen und liegt damit um 0,4 Prozentpunkte höher als 2011. Die Hauptstadt der Kinderarmut ist Berlin. In keiner anderen deutschen Stadt wohnen mehr arme Kinder und Jugendliche als hier. Das geht aus einer am Montag veröffentlichten Untersuchung der Bertelsmann-Stiftung hervor.

Zwar ging die Armutsquote in Berlin in den vergangenen Jahren leicht von 33,7 auf 32,2 Prozent zurück. „Zugleich nahm aber die Zahl armer Kinder und Jugendlicher zu, weil insgesamt mehr Kinder in der Hauptstadt leben“, so die Autoren der Studie. Fast jeder dritte Unter-18-Jährige in Berlin lebe mit seiner Familie von Sozialleistungen.

Die Daten der Studie stammen aus Statistiken der Bundesagentur für Arbeit sowie einer Langzeitstudie zu Armutsfolgen für Kinder und Jugendliche.

Betrachtet man die regionalen Armutsquoten, so zeigt sich, dass es nach wie vor große Unterschiede gibt. Die von Armut geprägten ostdeutschen Bundesländer verharren auf einem hohen Niveau. Die Quote sank dort zwar seit 2001 um 2,4 Prozentpunkte, lag aber im letzten Jahr immer noch bei 21,6 Prozent. Jedes fünfte Kind ist hier arm.

In den westdeutschen Bundesländern stieg die Hartz-IV-Quote auf 13,2 Prozent (2011: 12,4 Prozent). „Den stärksten Anstieg gab es in Bremen (plus 2,8 Prozentpunkte), im Saarland (plus 2,6 Prozentpunkte) und in Nordrhein-Westfalen (plus 1,6 Prozentpunkte).“ Selbst in den Bundesländern mit den niedrigsten Quoten wuchs die Kinderarmut, in Bayern um 0,4, in Baden-Württemberg um 0,5 und in Rheinland-Pfalz um 0,9 Prozentpunkte.

Neben Berlin sind in vielen weiteren größeren Städten hohe Armutsquoten von Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren zu verzeichnen, so zum Beispiel in Bremerhaven (40,5 Prozent), Offenbach (34,5 Prozent) oder Halle (33,4 Prozent). Bremerhaven hat den höchsten Anteil von Kindern im SGB-II-Bezug, gefolgt von der Ruhrgebietsstadt Gelsenkirchen, wo 38,5 Prozent aller Kinder in Armut aufwachsen. Doch auch nebenan, in anderen Ruhrgebietsstädten, sieht es nicht viel besser aus: In Essen leben 32,6 Prozent aller Kinder in Hartz-IV-Familien, in Dortmund 30,3 Prozent und in Duisburg 30 Prozent.

Laut der Studie der Bertelsmann-Stiftung sind besonders Kinder mit nur einem Elternteil oder zwei und mehr Geschwistern von Armut betroffen. „Von allen Heranwachsenden in staatlicher Grundsicherung lebt die Hälfte bei einem alleinerziehenden Elternteil und 36 Prozent leben in Familien mit drei oder mehr Kindern.“

Für viele Kinder ist Armut ein Dauerzustand. 57 Prozent der betroffenen jungen Menschen im Alter von sieben bis 15 Jahren bezogen drei Jahre und länger SGB-II-Leistungen.

Dies hat weitreichende Folgen für die Kinder. Eine gemeinsam mit dem „Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e.V“ (ISS) erarbeitete Meta-Studie zeige: „Verglichen mit Gleichaltrigen aus Familien mit gesichertem Einkommen sind arme Kinder häufiger sozial isoliert, materiell unterversorgt und gesundheitlich beeinträchtigt.“

Sie haben oft kein eigenes Zimmer und damit keinen Rückzugsort, auch keinen Platz, an dem sie ungestört Schularbeiten erledigen können. Arme Kinder essen kaum Obst und Gemüse und haben allgemein eine schlechtere Gesundheit, insbesondere Zahngesundheit. Für Monatstickets im öffentlichen Nahverkehr ist nur selten Geld da, ganz zu schweigen von außerschulischer Bildung oder Hobbies wie zum Beispiel in Sportvereinen oder Musikschulen. Ein Urlaub gerät zum Luxus.

Kein Wunder, dass der Bildungsweg armer Kinder weitaus belasteter ist. „Je länger Kinder in Armut leben, desto höher ist das Risiko, dass das ihr Schicksal negativ beeinflusst“, sagt Anette Stein von der Bertelsmann-Stiftung. Noch immer seien Kinder aus Hartz-IV-Haushalten an Universitäten eher die Ausnahme.

Die Bertelsmann-Stiftung selbst und auch viele Medien haben darauf hingewiesen, dass die steigende Kinderarmut nicht mit den Meldungen zusammenpasst, dass es der Wirtschaft in Deutschland immer besser gehe und die Zahl der arbeitenden Menschen steige.

Die Bertelsmann-Experten erklären das mit fehlenden Daten. „Wir können aufgrund fehlender Daten nicht erklären, warum trotz Wirtschaftswachstums und steigender Beschäftigungszahlen mehr Kinder von Hartz IV abhängig sind“, sagte Sarah Menne, Projektleiterin Familienpolitik bei der Stiftung.

Das ist absurd. Erstens gibt es zahlreiche Studien, die aufzeigen, dass der Zuwachs bei den Beschäftigtenzahlen nicht mit einer Erhöhung des gesamtwirtschaftlichen Arbeitsvolumens verbunden ist. D. h., die vorhandene Arbeit wird auf mehr Köpfe verteilt, schlecht bezahlte Teilzeitarbeit breitet sich aus.

Zweitens ist „die Wirtschaft“ nicht darauf ausgerichtet, die Armut zu verringern und die Bedürfnisse der Menschen nach Bildung, Gesundheit, Erholung usw. zu befriedigen. Die Konzerne wirtschaften nach Profit, nach den Interessen der Aktionäre. Und hier ist die Regel: Je weniger die Arbeiter vom Umsatz erhalten, desto größer der Gewinn. Der Reichtum der Aktienbesitzer auf der einen Seite bedingt die Armut am anderen Ende der Gesellschaft.

Die wachsende Kinderarmut ist auch nicht das Ergebnis einer „falschen oder schlechten Familienpolitik“, wie die Verantwortlichen der Bertelsmann-Stiftung und die Oppositionsparteien im Bundestag behaupten. Sabine Zimmermann von der Linken sagte: „Das Problem der Kinderarmut ist seit Jahren bekannt, doch die Bundesregierung bleibt untätig.“ Der sozialpolitische Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion, Wolfgang Strengmann-Kuhn, wetterte: „Es ist ein Skandal, dass in Deutschland zwei Millionen Kinder von Hartz IV-Leistungen abhängig sind.“

Das ist verlogen. Die Kinderarmut ist das Ergebnis einer bewussten Politik der Umverteilung von unten nach oben, an der sowohl Linke als auch Grüne maßgeblich beteiligt sind. Die Hartz-Gesetze und die „Agenda 2010“, die die rot-grüne Bundesregierung von Kanzler Gerhard Schröder und Vizekanzler Joschka Fischer in enger Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften vor vierzehn Jahren eingeführt hat, leitete den größten Sozialabbau der deutschen Geschichte seit dem Zweiten Weltkrieg ein.

Inzwischen sind die Hartz-Gesetze zum Vorbild für ganz Europa geworden. In Frankreich ist die sozialdemokratische Regierung gerade dabei, eine vergleichbare Arbeitsmarktreform – ebenfalls ausgearbeitet unter Mithilfe von Peter Hartz – durchzusetzen.

Dass Berlin die Hauptstadt der Armut ist, ist auch eine Folge der Politik des rot-roten Senats in den Jahren 2001 bis 2011. Hier kürzte die Landesregierung Löhne, privatisierte öffentliche Betriebe und verscherbelte landeseigene Wohnungen an Investoren.

Die Reaktion von Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD) auf die Studie ist genauso zynisch wie die der Linken und der Grünen. Schwesig verwies auf einige der Almosen, die die Bundesregierung in letzter Zeit verteilt hat. Dazu zählt sie die Erhöhung des Kinderzuschlags für geringverdienende Eltern, die Einführung des Mindestlohns (von 8,50 Euro brutto pro Stunde) und des Elterngelds Plus (Eltern, die nach der Geburt des Kindes Teilzeit arbeiten, können die Bezugszeit des Elterngeldes verlängern).

Doch weder das Elterngeld noch das Elterngeld Plus kommt den Ärmsten zugute. Hartz-IV-Familien wird es auf ihre Leistungen angerechnet, sie gehen leer aus. Das gleiche gilt übrigens für das Kindergeld, das Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) um monatlich zwei Euro pro Kind (!) anzuheben gedenkt.

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