Aufwachsen in Armut

Die Kinder seien die Zukunft der Gesellschaft – diese Binsenwahrheit wird oft betont. Doch die Gesellschaft in Deutschland, einem der weltweit reichsten Länder, geht mit ihrer Zukunft wahrhaft stiefmütterlich um. Das bestätigt die jüngste Studie „Aufwachsen in Armutslagen“.

Die Studie wurde im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) durchgeführt. Sie ist ein Zwischenbericht zum Forschungsprojekt „Lebensumstände von Kindern im unteren Einkommensbereich“. Wie sie nachweist, sind Kinder und Jugendliche mit „dauerhaften oder temporären Armutserfahrungen“ deutlich benachteiligt und vom sozialen und kulturellen Leben ihrer Altersgenossen abgeschnitten. In beruflicher und sozialer Hinsicht wirkt sich ihre materiell benachteiligte Position auf ihr ganzes Leben aus.

Die Studie kommt zum Ergebnis, dass nur 68,9 Prozent aller Kinder in Deutschland in einer „dauerhaft abgesicherten Einkommenslage“ leben. 31,1 Prozent der Kinder werden einem von vier Armutsmustern zugeordnet. 21,1 Prozent der Kinder werden in die Kategorien „dauerhafter Leistungsbezug“ der Familie, „dauerhaft nicht gesichert“ oder „prekäre Einkommenslage“ eingeordnet. Weitere 9,9 Prozent der Kinder werden als „temporär nicht gesichert“ eingestuft, weil sie vorübergehende Armutserfahrungen machen – die natürlich auch nicht spurlos vorübergehen.

Nichts hat sich seit der letzten IAB-Studie über Kinderarmut in Deutschland vom Oktober 2017 zum Besseren verändert. Neu ist lediglich, dass das IAB die „Berufstätigkeit der Mütter“ als „zentralen Einflussfaktor“ ins Blickfeld rückt. Ein Hauptgrund für die Kinderarmut ist demnach eine Situation, in der die Mutter nicht erwerbstätig ist.

Die Autoren der Studie (Silke Tophoven, Torsten Lietzmann, Sabrina Reiter und Claudia Wenzig) unterscheiden zwischen Familien, denen ein Paar vorsteht, und Familien Alleinerziehender, meist Frauen, wobei die zweite Gruppe besonders oft von Armut bedroht und vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen ist.

In Paarfamilien, in denen beide Eltern eine feste Arbeit haben, machen nur unter 2 Prozent der Kinder dauerhafte oder wiederkehrende Armutserfahrungen. Das Bild ändert sich deutlich, wenn die Mütter über einen längeren Zeitraum nicht erwerbstätig sind: Nur noch 38 Prozent der Kinder gelten dann als finanziell abgesichert, 32 Prozent erleben dauerhafte oder wiederkehrende und 30 Prozent kurzzeitige Armutslagen.

Bei Familien mit nur einem alleinerziehenden Elternteil ist die Armutsgefahr noch größer, und die Frage, ob der oder die Erziehende arbeiten geht, erhält noch mehr Gewicht. In den meisten Fällen verhindert eine Erwerbstätigkeit der Alleinerziehenden die dauerhafte Armut der Kinder, so die Studie. Deutlich wird jedoch auch, dass allein erziehende, arbeitende Mütter sehr oft zu wenig verdienen. So heißt es in der Studie, dass auch bei berufstätigen Müttern „noch ein Sechstel der Kinder zumindest zeitweise Armutserfahrungen“ mache.

Bei andauernder Teilzeitbeschäftigung oder einem Minijob der Mutter lebt ein Fünftel der Kinder dauerhaft oder wiederkehrend in Armut, 40 Prozent zeitweise. Wenn die alleinerziehende Mutter gar nicht arbeitet, sind praktisch alle, nämlich 96 Prozent der Kinder arm.

Die Studienergebnisse zeigen in der Quintessenz, dass Arbeiterfamilien heute zwei „normale“ Einkommen und ausreichend Kita- und Krippenplätze benötigen, wenn sie halbwegs über die Runden kommen wollen. Diese Bedingungen sind aber immer schwieriger zu erfüllen.

Die Autoren gehen nicht weiter auf die extreme soziale Polarisierung und Verarmung der Arbeiterklasse der letzten Jahre ein. Sie machen jedoch deutlich, dass das Armutsrisiko für Kinder am geringsten ist, wenn beide Partner arbeiten und sich dabei gut abstimmen können. Es steigt, wenn nur einer Arbeit hat, und ist am höchsten, wenn beide Partner arbeitslos sind.

Es liegt auf der Hand, dass die Studie das Augenmerk nicht auf tiefer gehende gesellschaftliche Fragen richtet: Was ist zum Beispiel mit der Lohnstruktur passiert, bei der heute vierzig Prozent der abhängig Beschäftigten weniger als vor zwanzig Jahren verdienen?

Oder was ist aus dem Versprechen der damaligen Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU) vor über zehn Jahren geworden, Hort- und Kindergartenplätze so auszubauen, dass eine gesellschaftliche Ganztagsbetreuung gewährleistet wäre? Nach einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft von Anfang 2018 fehlen bundesweit alleine für Kinder unter drei Jahren 300.000 Betreuungsplätze. Eltern von Kleinkindern und Kindern unter drei Jahren sind diesbezüglich gerade in größeren Städten oft in einer fast aussichtslosen Lage.

Im Februar 2017 veröffentlichte das Familienministerium erstmals Daten zum Betreuungsbedarf von Kindern zwischen 3 und 11 Jahren: Bei etwa der Hälfte der Eltern von Drei-bis Fünfjährigen unterschritt die tatsächliche Versorgung die benötigte Betreuungszeit um fünf Stunden die Woche. Grundschulkinder bis 11 Jahre hatten einen Betreuungsbedarf von zusätzlichen 22 Prozent. Aber auch bei Hortkindern gab es einen zusätzlichen Betreuungsbedarf von 14 Prozent oder durchschnittlich 10 Wochenstunden. Bei Ganztagsschülern nennen über 22 Prozent der Eltern einen zusätzlichen Bedarf von durchschnittlich 9 Stunden pro Woche.

Bezeichnenderweise sitzt Von der Leyen heute dem Verteidigungsministerium vor, wo sie weit über 70 Milliarden Euro aus Steuergeldern für die Rüstung einplant. Gleichzeitig suchen Eltern aus der Arbeiterklasse verzweifelt nach bezahlbaren Hort- und Kita-Plätzen, und die Kita-ErzieherInnen geraten immer stärker unter Druck.

Vor drei Jahren streikten mehr als vierzigtausend Beschäftigte im Sozial- und Kinderbetreuungsdienst vier Wochen lang für bessere Arbeitsbedingungen und Bezahlung. Der Kita-Streik warf ein grelles Licht auf die prekäre Lage in den Kindergärten: Überall fehlt es an qualifizierten Pädagogen und Betreuungspersonal. Noch stärker als unter dem knappen Lohn leiden die Erzieherinnen unter dem Stress. In den überfüllten Einrichtungen sind die Betreuerteams chronisch unterbesetzt und die Gruppen zu groß.

Bei den Eltern fand der Kita-Streik breite Unterstützung, doch er wurde letztendlich von den Gewerkschaftsspitzen von Verdi, GEW und dem Beamtenbund dbb abgewürgt. Aber der Unmut über die schlechte Versorgung mit Kita-Plätzen schwelt weiter, und immer wieder brechen Proteste aus. Das zeigte vor kurzem die Demonstration von über 3000 Eltern in Berlin, die ihre wachsende Wut gegen die Beschlüsse des Senats aus Sozialdemokraten, Grünen und Linkspartei zum Ausdruck brachten.

Die Arbeiterlöhne, von denen man einst halbwegs vernünftig leben konnte, sind der kapitalistischen Krise zum Opfer gefallen, und gleichzeitig hat die herrschende Klasse das Recht auf Ganztagesbetreuung zugunsten von Sparmaßnahmen und Ausgaben für das Militär in Milliardenhöhe einkassiert.

In dem Zusammenhang muss die neue Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) und der Bertelsmann-Stiftung als Warnung an die Regierung verstanden werden. Sie ist eine Reaktion auf die um sich greifende Unzufriedenheit, die das Potential zu explosiven Ausbrüchen hat.

Das IAB ist eine Forschungseinrichtung der Bundesagentur für Arbeit. Laut Paragraf 282 des Sozialgesetzbuches III berät das Institut sowohl die Bundesagentur für Arbeit als auch Regierungsstellen wie das Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Es warnt die Regierung und die Kapitalisten frühzeitig vor sozialen Verwerfungen und entwickelt Strategien, um Konflikte zu entschärfen.

Für das IAB sind „Drittmittel“, wie die Gelder der Bertelsmann-Stiftung, „von strategischer Bedeutung“, wie das Institut auf seiner Internetseite schreibt. Sie „erweitern die Möglichkeiten, die gesetzlichen Aufträge des Instituts umzusetzen und das Institut noch stärker mit der Fachöffentlichkeit und anderen wissenschaftlichen Einrichtungen zu vernetzen.“ Auch die Bertelsmann-Stiftung ist aufs Engste mit der Merkel-Regierung verbunden.

Im Vorwort der Studie mit dem Untertitel „Zentrale Einflussfaktoren und Folgen für die soziale Teilhabe“ warnen die Autoren die „Fachöffentlichkeit“ vor den Folgen, die die Armut „jedes vierten Kindes in Deutschland“ mit sich bringt: „Dies birgt die Gefahr, dass sie sich aufgrund ihrer Perspektivlosigkeit von der Gesellschaft abkoppeln – mit weitreichenden Folgen (…) je niedriger der sozioökonomische Hintergrund, desto geringer die Wahlbeteiligung. Gerade in Zeiten einer zunehmenden Polarisierung der Gesellschaft sollte dies ein Warnsignal sein.“

Schon Anfang des Jahres, als der Präsident des Deutschen Kinderhilfswerks, Thomas Krüger, den „Kinderreport 2018“ vorstellte, geriet die zunehmend prekäre Lage von Kindern und Jugendlichen ins mediale Blickfeld. Umfragen des gemeinnützigen Vereins unter 1000 Erwachsenen und über 600 Minderjährigen hatten ergeben, dass die Mehrheit der Befragten die politischen Maßnahmen gegen Kinderarmut als nicht ausreichend einstuften und als Ursachen unzweideutig die niedrigen Löhne benannten.

Das Kinderhilfswerk forderte eine politische Gesamtstrategie, da Einzelmaßnahmen wie eine Erhöhung des Kindergelds, ein Kindergeldzuschlag oder ein „Teilnahmegeld“ nicht mehr ausreichen würden, wie Krüger erklärte.

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