SGP-Wahlkampf in Bochum: Soziale Krise mit Händen zu greifen

Am Samstag, inmitten der gefährlichen Entwicklungen im Nordkorea-Konflikt, diskutierten Mitglieder der Sozialistischen Gleichheitspartei (SGP) in der Bochumer Innenstadt mit Arbeitern und Jugendlichen über den Kampf gegen Krieg und Militarismus. In der Ruhrgebietsstadt findet am kommenden Freitag die nächste Wahlveranstaltung der SGP statt.

Gerade Jüngere zeigen sich sehr besorgt über die Kriegsentwicklung und den damit einhergehenden Nationalismus. Eine Jugendliche berichtete: „Zuhause in der Familie diskutieren wir das eigentlich fast täglich.“ Sie war sehr an der Perspektive der SGP interessiert, die den Kampf gegen Krieg mit dem Kampf gegen den Kapitalismus verbindet.

Neben der Kriegsgefahr ist in Bochum auch die soziale Krise mit Händen zu greifen.

Renate Götzinger sagt, den Wahlversprechen der Bundestagsparteien glaube sie schon lange nicht mehr. „Die führen Kriege, verdienen daran, und in ihren Wahlprogrammen erklären sie genau das Gegenteil.“ Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sei für sie eine Marionette. „Das Sagen haben doch die Reichen und die Konzerne. Aber ehrlich gesagt, das gilt doch für alle im Bundestag vertretenen Parteien.“

SGP-Kandidat Dietmar Gaisenkersting im Gespräch mit Renate Götzinger

Sie ist über den wachsenden Militarismus in Deutschland und der Welt erzürnt und selbst direkt von der sozialen Krise betroffen. Sie erhält 744 Euro im Monat, 561 Euro Erwerbminderungsrente, den Rest vom Sozialamt. „Davon muss ich alles zahlen, Essen, Miete, Strom – alles.“

Letztens brauchte sie eine neue Brille, die 300 Euro kosten sollte. „Da haben sie gesagt, ich könne ein Darlehen haben, das ich dann in Raten zurückzahlen muss. Ich habe denen gesagt, die können mich mal.“ Ihr ganzes Leben lang habe sie gearbeitet, zuletzt als Kommissioniererin in einem Großlager. „Davon sind meine Knochen und Nerven kaputt“, sagt sie verbittert.

Renate ist kein Einzelfall in Bochum, das mit seinen 365.000 Einwohnern zu den größeren Städte des Ruhrgebiets zählt. Und wie alle Städte in der Industrieregion war auch Bochum lange Zeit von Kohle und Stahl geprägt. Wikipedia listet in Bochum 289 Zechen auf. Nach 1945, als die Kohle für den Wiederaufbau dringend benötigt wurde, waren es noch über hundert. Die erste Großzeche wurde dann 1960 mit Beginn der Kohlekrise stillgelegt, die letzte schloss 1973.

Den protestierenden Bergleuten, die ihren Job verloren, wurden Ersatzarbeitsplätze in neuen Fabriken angeboten. 1962 eröffnete Opel gleich drei Werke, unter anderem auf dem ehemaligen Gelände der Zeche Dannenbaum. Sie – und die 1965 gegründete Ruhr-Universität mit heute 40.000 Studierenden – wurden zum Symbol für den Strukturwandel erklärt.

Doch inzwischen ist die Opel-Produktion Geschichte. Ende 2014 lief das letzte Auto vom Band. Hatte Opel auf dem Höhepunkt mehr als 20.000 Arbeiter beschäftigt, waren es zum Schluss nur noch 3.000. IG Metall und Betriebsrat haben über Jahre hinweg den Arbeitsplatzabbau bis hin zur endgültigen Schließung durchgesetzt. Auch andere Werke mit zigtausenden Industriearbeitsplätzen wurden vernichtet, so Nokia, Outokumpu und Johnson Controls.

Seit vielen Jahren hält sich die Arbeitslosigkeit auf hohem Niveau, derzeit liegt sie mit mehr als 28.000 Menschen offiziell bei 10,2 Prozent. Nicht eingerechnet sind weitere 10.000 sogenannte „Unterbeschäftigte“.

Von Opel sind nun zwei Großlager übrig geblieben. Am Samstag lud der Konzern zur Eröffnung seines neu errichteten, fast 100.000 Quadratmeter großen Lagers auf dem ehemaligen Gelände des Werks II zu einem Tag der offenen Tür ein. Sie ergänzt das bestehende, noch etwas größere Lager auf dem ehemaligen Gelände des Werks III. Von Bochum aus beliefert Opel elf regionale Verteilzentren in ganz Europa mit Ersatzteilen, die wiederum mehr als 5.000 Vertragshändler versorgen.

Nur noch 700 Arbeiter sind hier beschäftigt. Unter den mehreren Tausend Besuchern am Samstag befanden sich viele ehemalige ehemalige Opelaner. Sie hatten im Opelwerk II Motoren, Getriebe, Achsen und Lenkungen gebaut. Nun wollten sie sich die neuen Lagerhallen ansehen, die an der Stelle des abgerissenen Werks stehen. Viele waren merklich tief bewegt.

Günther, der 35 Jahre im Werk II gearbeitet hatte, wurde 2010 „rausgeekelt“, wie er sagt. „Die Katastrophe hat 2005 begonnen. Zuerst haben sie die alten Meister, Obermeister und Abteilungsleiter weggeschickt, dann sind die jungen Ingenieure gekommen, die sich für Höheres empfehlen wollten.“ Günther schlägt die Hände vors Gesicht. „Die sagten, nehmt die Abfindung oder ihr fliegt. Aber ich war knapp über 50. Außerdem war der Zusammenhalt unter uns immer super. 2010, mit 55 habe ich dann doch die Abfindung genommen, ich konnte es nicht mehr ertragen.“

Wie kalt und gewissenlos Opel bei der stückweisen Schließung vorgegangen ist, berichtet er mit Tränen in den Augen. „Am letzten Produktionstag in Werk II, das war 2013, sind wir alten Opelaner alle zum Werk gekommen, weil wir dachten, dass es ja irgendeine Verabschiedung oder so etwas geben muss. Doch die Kollegen haben bis zuletzt gearbeitet, bis zur allerletzten Minute an den Maschinen gestanden. Da gab es nichts.“

Diese entwürdigende Art der Behandlung und der jahrelange Stress durch die ständig drohende Arbeitslosigkeit habe viele krank gemacht hat. „Ich bekomme jetzt immer häufiger Anrufe, in denen mir gesagt wird, wer wieder gestorben ist. Im Getriebebau waren wir zuletzt 300 Mann, davon sind bestimmt 200 schon tot“, sagt er wütend – und leiser: „Aus dem Kreis meiner unmittelbaren 15 Arbeitskollegen sind zehn tot. Alle waren zwischen 55 und 65 Jahre alt. Die haben sich in den letzten Jahren kaputt gemacht, auch körperlich, aber vor allem nervlich.“

Wolfgang Corinth mit Dietmar Gaisenkersting vor dem neuen Opel-Lager

Wolfgang Corinth, 64 Jahre, war nur fünf Jahre bei Opel, er begann seine Lehre zum Maschinenschlosser 1967. Auch er kommt zum Tag der offenen Tür, um alte Kollegen zu treffen. „Meine Lehre hier hat mich geprägt, das ist meine Geschichte hier, Opel Bochum“, sagt er. „Ich war gerne hier, da war ein Gewusel, da war Leben, auch hier im Stadtteil.“ Heute sei alles leer. Auch die riesigen Hallen.

Begeistert spricht er von seiner Zeit bei Opel, auch von den damaligen Streiks. „Wir waren 15, 16, 17 Jahre alt. Damals hat Streiken Spaß gemacht. Wir konnten uns das auch erlauben, heute ist das ja anders.“ Die Arbeitsbedingungen hätten sich dramatisch verändert. „Wenn man heute streikt, machen sie den Laden zu und eröffnen ihn woanders in der Welt.“

Auch die Gewerkschaften hätten sich angesichts dieser Entwicklung geändert. „Die üben doch heute eher Druck auf Arbeiter aus, um sich selbst abzusichern. Die sind mir viel zu angepasst, viel zu weich.“

Wolfgang Corinth diskutierte mit Dietmar Gaisenkersting länger über diese Verwandlung der Gewerkschaften, die notwendige internationale Antwort der Arbeiter darauf sowie über die Gefahr eines Weltkriegs. Er will am Freitag zur SGP-Wahlveranstaltung in Bochum kommen.

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