SPD-Parteigranden warnen vor Niedergang der Sozialdemokratie

Vor dem SPD-Sonderparteitag am 21. Januar in Bonn sprechen sich immer mehr sozialdemokratische Spitzenpolitiker für eine Fortsetzung der Großen Koalition aus. Unter ihnen sind die vier ehemaligen SPD-Vorsitzenden Hans-Jochen Vogel, Matthias Platzeck, Kurt Beck und Franz Müntefering und die vier früheren Juso-Vorsitzenden Andrea Nahles, Niels Annen, Björn Böhning und Benjamin Mikfeld. Auch das SPD-Urgestein Erhard Eppler, der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse und die zweifache SPD-Bundespräsidentschaftskandidatin Gesine Schwan schärfen den Delegierten ein, für die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen mit der Union zu stimmen.

Aus den zahlreichen Statements der SPD-Granden stechen vor allem zwei Dinge hervor: Unter Bedingungen der tiefsten Krise des Kapitalismus seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und wachsender Spannungen zwischen den Großmächten will die SPD unter allen Umständen „Verantwortung für Deutschland und Europa übernehmen“, wie es in einem Appell von 37 führenden Sozialdemokraten heißt. Sie fürchtet, dass weitere Monate der politischen Krise Deutschland und Europa weiter destabilisieren und die geostrategischen und wirtschaftlichen Interessen des deutschen Imperialismus gefährden könnten. Hinzu kommt die Angst, in möglichen Neuwahlen komplett aufgerieben zu werden.

Am vehementesten tritt der SPD-Vorsitzende Martin Schulz auf, der noch am Wahlabend den Gang in die Opposition verkündet hatte. Im aktuellen Spiegel warnt er die 600 Delegierten davor, Verhandlungen mit der Union über eine Große Koalition abzulehnen. „Dann würde es zu Neuwahlen kommen, und zwar ziemlich rasch.“ Auch die Sozialdemokratie müsse dann mit einem schlechteren Ergebnis rechnen. „Wenn es den Parteien nicht gelingt, mit den Mehrheiten im Bundestag eine Regierung zu bilden, würden sie von den Wählern abgestraft.“

Schulz ließ keinen Zweifel daran, dass die mit den Unionsparteien ausgehandelten Sondierungsergebnisse dem Programm der SPD entsprechen. Im Falle von Neuwahlen würde seine Partei mit einem Programm in den Wahlkampf ziehen, das in großen Teilen mit dem Sondierungsergebnis identisch sei, erklärte Schulz und fügte hinzu: „Wie absurd wäre das denn?“ Er stellte klar, dass es auch in den Koalitionsverhandlungen keine Änderungen an den mit der Union vereinbarten Zielen geben werde. „Wir haben bei der Sondierung den Rahmen abgesteckt, was geht und was nicht geht. Dabei bleibt es.“

Franz Müntefering, der von 2004 bis 2005 und von 2008 bis 2009 Vorsitzender der SPD war, warnte in einem Gastbeitrag im Tagesspiegel, dass eine Entscheidung der Delegierten gegen die GroKo am Sonntag „der Einstieg zum Abstieg in die Bedeutungslosigkeit der Sozialdemokraten in Deutschland“ wäre. Lasse sich die SPD „von Europas Sorgen nicht beeindrucken“, werde sie „eine derjenigen Sozialdemokratien werden, die in Europa keine Rolle spielen“.

Müntefering und Co. hoffen, den Niedergang der SPD durch eine weitere Rechtsoffensive aufhalten zu können. Bezeichnenderweise begann er seinen Kommentar mit den Worten: „Es gab 1959 schon einmal einen Parteitag in Bonn(-Bad Godesberg), auf dem die SPD die Weichen stellte. Damals in die richtige Richtung.“

In Bad Godesberg hatte die Sozialdemokratie explizit ihre Wurzeln als Arbeiterpartei und Gegnerin des Kapitalismus zurückgewiesen und sich als Volkspartei bezeichnet. Seitdem hat sie sich schrittweise in eine offen rechte bürgerliche Partei verwandelt. Die Agenda 2010 und die Hartz-Gesetze haben Millionen Arbeiter ins blanke Elend gestürzt. In den letzten vier Jahren hat die SPD mit ihren Außenministern Frank-Walter Steinmeier und Sigmar Gabriel die Rückkehr des deutschen Militarismus organisiert.

Dass die SPD in Bonn „die Weichen“ für eine Fortsetzung dieser Politik stellen will, zeigen die „Ergebnisse der Sondierungsgespräche von CDU, CSU und SPD“, die bereits vor einer Woche veröffentlicht wurden. Hinter einigen leeren sozialen Versprechungen sieht das 28-seitige Papier eine Verschärfung der Politik des Militarismus, der inneren Aufrüstung und des Sozialabbaus vor. Die SPD strebt dabei vor allem die zügige Umsetzung einer gemeinsamen europäischen Militär- und Großmachtpolitik in Zusammenarbeit mit Frankreich an. Europa müsse „sein Schicksal mehr als bisher in die eigenen Hände nehmen“. Nur gemeinsam habe „die EU eine Chance, sich in dieser Welt zu behaupten und ihre gemeinsamen Interessen durchzusetzen“, heißt es dort.

Unter Arbeitern ist die SPD wegen ihrer asozialen und militaristischen Politik mittlerweile so verhasst, dass ihr das gleiche Schicksal droht wie der Sozialistischen Partei in Frankreich oder PASOK in Griechenland, die in den letzten Wahlen regelrecht untergingen. Bereits im September hatte die SPD mit 20,5 Prozent der Stimmen ihr schwächstes Ergebnis seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs eingefahren. Am Freitag ergab eine Forsa-Umfrage, dass die SPD nach Abschluss der Sondierungen mit der Union nur noch bei 18 Prozent liegt. Das ist ihr niedrigster jemals gemessener Wert.

Die Angst vor einem Zusammenbruch der Sozialdemokratie dominiert auch die Karrieristen der Jusos, die unter dem Banner „No-GroKo“ gegen die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen werben. Bereits auf dem letzten Parteitag rief der Bundesvorsitzende der Jungsozialisten, Kevin Kühnert, den Delegierten zu, dass „noch was übrig bleiben soll von diesem Laden, verdammt nochmal“, wenn er und die Seinen ihn in Zukunft übernehmen. Am Donnerstag unterstrich Kühnert im ZDF, dass die Jusos keine grundlegenden Differenzen mit dem politischen Kurs ihrer Partei haben. Man streite, lasse sich aber „in der Sache nicht auseinandertreiben“.

Die Sozialdemokraten – und ihre Unterstützer bei Linkspartei und Grünen – stehen vor einem Dilemma. Egal wie sich die Delegierten am Sonntag entscheiden, die Opposition in der Bevölkerung gegen die Hartz-IV und Kriegsparteien wird wachsen und sich nach links entwickeln. Bereits im Februar 2016 ergab eine Studie des Meinungsforschungsinstituts YouGov, dass in Deutschland 45 Prozent der Befragten eine positive Meinung zum Sozialismus haben und nur etwa jeder vierte eine positive Haltung zum Kapitalismus. Die Sozialistische Gleichheitspartei (SGP) fordert Neuwahlen, um unter Arbeitern und Jugendlichen für eine sozialistische Alternative zur Großen Koalition zu kämpfen.

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