Fulda: Polizei erschießt 19-Jährigen

In den frühen Morgenstunden des 13. April erschoss die Polizei in Fulda den 19-jährigen Matiullah Jabarkhil. Er hatte das Fenster einer noch geschlossenen Bäckerei mit Steinen beworfen.

Am Sonntag und am Montag demonstrierten mehrere hundert Personen vom Flüchtlingsheim in die Fuldaer Innenstadt. Sie trugen Blumen, Bilder des Getöteten, Afghanistan-Fahnen und selbstgemalte Plakate und skandierten „Wir wollen Gerechtigkeit“ und „Wir sind keine Terroristen“. Auf Plakaten stand „Gerechtigkeit für Matiullah!“ und „Ein Unschuldiger wurde getötet“.

Matiullah war vor drei Jahren als 16-Jähriger nach Deutschland gekommen. Drei Jahre später stand er ohne Ausbildung oder Arbeit da, mit der einzigen Perspektive, in Kürze abgeschoben zu werden. Zuletzt war er in der Flüchtlingsunterkunft gegenüber der Bäckerei untergebracht.

Kurz nach vier Uhr früh an diesem Freitagmorgen hatte er gesehen, dass in dem Ladenlokal das Licht anging. Er ging sofort hin, um nach Brot zu fragen. Eine Verkäuferin verschloss jedoch die Tür von innen. Darauf rastete der junge Mann aus und bewarf die Schaufensterscheibe mit Steinen. Ebenso geriet er mit dem Fahrer eines eintreffenden Lieferwagens aneinander.

Aus der Bäckerei wurde die Polizei gerufen, die mit zwei Einsatzwagen nach wenigen Minuten zur Stelle war. Der junge Mann rannte weg, die Polizei hinterher. Etwa 150 Meter weit von dem Laden entfernt wurde er gestellt. Ein Polizeibeamter gab zwölf Schüsse auf ihn ab; vier trafen ihn, zwei davon tödlich. Sie verletzten ihn im Bauch- und Brustbereich, worauf Matiullah Jabarkhil noch am Ort des Geschehens innerlich verblutete.

Nach Aussagen der Polizei hatte er zuvor mit Steinen auf die Polizisten geworfen oder mit einem Stock auf sie eingeprügelt, oder auch beides. Etwas später hieß es, er habe einem Polizisten den Schlagstock entwendet und damit zugeschlagen. Für diese Aggression gegen die Polizei gibt es indessen keine neutralen Augenzeugen, nur das „Indiz“ des Schlagstocks, der neben der Leiche lag.

Der Fall wirft eine Menge beunruhigender Fragen auf, die zum Teil durch Aussagen von Matiullahs Mitbewohnern untermauert werden.

Als erstes fällt ins Auge, dass ein Polizist zwölf Schüsse auf einen unbewaffneten Jugendlichen abgab. Dazu wird in den Medien fast gebetsmühlenhaft wiederholt, die Polizei sei mit einem unkontrollierbaren Aggressor konfrontiert gewesen und habe „reagieren“ müssen.

Wie die Mitbewohner Matiullahs berichten, litt der junge Mann an psychischen Störungen und hatte in letzter Zeit mehrmals Aggressionen entwickelt. Allerding habe man ihn durch ruhige Ansprache jedes Mal rasch beruhigen können.

Die Polizei dagegen verfolgte den Flüchtenden mit der Besatzung von zwei voll ausgerüsteten Einsatzwagen, und ein Beamter streckte ihn in kürzester Zeit mit tödlichen Schüssen nieder.

Wie man auf den Bildern in den Medien sieht, hatte der junge Mann mit seinen Steinwürfen vor allem die Schaufensterscheibe eingeschlagen, hinter der sich ein Berg frischer Brötchen türmte. Die Frage drängt sich auf: Könnte es sein, dass er einfach hungrig war? Immerhin hatten mehrere junge Geflüchtete von Angestellten der Bäckerei schon öfters Brot vom Vortag umsonst erhalten.

Matiullah stand offenbar kurz vor seiner Abschiebung nach Afghanistan und erhielt praktisch kein Bargeld mehr. Steht das „Ausrasten“ Matiullahs nicht in nachvollziehbarer Weise im Zusammenhang mit seiner ungeklärten Lebenslage und psychischen Ausnahmesituation?

„Er kam als gesunder Junge nach Deutschland“, sagte der Sprecher des Fuldaer Flüchtlingsrats, Abdulkerim Demir, gegenüber der Zeitung Die Welt.

Wie Demir in einem persönlichen Statement berichtet, habe die afghanische Community ihn am Freitag kurz nach den Schüssen um Hilfe gebeten. Er habe sofort versucht, „von der Polizei in Fulda möglichst umfassende Informationen zu erhalten, über die Umstände und den Hergang der Tat. Diese verwiesen auf die laufenden Ermittlungen und konnten keine detaillierten Informationen herausgeben, die ich an die afghanische Community hätte weitergeben können, damit sie sich ein bisschen beruhigten.“

Im Gespräch mit der World Socialist Web Site sagte Demir, das LKA habe alle Ermittlungen an sich gezogen. „Wir hoffen sehr, dass die Verantwortlichen richtig ermitteln und die Sache nicht in der Dunkelheit versinken lassen. Warum wurde der Junge erschossen? Warum war es nicht möglich, ihn am Leben zu lassen?“, fragte er.

Das hessische Landeskriminalamt (LKA) ist zurzeit als nicht betroffene Behörde damit beauftragt, den Tathergang zu untersuchen. Allerdings ist das LKA keine neutrale Behörde, sondern Teil des Staatsapparats, und dieser wird zurzeit massiv aufgerüstet. Das hessische LKA hat vor gut einem Jahr eine Großrazzia in Hessen durchgeführt, um Muslime einzuschüchtern.

Interessant ist in dem Zusammenhang die Aussage des LKA-Sprechers Christoph Schulte. Laut der Welt erklärt er die Tatsache, dass zwölf Schüsse auf Matiullah abgegeben wurden, so: „Es sei für eingesetzte Beamte in solch einem Fall nicht immer möglich, nur Arme oder Beine zu treffen: ‚Denn der Angreifer bewegt sich ja auch.‘ Die Beamten stünden unter enormem Stress in einer ‚hochdynamischen Situation‘. Generell gelte: Die Beamten lernten zu schießen, bis die Gefahr gebannt sei.“

Das ist eine alarmierende Erklärung. Der Sprecher der ermittelnden Behörde nimmt offenbar die beschuldigten Polizeischützen im Voraus in Schutz. Und er vermittelt den Eindruck, dass bei der hessischen Polizei zunehmend eine Praxis wie in den Vereinigten Staaten als normal gilt, wo Polizisten oft beim kleinsten Anlass tödliche Schüsse abgeben.

Die Zunahme tödlicher Polizeigewalt ist eine Reaktion auf die rapide Verschärfung der Klassengegensätze. Die Schere zwischen Arm und Reich klafft immer weiter auseinander. In Deutschland besitzen heute 47 Personen so viel wie die untere Hälfte der Bevölkerung. Diese Polarisierung ist nicht mit Demokratie vereinbar, und deshalb wird der Staatsapparat systematisch gegen Geflüchtete, Einwanderer und die ganze Arbeiterklasse in Stellung gebracht.

Das Programm der Großen Koalition in Berlin lässt daran keinen Zweifel. Sie hat nicht nur Massendeportationen angekündigt, sondern betreibt auch einen beschleunigten Ausbau des Polizeistaats. Der Innen- und Heimatminister Horst Seehofer will nach eigener Angabe „die Zahl der Rückführungen deutlich erhöhen“ und geflüchtete Menschen in Internierungslagern, den so genannten „Anker-Lagern“, einsperren und kasernieren. Er will außerdem 7500 neue Bundespolizisten einstellen und eine „Null-Toleranz“-Politik wie in amerikanischen Großstädten durchsetzen.

So ist es nur logisch, wenn osthessische Politiker jetzt gegen all diejenigen schäumen, die eine volle Aufklärung der Polizeischüsse fordern und dafür auf die Straße gehen. Dies sei „schier unfassbar“, so der Fuldaer CDU-Landrat Bernd Woide. „Und es zeigt leider auch, dass viele nicht verstehen, welche Regeln und Gesetze bei uns greifen.“

Und der Chefredakteur von Osthessen/News schreibt: „Rufe von der Straße nach Bestrafung sind mit unserem Grundverständnis nicht vereinbar. Das Gewaltmonopol liegt beim Staat. Wer auf Polizisten mit einem Schlagstock einschlägt oder sie mit Steinen bewirft, der muss bestraft werden – mit aller Härte des Gesetzes.“

Loading