340 Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken

Bei vier Bootsunglücken im Mittelmeer zwischen Libyen und Italien sind nach offiziellen Angaben innerhalb von zwei Tagen mindestens 340 Flüchtlinge ertrunken.

In der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag ertranken bei einem Schiffsunglück 100 Flüchtlinge, wie die Internationale Organisation für Migration (IOM) und die Hilfsorganisation Menschen ohne Grenzen (MSF) bestätigten. Von 130 Menschen an Bord eines Schlauchbootes konnten lediglich 27 von „Ärzte ohne Grenzen“ gerettet werden.

Die aus Gambia, Guinea, Mali und Sierra Leone stammenden Flüchtlinge waren am Montag nahe Tripolis in See gestochen, wie Überlebende berichteten. Schleuser hatten das Boot eine Weile begleitet, dann jedoch den Motor entfernt und die Flüchtlinge ihrem Schicksal überlassen. Das im Meer treibende, völlig überladene Schlauchboot verlor Luft und lief voll Wasser. Bereits während der Fahrt waren Flüchtlinge von Bord gestürzt oder vor Entkräftung gestorben.

Eine Nacht zuvor hatte eine andere private Hilfsorganisation 23 Flüchtlinge aus dem Mittelmeer gefischt, deren Boot ebenfalls auf dem Weg nach Italien gekentert war. Weitere 99 Flüchtlinge gelten als vermisst und sind mit hoher Wahrscheinlichkeit ertrunken.

Am Dienstag war außerdem ein Boot mit 150 Migranten gesunken, von denen nur 15 gerettet werden konnten.

Bei einem vierten Schiffsuntergang konnten 114 Flüchtlinge lebend geborgen werden, allerdings wurde auch eine Leiche gefunden und fünf weitere Flüchtlinge werden noch vermisst.

Die Zahl der in diesem Jahr bei der Überfahrt über das Mittelmeer ums Leben gekommenen Flüchtlinge ist damit auf mindestens 4.621 angestiegen, so viele wie noch nie. Das sind schon jetzt fast ein Fünftel mehr als im bisherigen Rekordjahr 2015, als insgesamt 3.771 Flüchtlinge im Mittelmeer ertranken. Das Mittelmeer verwandelt sich immer mehr in einen gigantischen Friedhof. Nahezu täglich werden an den libyschen Küsten bis zur Unkenntlichkeit verstümmelte Leichen angeschwemmt, deren Identität nicht geklärt werden kann.

„Diese Tragödie ist einfach unerträglich“, twitterte „Ärzte ohne Grenzen“. Die Flüchtlingskatastrophen auf dem Mittelmeer ereignen sich mittlerweile mit einer solchen Regelmäßigkeit, dass die Medien allenfalls noch in einer Randnotiz vom Massensterben berichten. Führende Politiker der Europäischen Union, die bei den ersten Tragödien noch Betroffenheit geheuchelt hatten, nehmen die wiederkehrenden Katastrophenmeldungen völlig gleichgültig hin und enthalten sich mittlerweile jeden Kommentars. Der dramatische Überlebenskampf der Flüchtlinge und das tägliche Sterben auf hoher See bleiben so vor der Öffentlichkeit weitgehend verborgen.

Bereits am vergangenen Sonntag waren 15 Flüchtlinge aus dem Meer gerettet worden, die sich zehn Stunden lang verzweifelt an die Überreste ihres gekenterten Bootes geklammert und hilflos im Wasser getrieben hatten, ehe ein Öltanker sie auffischte. Neun der Geretteten befinden sich immer noch im Krankenhaus.

In offiziellen Stellungnahmen werden reflexartig immer nur die Schleuser, die die Überfahrten organisieren, für das Sterben der Flüchtlinge verantwortlich gemacht. „Die Schlepper nehmen keine Rücksicht auf die schlechten Wetterbedingungen“, sagte der Sprecher der internationalen Migrationsbehörde IOM, Flavio Di Giacomo, am Donnerstag der Deutschen Presse-Agentur in Rom. „Überlebende haben uns berichtet, dass sie gezwungen wurden, in die Boote zu steigen, obwohl sie wegen des Wetters nicht wollten.“

In der Tat ist das Schleusen von verzweifelten Menschen, die ihre Heimat verlassen, um Kriegen, Bürgerkriegen, Verfolgung und Elend zu entkommen, zu einer regelrechten Industrie mit Milliardenumsätzen angewachsen. Die Schleuser können jedoch ihr skrupelloses Geschäftsmodell nur deshalb so erfolgreich betreiben, weil die Europäische Union mit ihrer brutalen Abschottungspolitik den Flüchtlingen keine andere Wahl lässt, als ihr Leben völlig seeuntüchtigen Booten anzuvertrauen.

„Ohne alternative Möglichkeiten, Europa zu erreichen, werden die Flüchtlinge auf immer gefährlichere Routen ausweichen, um sich in Sicherheit zu bringen“, sagte Iosta Ibba, ein Sprecher des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) dem britischen Guardian.

[„Without alternative ways to reach Europe, refugees will always try to reach safety in dangerous ways,” said Ibba]

Das dramatische Ansteigen der Todesrate auf dem Mittelmeer ist eine Konsequenz des Einsatzes der Kriegsmarine der EU-Staaten vor der libyschen Küste. Ihr Auftrag, Flüchtlingsboote aufzuhalten und zu zerstören, hat zur Folge, dass die Schleuser von alten, noch halbwegs seetüchtigen hölzernen Fischkuttern auf selbst zusammengebaute Schlauchboote umsteigen, auf denen bis zu 150 Flüchtlinge zusammengepfercht werden und die für die Überfahrt völlig untauglich sind.

Diese Schlauchboote, die von den Flüchtlingen selbst gesteuert werden können, minimieren das Risiko für die Schleuser, erhöhen aber die Gefahr für die Flüchtlinge, da sich weder GPS-Anlagen noch Satellitentelefone an Bord befinden. Geraten die Flüchtlinge in Seenot, können sie nicht einmal Hilfe herbeirufen.

Die Europäische Union hält dennoch an ihrer menschenverachtenden Strategie fest und baut die militärische Überwachung des Mittelmeers weiter aus, um Flüchtlinge um jeden Preis daran zu hindern, nach Europa zu gelangen. Seit Ende Oktober unterweist die EU auf ihren Kriegsschiffen die ersten 78 libyschen Grenzschützer darin, „Menschenhandel und Schleusernetzwerke“ aufzuspüren und zu zerstören, wie der Europäische Auswärtige Dienst berichtet. Nur nebenbei sollen sie auch lernen, auf dem Mittelmeer „Menschenleben zu retten“.

Dabei steht die libysche Küstenwacht unter dem Verdacht, in den letzten Monaten gezielt gegen Rettungsschiffe von privaten Hilfsorganisationen vorgegangen zu sein. Der letzte Vorfall ereignete sich am 21. Oktober, als bewaffnete libysche Küstenwachtpolizisten nachts auf hoher See ein Flüchtlingsboot stürmten, auf die Flüchtlinge einschlugen, das Boot zerstörten und die um ihr Leben kämpfenden Flüchtlinge im Meer zurück ließen. 30 Flüchtlinge sind bei dem Zwischenfall ertrunken, der vor den Augen des privaten Rettungsschiffes „Sea-Watch 2“ stattfand.

Andere zivile Seenotretter sind zuvor von der libyschen Küstenwache mit Waffen bedroht worden, ein Schiff wurde beschossen, ein weiteres Boot beschlagnahmt. Zwei aus Deutschland stammende freiwillige Helfer wurden im September nach einer Verfolgungsjagd auf dem Meer inhaftiert und erst nach einer Intervention der deutschen Botschaft in Tripolis freigelassen. Alle diese Ereignisse passierten auf hoher See in internationalen Gewässern und stellen eklatante Verstöße gegen das Seerecht dar.

Die EU nimmt diese Angriffe gegen die Seenotretter jedoch billigend in Kauf. Dabei sind die Schiffe der privaten Rettungsorganisationen oftmals als erste an den Unglücksorten. Sie konnten dadurch Tausenden Flüchtlingen das Leben retten, während die unter Nato-Kommando stehenden Kriegsschiffe der Mission „Seaguardian“ für die Seenotleistelle in Rom unerreichbar waren.

Mehr als 165.000 Flüchtlinge haben auf dem Seeweg über Ägypten und Libyen in diesem Jahr die italienischen Küsten erreicht. Die meisten stammen aus Nigeria, Sudan, Eritrea und Gambia, Staaten, die entweder von Bürgerkriegen zerrüttet werden oder in denen eine brutale Diktatur herrscht. Im EU-Jargon werden die Flüchtlinge jedoch als „illegale Immigranten“ denunziert und kriminalisiert.

Die Europäische Union schreckt auch nicht davor zurück, mit den Unterdrückern – wie Omar al-Bashir im Sudan, der mit Haftbefehl vom internationalen Strafgerichtshof in Den Haag gesucht wird, oder Isaias Afwerki in Eritrea – zusammenzuarbeiten und Waffen, Geld und Ausrüstung zu schicken, damit Flüchtlinge daran gehindert werden, die Grenzen in Richtung Libyen zu überschreiten. Staaten, die bei der Fluchtverhinderung nicht kooperieren oder sich weigern, abzuschiebende Flüchtlinge zurückzunehmen, sollen hingegen mit der Streichung von Entwicklungshilfsgeldern erpresst werden.

Während die EU vollmundig die „Bekämpfung der Fluchtursachen“ ankündigt, zielt ihre Politik tatsächlich auf das Gegenteil. Über Jahrzehnte hat sie eine Liberalisierung der Handelspolitik verlangt, um eigene Waren auf den afrikanischen Märkten zollfrei anbieten zu können. Die Agrarproduktion in Afrika ist dadurch völlig zusammengebrochen, Millionen Bauern sind verarmt. Gleichzeitig sicherte sich die EU den billigen Import von Rohstoffen wie Edelmetalle, Phosphor, Öl und Gas.

Die sozialen Spannungen entladen sich immer häufiger in blutigen Konflikten, in die die Staaten der Europäischen Union mit eigenen Truppen eingreifen, um gefügige Regierungen an der Macht zu halten oder ins Amt zu hieven. Die deutsche Bundeswehr hat in diesem Kampf um Afrika ihre Militärpräsenz auf dem Kontinent in den letzten Jahren massiv ausgeweitet und Soldaten nach Sudan, Südsudan, Somalia und Mali entsandt.

Die rigorose Politik der Flüchtlingsabwehr ist die Kehrseite dieser neokolonialen Politik, die Hunderttausende Flüchtlinge als „Kollateralschaden“ produziert. Sie an den Küsten Europas abzuweisen und jämmerlich im Mittelmeer ertrinken zu lassen, ist ein monströses Verbrechen und offenbart den wahren, brutalen Charakter der Europäischen Union.

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