NSU-Prozess: Nebenkläger kritisieren Bundesanwaltschaft und Verfassungsschutz

Beim NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht in München halten nun die Nebenkläger, die Anwälte der Opfer und ihrer Angehörigen, ihre Schlussplädoyers. Dem Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) werden die Ermordung von neun Migranten und einer Polizistin, zwei Bombenanschläge und über zwei Dutzend Banküberfälle vorgeworfen. Hauptangeklagte ist als NSU-Mitglied Beate Zschäpe, vier weitere Neonazis werden der Unterstützung und Beihilfe beschuldigt.

Bereits bei den ersten Plädoyers gab es scharfe Kritik an der Bundesanwaltschaft, die sich – mit Unterstützung des Gerichts – früh darauf festgelegt hatte, der NSU habe aus lediglich drei Tätern (von denen zwei tot sind) und einigen wenigen Helfern bestanden.

Bundesanwalt Herbert Diemer hatte in seinem Schlussplädoyer jede Kritik an dieser Festlegung aggressiv zurückgewiesen und als „Fliegengesumme“ abgetan. Damit wurden die Opfer und ihre Angehörigen ein weiteres Mal herabgewürdigt. Schon die polizeilichen Ermittlungen unmittelbar nach den Verbrechen hatten sich auf die Familien der Opfer konzentriert, einen rassistischen Hintergrund hatte die Polizei dagegen immer wieder ausgeschlossen.

Rechtsanwältin Edith Lunnebach wies in ihrem Plädoyer auf die enge Verstrickung staatlicher Behörden, insbesondere des Verfassungsschutzes, mit dem NSU-Komplex hin. Sie vertritt Mashia M., die Tochter einer iranischstämmigen Familie, die 2001 Ziel des Bombenanschlages in der Kölner Probsteigasse wurde.

Der Besitzer des Ladens beschrieb, wie in der Vorweihnachtszeit 2000 ein Mann in sein Geschäft gekommen war, den er vorher nie gesehen hatte. Er sei klein, sehr schmal und lockig gewesen und habe ein „schmales, knochiges Gesicht“ gehabt. „Er hat eine Runde gedreht in meinem Laden und eine Flasche Jack Daniels und eine Tüte Chips in seinen Korb gesteckt“, sagte der Zeuge.

Beim Bezahlen sei dem Mann aufgefallen, dass er sein Portemonnaie vergessen habe. Er habe gesagt, er wolle eben das Geld holen und habe den Korb zurückgelassen. Der Mann sei aber nicht mehr zurückgekommen. Zwei Tage später habe seine Frau den Korb ins Hinterzimmer geräumt. Am 19. Januar 2001 hatte dann die damals 19-jährige Tochter eine im Korb gefundene Christstollendose geöffnet und dadurch die darin versteckte Bombe ausgelöst. Mashia M. wurde schwer verletzt, sie lag zehn Tage im Koma und erlitt schwere Verbrennungen. Von diesen Verletzungen hat sie sich bis heute nicht ganz erholt.

Offiziell wird die Ausführung dieses Attentats den beiden toten NSU-Terroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt zugeschrieben. Zu dem Anschlag hatte sich der NSU in seinem berüchtigten Paulchen-Panther-Video bekannt. Darin wurde die junge Frau namentlich erwähnt und verhöhnt.

Es sei für die Familie von Mashia M. „nicht akzeptabel“, dass die Ankläger den NSU bis heute als isolierte Dreierzelle sähen, erklärte Rechtsanwältin Lunnebach. Allein für den Kölner Tatort gebe es „überwältigende Fakten“ für weitere Mittäter. Die Familie lebe daher mit der Vorstellung, dass diese „als ständige Gefahr im Hintergrund lauern“.

Es sei „völlig ausgeschlossen“, dass ein Ortsunkundiger auf den „Getränkeshop Gerd Simon“ gekommen wäre, so Lunnebach weiter. Nur ein Ortskundiger habe wissen können, dass der Laden mit dem deutschen Schild einer iranischstämmigen Familie gehörte. Zschäpe selbst habe nie berichtet, dass es bis dahin einen Köln-Besuch des Trios gab. Ein unerkannter Mittäter aus den Reihen des NSU, der sich in Köln auskenne, müsse den Anschlagsort ausgesucht und die Sprengfalle deponiert haben.

Die Nebenklage-Anwältin machte deutlich, dass sie einen konkreten Verdacht habe, wer der ausführende Täter war: ein langjähriger V-Mann des Verfassungsschutzes.

Gemeint war damit wohl Johann H., der zwischen 1989 und 2015 als V-Mann des Landesverfassungsschutzes NRW gearbeitet hatte. Laut Spiegel Online führte der Verfassungsschutz ihn „als ‚geheimen Mitarbeiter‘, was auf eine besonders enge Zusammenarbeit hindeutet“. H. sei mehr als ein gewöhnlicher V-Mann gewesen.

2015 hatte er mit Spiegel Online gesprochen und behauptet, er habe „mit dem Anschlag in der Probsteigasse nichts zu tun“. Den NSU oder auch jemandem aus dessen Umkreis will er nicht gekannt haben. Dabei hat ein Aussteiger aus der Neonazi-Szene berichtet, das NSU-Trio Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe habe 2009 eine Veranstaltung in Erftstadt bei Köln besucht, die Johann H. gemeinsam mit Axel Reitz auf dem Podium leitete. H. bestritt dies gegenüber dem Spiegel und bezeichnete es als „blanken Unsinn“.

Auf jeden Fall war H. „über all die Jahre immer da, wo der braune Sumpf am tiefsten ist“, wie dies Spiegel Online 2015 formulierte. H. hatte eine lange Karriere in militanten Nazigruppen durchlaufen, teilweise in führender Position. 1985 war er zu einer Jugendstrafe verurteilt worden – wegen eines Verstoßes gegen das Sprengstoffgesetz. Später beteiligte er sich an „Wehrsportübungen“ und trat unterschiedlichsten Neonazi-Organisationen bei, in denen immer wieder auch Bezüge zum NSU und seinem Umfeld bestanden. So war H. Anfang der 90er Jahre Mitglied der Nationalistischen Front, zur gleichen Zeit wie der verstorbene V-Mann und NSU-Unterstützer Thomas Richter alias „Corelli“. 1998 gründete Johann H. mit Gleichgesinnten die „Kameradschaft Köln“, die 2012 vom nordrhein-westfälischen Innenministerium verboten wurde.

In der Nazigruppe „Kampfbund Deutscher Sozialisten“ (KDS) stieg er parallel zum „stellvertretenden Gausekretär Rheinland“ auf. Die Anklageschrift des NSU-Tribunals, „NSU-Komplex auflösen“, führt über ihn weiter aus, dass er im KDS als rechte Hand des in der Öffentlichkeit als „Hitler von Köln“ bezeichneten Nazis Axel Reitz agierte. Der KDS unterhielt Verbindungen zu zahlreichen Kadern der Neonazi-Szene in Deutschland, aber auch zu Gruppen wie der „Dänischen Nationalsozialistischen Bewegung“, die wiederum enge Verbindungen zum Blood & Honour-Netzwerk in Skandinavien hatte.

Zuletzt wurde die KDS-Geschäftsstelle vom Mitglied der Organisationsleitung Thomas Gerlach aus Thüringen geführt. Gerlach ist auch Mitglied der „Hammerskins“. Aufgrund seiner Kontakte zur Unterstützerszene des NSU-Kerntrios musste er mehrfach als Zeuge im NSU-Prozess aussagen.

Der Verfassungsschutz NRW erhielt nach eigener Aussage am 8. Februar 2012 vom Bundesverfassungsschutz Phantombilder des Täters des Bombenanschlages in Köln. Dabei stellte er fest, dass Johann H. „Ähnlichkeiten mit den Phantombildern aufweist“. Gleichwohl legte er sich bereits einen Tag später darauf fest, es bestünden „keine Anhaltspunkte einer Tatbeteiligung“. Zwei Tage später gab die Leiterin des Verfassungsschutzes in NRW diese Einschätzung dem Generalbundesanwalt, der sie noch am selben Tag dem Bundeskriminalamt weiterleitete.

Lunnebach kritisierte, dass der Anschlag in der Probsteigasse 2001 nicht als rechtsextremistische Tat benannt und schon fünf Jahre später das wichtigste Beweismittel, die Überreste der Christstollendose, vernichtet wurde. Sie erklärte, gegen den langjährigen V-Mann sei wegen des Anschlages nie ermittelt worden. Dies könne nur daran liegen, dass der Verfassungsschutz seine schützende Hand über ihn halte.

Am Nachmittag übte auch Mehmet Daimagüler, Anwalt der Familien der Nürnberger NSU-Opfer Abdurrahim Özüdoğru und İsmail Yaşar, harsche Kritik. Er sprach von einem sechsten „unsichtbaren Angeklagten: dem Staat“. Denn bereits nach dem ersten NSU-Mord im Jahr 2000 hätten bei korrekter Ermittlungsarbeit die weiteren Taten verhindert werden können, so der Anwalt.

Der Bundesanwaltschaft warf er vor, den Terror „nur so eng wie möglich“ aufgeklärt zu haben. Sie versuche „mit aller Macht“, ihre Trio-These „als alleinige Wahrheit durchzusetzen“. Bis heute sei kein einziger Beamter für das Aktenschreddern des Verfassungsschutzes bestraft worden. Ein Staat aber, der nicht umfassend aufkläre, nehme in Kauf, dass auch künftig Morde geschehen, so Daimagüler.

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